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Judasfall eines Drachen

Teil 13/4.1 Schicksalsgeschichten
von

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Chapter 1 - 5

Okay, ich geb’s zu … es ist mal wieder nicht wie angekündigt endlich der letzte Teil. Ich selbst war ja willig, aber die süßen Menschen hinter den Emailadressen haben mich ihre liebevolle Ungeduld spüren lassen, sodass ich die „Schuld“ über den abermaligen Wortbruch somit gern weiterreichen möchte. Nämlich vor allem an die Damen aus dem Drachenzirkel, die mich mit Anfeuerungs- und Bestärkungsmails am Leben gehalten haben. Gelebt habe ich das letzte Jahr fast ausschließlich im und fürs Büro – ich weiß kaum noch, wofür ich überhaupt Miete bezahle, wenn ein Bett im Büro eigentlich sinnvoller wäre und ich dabei nicht so viel Gehalt bekomme wie ich verdiene. Aber dafür habe ich fast den gesamten Februar frei, um meinen „alten“ Urlaub AM STÜCK abzubauen … das kann ja nicht gut sein, wenn man nachts nur noch von Kollegen, Chefs und Firmengebäuden träumt. @_@ Den Urlaub habe ich wohl auch nur wegen meines Gejammers so am Stück bekommen. Schwafel schwafel schwafel, was wollte ich noch gleich sagen? Ach ja, die Damen des Drachenzirkels. Ihnen ist es zum Großteil zu verdanken, dass ich nochmals eine kleine Grauzone habe. Deshalb bekommt ihr hier quasi den Letzten Teil Teil Eins. Also 13-4.1 (der letzte wird dann 13-4.2 – das ist die Fan-Idee des Jahrhunderts – tausend Gnuutsis dafür! ^^). Deshalb wundert euch bitte nicht, wenn auf den nächsten 681 Seiten Themen aufgeworfen und nicht abschließend geklärt werden – ich verspreche, dass das alles am Ende einen Sinn ergibt … na ja … mehr oder weniger … ihr seid eben wie gewohnt zum Mitdenken aufgefordert. T_T
 

Bevor ihr nun zu lesen anfangt, möchte ich euch sagen, dass ihr hier die Animexx-Version erwischt habt und nach den neuen Regeln sind Autorenkommentare verboten. Deshalb darf ich euch leder weder auf **Tripples** noch auch **Prophezeiungen** noch auch **besonders sinnfreie Textstellen** hinweisen. Wenn ihr das Original mit meinem Gesülze haben möchtet, klickt euch auf www.yaoi.de ein und ladet dort das txt runter. Wahlweise schreibt mir eine Mail an masamume@web.de und ich schicke euch das Original mit den schönen Sternchen. XD Ihr würdet mir damit sogar eine Freude machen. ^^
 

Vorsicht Spoiler Anfang

Weiterhin möchte ich euch zwei neue Charas vorstellen, die mir schon jetzt ans Herz gewachsen sind (die haben sich so zwischen Herz, Lunge, Milz und Leber gedrängelt) und ich hoffe, ihr liebt sie genauso. Nämlich Mokubas wahren Doppelgänger - den „lieben“ Tjergen (ich habe mir ein Fitnessstudio **Tripple** angesehen und der sexy Trainer hieß Tjorge oder so ähnlich. Der hatte zwar mit „meinem“ Tjergen null Ähnlichkeit, aber irgendwie hatten meine Musen mal wieder gekifft … angemeldet habe ich mich dann aber nicht, weil der Kerl zu viel Geld verlangt hat – insofern hat er mit Tjergen doch was gemeinsam).

Und wie aus dem Nichts kommt ein noch namenloser kleiner Falke geflattert, dessen „Identität“ ihr dann im nächsten Teil enthüllt bekommt (raten ist wie immer erlaubt und herzlich willkommen – mal sehen, ob ihr auf seine Bedeutung kommt).
 

Auf Leserwünsche bin ich natürlich wie immer auch eingegangen. Wenn ich es so genau bedenke, seid eigentlich ihr alle schuld, dass ich auf dem Weg zum Ende immer wieder auf Abwege geführt werde. Alles eure Schuld! ^^’ Ich habe mich mal etwas um Sethan gekümmert und noch ein Rätsel mehr aufgegeben, welches sich am Ende (von 13-4.2) aber auch von selbst erklärt (im Kern seine verschrobene Bitte: „Ich liebe dich und doch bitte ich dich: Liebe mich nicht“). Und die Sache mit Marik … es tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen. XD Und Tato geht’s auch besser. Ich wollte ihn zwar noch etwas leiden lassen, aber weil sich so viele einen Neuanfang für ihn gewünscht haben, bin ich doch eingeknickt. *knacks* Und ein bisschen Lemmon für meine Kommischweinchen gibt’s natürlich auch. Besonders Moki/Noah war nachgefragt und ich hoffe, die betreffenden Seiten können euch befriedigen oder wenigstens süchtig machen. Eben öfter mal auf zu neuen Ufern. XD

Entwarnung Spoiler Ende
 

So, nun ist aber genug gespoilert, entschuldigt und geschwafelt. Ich hoffe, ihr erinnert euch noch an den Inhalt und bleibt noch etwas bei der Stange. Es geht zu Ende. Ich verspreche es. Ich schreibe auf das Ende zu solange meine Finger tippen können. Wobei ich hoffe, dass sie es nach dem hoffentlich letzten Teil auch noch können. ^^’
 

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Judasfall eines Drachen

Teil 4.1: Schicksalsgeschichten
 

Chapter 1
 

Der Hochsommer hatte die Stadt in seinem brennenden Griff und so war man froh über jedes Stückchen Schatten. Wenn man denn eines fand. Im Haus war es kaum auszuhalten, jedenfalls solang man keine Nordseite bewohnte oder eine Klimaanlage besaß. Und draußen scharten sich die Menschen in den Eiscafes, den Schwimmbädern oder im Park. Jeder schattige Platz erfreute sich größter Beliebtheit. Und so auch die Terrasse vor der Herberge und der Garten auf der Rückseite. Neben den normalen Gästen hatten sich die Dauerbewohner auch dort ihre Liegestühle und Sonnenschirme gesichert. Die Kinder spielten natürlich lieber auf dem Spielplatz an der Rückseite, doch dafür war es vor dem Haus aufgrund der Nordseite Sonneneinfalls kühler. Eine wahrlich schwere Entscheidung, wo man sich denn nun hinsetzen sollte - vorausgesetzt man war kein Spielplatzfan.

„Mann ey“ moserte Mokuba, der herauskam und sich zu Tristan und Marie auf die kühlere Terrasse setzte. Oder besser plumpste, denn er ließ sich mit langem Gesicht auf seinen Stuhl fallen, bevor er nach den Zigaretten langte.

„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“ guckte Marie ihn an.

„Nichts“ murrte er und zündete die Kippe an. Manchmal konnte er trotz aller Unterschiede genauso mürrisch aussehen wie Seto.

„Unsinn, man sieht doch, dass dir irgendwas nicht passt.“

„Tut es auch nicht!“ schimpfte er und knallte das Feuerzeug auf den Tisch. „Ich habe uns extra einen Swimmingpool gekauft und jetzt plantschen da die Nachbarskinder drin. Von wegen in Ruhe abkühlen und chillen. Nix da! Ich will zurück nach Domino in meine Villa ohne Nachbarn, in meinen Pool ohne Nichtschwimmer. Jetzt weiß ich auch, warum Seto damals eine Villa mitten ins Niemandsland gesetzt hat.“

„So ist das eben“ meinte Tristan und schaute über seine Sonnenbrille hinweg. „Dein Sohn badet da doch sicherlich auch drin.“

„Das ist ja auch meiner. Aber da sind mindestens fünf oder sechs Kinder, die ich gar nicht kenne. Und wenn ich die rausschmeiße, bin ich gleich als Kinderhasser verschrien. Davon abgesehen, springen die so oft wieder rein, dass das Wasser schon voller Gras ist.“

„Freu dich doch, dass Dante so gut Anschluss bei anderen Kindern findet.“

„Kann er ja auch gern. Aber nicht in MEINEM Pool.“

„Hat den nicht Noah bezahlt?“

„ICH habe ihn gekauft.“

„Aber nicht bezahlt.“

Nein, das hatte er nicht. Darauf konnte Mokuba nicht viel entgegnen. Außer: „Ich hoffe, die Mücken stechen dich tot, Taylor.“

„Die stechen lieber Nika. Sie hat süßeres Blut“ schmunzelte Tristan und widmete sich lieber seinem kühlen Bierchen. Dass der neue Pool bald in Kinderhand landen würde, war doch eigentlich klar. Es war so heiß und ihre Kinder freundeten sich schnell mit anderen an. Okay, Feli aufgrund ihrer Schüchternheit nicht so sehr, aber Nini nahm sie einfach an die Hand und integrierte sie. Und wenn bei diesem heißen Wetter auch noch eine Plantschgelegenheit geboten wurde, trudelten eben auch schnell die Nachbarskinder ein. Letztlich war die Wiese noch immer Teil der Gaststätte und mit Sandkiste und Schaukel schon immer von Kindern besetzt. Die interessierte es auch wenig, ob der Cousin vom Pharao da seinen mobilen Pool für sich allein haben wollte.

„Wo sind die anderen?“ wollte Mokuba wissen. Hier saßen nur Marie und Tristan und auf der anderen Seite saßen auch nur Nika und Tea, welche auf die Kinder aufpassten. Da fehlte ein Großteil an Leuten.

„Joey und Noah sind im Büro. Und Narla ist dort auch hin, um Papa Joey zu besuchen“ überlegte Marie und streichelte ihren dicken Bauch, auf dem sich schon kleine, lebendige Beulen bewegten. „Mokeph ist spazieren, Sari und Tato sind mit den Zwillingen ins Aquarium gefahren und Dakar ist … weiß ich gar nicht, wo der ist. Ich habe ihn nur weggehen sehen, bevor ich mich hergesetzt habe.“

„Um den würde ich mir keine Sorgen machen“ meinte Tristan. Der große Dakar konnte gut auf sich aufpassen und wenn er verschwand, musste das nichts heißen.

„Komisch finde ich es, dass Mokeph spazieren geht. Das macht er nie“ grübelte Mokuba. „Hat er was gesagt?“

„Er hat gesagt, er geht mal ne Weile in die Stadt“ erklärte sie genauer. „Ich habe ihn aber auch nicht gesehen. Narla hat das erzählt.“

„Und wo sind Yami und Yugi?“

„Die schlafen noch“ meinte Tristan. „Hast du was davon gehört, dass Seth gestern hier war?“

„Tato hat mich geweckt“ erzählte Mokuba und zog den Aschenbecher heran. „Er war wohl da und hat Yami gebissen.“

„Bitte was?“ Da machte Marie aber große Augen. „Gebissen?“

„Ganz anscheinend. Aber als ich kam, war er schon weg und ich konnte die Wunde nur noch heilen. Yami wurde von Tato schlafen gelegt und weiter erzählt hat Yugi mir auch nichts. Er meinte nur, dass wir uns erst mal keine Sorgen machen sollen.“

„Ich habe mich heute Morgen mit Tato unterhalten“ erzählte Tristan. „Er sagte, Yami hätte Seth verstoßen. Sie sind wohl irgendwie zusammengerasselt und … ich weiß auch nicht, was genau passiert ist. Nur eben, dass Seth jetzt offiziell kein Priester mehr ist.“

„Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob das so einfach geht“ fragte Marie nachdenklich. „Ich meine, kann Yami ihn einfach so von seiner Pflicht entbinden? Ich dachte, dass man so einen Priesterschwur auf Lebenszeit leistet.“

„Ich glaube nach ägyptischem Gesetzt müsste er Seth sogar töten“ fügte Mokuba zusätzlich an. „Aber so etwas tut er nicht. Ich denke mal, dass Seth sich schon einen ganz schönen Klopfer geleistet hat, dass Yami so reagiert. Oder irgendetwas, was das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Yami hat ne Engelsgeduld mit den Leuten, aber er lässt eben nicht alles mit sich machen. Und wer das glaubt, ist ein Idiot. Das sollte Seth am besten wissen.“

„Und selbst wenn, wer sollte Seth schon töten können? Sethos ist noch immer nicht über den Berg und außer ihm hat doch niemand die Macht dazu.“

„Wir wissen aber nicht, was mit Seto wird“ bedachte ihr Bruder. „Wenn er das mit der Wassermagie wirklich schafft, wäre er Seth bestimmt überlegen.“

„Überlegen ja, aber ob er seinen Yami töten könnte?“ fragte Mokuba sich leise und beobachtete die Glut seiner Zigarette. „Ich könnte Mokeph nicht töten. Selbst wenn er sich Seth anschließen würde und … egal was wäre, ich könnte meinem Yami nichts tun. Ich möchte nicht in Setos Haut stecken.“

„Ich finde die ganze Sache ganz furchtbar“ sprach sie und senkte den Blick. „Ich kann einfach nicht verstehen, warum Seth so ist. Wie er so werden konnte. Er ist doch immer ein barmherziger und vernünftiger Mensch gewesen. Bodenständig und mitfühlend. Ich kann mir nicht erklären wie er sich so verändern konnte. Ich hoffe immer noch, dass das alles nur ein Fluch ist und irgendwann alles einfach vorbeigeht.“

„Glaubst du denn daran, dass er noch mal zu uns zurückkehrt?“ fragte Mokuba ganz vorsichtig.

„Ob ich daran glaube oder nicht ist unwichtig. Nur was Yami tut, das ist entscheidend.“

„Na ja“ ergänzte er und wählte seine Worte mit Bedacht. „Immerhin bist du aber schwanger von ihm und nicht Yami. Und Yami ist auch nicht mit ihm verheiratet.“

„Ich habe Seth niemals etwas zu sagen gehabt“ antwortete sie mit trockener Stimme und niedergeschlagenen Augen. „Von Anfang an habe ich gewusst, dass ich niemals an erster Stelle stehen werde. Dass ich immer hinter Yami zurückstehen werde. Ich weiß, dass Seth mich aus Liebe geheiratet hat, aber er hat schon viele Frauen aus Liebe geheiratet.“

„Aber du bist die einzige Frau, die er seit Ägypten geheiratet hat. Und das bestimmt nicht, weil er auf Monogamie abfährt.“

„Trotzdem steht eine Ehefrau immer weit nach dem Pharao. Ich habe das akzeptiert, also kann ich mich jetzt auch nicht darüber beschweren.“

„Trotzdem kannst du doch aber hoffen, oder?“

„Ich glaube, hoffen tun wir alle“ rettete Tristan seiner Schwester vor einer weiteren, schmerzenden Antwort. Natürlich war Marie am Boden zerstört, aber sie musste stark sein für die Kinder, welche sie erwartete. Sie konnte sich jetzt keinen Durchhänger leisten, sonst schadete das auch den Zwillingen. Auch wenn das Starksein in dieser Situation alles andere als leicht fiel. Und er als ihr Bruder musste für sie da sein. „Mir fehlt Seth auch. Ganz gewaltig sogar. Er ist mein bester Freund, aber er hat sich von uns noch niemals etwas sagen lassen. Wenn ich losgehen und diesen Mist aus seinem Hirn rausprügeln könnte oder wenn er für irgendwelche Argumente empfänglich wäre, dann würde ich nicht aufhören auf ihn einzureden. Aber wir verfügen weder über magische Kräfte noch über Autorität. Wir können rein gar nichts tun. Ich würde fast alles für ihn tun, aber nichts wäre genug. Und deshalb bleibt uns nur zu hoffen, dass er zur Vernunft kommt oder Yami einen Weg findet, dem Ganzen ein Ende zu bereiten.“

„Selbst wenn Sethi sich besinnt und wieder normal wird“ sprach Marie leise. „Er würde sich das, was er getan hat, niemals verzeihen. Er würde daran kaputt gehen. Es ist zu viel passiert als dass er jetzt einfach umdrehen könnte.“

„Daran habe ich noch gar nicht gedacht“ stellte Mokuba selbst traurig fest. Selbst wenn Seth eine plötzliche Eingebung bekäme, würde er sich die begangenen Morde niemals verzeihen. Auch wie er seine Familie behandelte und wie respektlos er zu Yami war, das alles würde er niemals verwinden. Marie hatte Recht, er konnte jetzt nicht einfach so zurückkehren. Dafür war es zu spät. Ob es auch das war, was Yami gesehen hatte als er ihn aus seinem Priesterstand entließ?

„Aber das ist kein Grund“ tröstete Tristan sich selbst und die beiden anderen. „Auch wenn das was wir tun können nicht viel ist, so müssen wir es trotzdem tun.“

„Und das wäre?“ wollte Mokuba wissen und drückte seine halbe Kippe aus, die ihm jetzt auch nicht mehr schmeckte. „Ich kann ja auch nicht viel mehr tun als die Leute wieder zusammenzuflicken. Im Geschehen spiele ich doch auch keine Rolle.“

„Du bist ja wenigstens noch ein Heiler und ohne dich wären einige von uns nicht mehr hier. Aber wir anderen, ich, Mie, Nika, Tea - wir können kein Schicksal bewegen. Deshalb müssen wir für einander da sein“ sprach er ernst. „Wir müssen für Seths Söhne da sein und für ihre Mutter. Auch für Narla und Mokeph müssen wir da sein. Das sind die Leute, die am meisten mit ihm leiden. Und die, welche am tapfersten sind.“

„Das hast du schön gesagt“ seufzte Marie und nahm die Hand, welche ihr Bruder ihr reichte, um sie zu bestärken.

„Und was ist mit Seto?“ bemerkte Mokuba. „Vielleicht könnt ihr es nicht nachvollziehen, aber als Hikari empfindet man das noch intensiver. Man teilt sich ein Stück Seele und was Seth tut, das ist für Seto als würde er es selbst tun. Für ihn sollten wir auch da sein.“

„Ich wollte auch niemanden ausschließen. Aber Seto würde sich von uns nicht helfen lassen“ sprach er weiter und man merkte, dass er sich schon sehr viele Gedanken gemacht haben musste. „Das was Seto und Yami denken, das können wir nicht nachvollziehen. Natürlich helfen wir uns alle gegenseitig, alle zusammen. Seto ist mir auch sehr wichtig. Aber was er empfindet, das kann ein Hikari wie du oder ein Pharao wie Yugi viel eher nachempfinden. Ich könnte Seto keinen hilfreichen Rat geben. Ich kann einfach nur sein Freund sein. Also tue ich das, was ich tun kann. Auch wenn es nur wenig ist.“

„Was ihr tut, ist schon mehr als man verlangen kann.“ Yugi kam in diesem Moment aus der Tür und hatte die letzten Sätze gehört. Er legte Tristan die Hand auf die Schulter und blickte erst ihn, dann Marie sanft an. „Das was ihr mit uns mitmacht, würde kaum jemand aushalten. Dass ihr überhaupt noch mit uns befreundet seid, ist ein Wunder.“

„Unsinn“ winkte er beschämt ab.

„Nein, ehrlich. Habt ihr euch das mal überlegt?“ Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich zwischen Tristan und Mokuba. „Für Tristan und Nika wäre es doch eigentlich das Leichteste, wenn sie mit Feli einfach getrennt von uns leben würden. Marie hat schon vor ihrer Schwangerschaft mehr als genug mitgemacht und für alle anderen gilt das auch. Diese ewigen Kämpfe und jetzt dieser Horrortrip, das hätte jede Freundschaft zerstört. Wenn ihr nicht mit uns befreundet wäret, würde euer Leben viel einfacher sein.“

„Ach, so darfst du das nicht sehen. Das ist doch alles ein Nehmen und Geben“ widersprach er und lächelte ihn an. „Mal ehrlich, ich hätte niemals gedacht, dass ich mal in einer Villa wohne und mit Millionären befreundet bin. Außerdem hänge ich mit den heimlichen Herrschern der Erde ab und kenne ein paar Götter persönlich. Unterm Strich lohnt sich der Stress.“

„Aber wenn du mal ehrlich bist“ brachte Yugi behutsam an, „hast du nicht schon mal daran gedacht wie ruhig dein Leben sein könnte, wenn wir uns nie getroffen hätten? Seto und ich, wir konnten uns das nicht aussuchen. Aber ihr habt eine Wahl.“

„Ich kann mir mein Leben gar nicht anders vorstellen. Ohne Seth hätte ich Nika nie kennen gelernt und ob ich überhaupt studiert hätte, weiß ich auch nicht. Hätte ich dich nicht kennen gelernt, säße ich wahrscheinlich neben Joey in einer Gefängniszelle. Ich würde so ziemlich alles vermissen. Außerdem kann ich behaupten, die besten Freunde der Welt zu haben. Wer kann das schon?“

„Du kannst ja richtig schnulzig sein, Trissi“ lachte Marie. So kannte sie ihren kleinen Bruder gar nicht.

„Das muss an der Hitze liegen“ schmunzelte auch Mokuba.

„Gut, dass für morgen Regen angesagt ist. Und so was will ich von Yugi auch nie wieder hören“ beschloss Tristan und nippte an seinem Bier. „Was ist denn überhaupt mit Yami?“

„Wie was ist mit ihm?“ horchte Yugi auf.

„Na ja, es ist halb vier am Nachmittag und er liegt noch immer in den Federn.“

„Nein, tut er nicht“ widersprach er und blickte verwirrt in die Runde. „Er ist heute Morgen aufgestanden. So gegen halb acht. Nur ich habe mich dann erst schlafen gelegt und verpennt. Ich war ja die ganze Nacht wach bis ich wusste, dass er okay ist.“

„Noah und ich haben Nini und Tato heute mit in den Kindergarten genommen. Das war gegen acht Uhr. Ich wusste ja, dass du bei Yami bist“ erklärte Mokuba. „Aber da ist Yami uns nicht über den Weg gelaufen. Ich dachte, er schläft noch.“

„Aber Nini riecht ihn doch schon auf mehrere Meter“ wandte Marie ein. „Wenn er wach gewesen wäre, wäre sie ihm begegnet. Und das hätte sie erzählt.“

„Jetzt erzählt mir nicht, dass Yami weg ist“ bat Yugi und stand entschlossen auf.

„Hinten im Garten brauchst du nicht suchen. Da war ich eben“ hielt Mokuba ihn auf und erhob sich ebenfalls. „Aber wenn er oben nicht ist und hier auch nicht …“

„Ja, wo ist er dann?“ formulierte Marie die Frage zu Ende. „Wir dachten alle, ihr schlaft beide noch oben.“

„Wenn er weggegangen ist, können wir doch sein Handy orten“ war Tristans Idee. Wenn Yami denn überhaupt sein eigenes mithatte und es nicht wieder mit dem von jemand anderem verwechselt hatte.

„Yami benutzt keine Handys mehr. Er hat beschlossen, dass er ab jetzt ohne Handy lebt“ wusste Yugi und fuhr sich über die Stirn. „Okay, ganz ruhig jetzt. Wenn Seth noch mal wiedergekommen wäre, dann hätte das jemand gemerkt. Also muss das einen anderen Grund haben, dass er nicht hier ist.“

„Glaubst du, dass er entführt wurde?“ fürchtete Mokuba. „Wer sollte denn Yami entführen? Hier seid ihr Pharaonen doch so sicher wie sonst nirgendwo.“

„Malen wir nicht gleich den Teufel an die Wand. Erst mal überlegen.“ Auch wenn das gar nicht so einfach war. Yami konnte quasi überall sein. „Ist denn einer von den Magiern hier?“

„Im Moment bin nur ich hier“ antwortete Mokuba, dem sich langsam auch der Magen umdrehte. „Dakar ist irgendwie weg und die anderen sind gen Aquarium.“

„Tato und Dakar wären die einzigen beiden, die ihn mit ihren Sinnen finden könnten.“ Aber diese Idee musste Yugi damit verwerfen. „Was bedeutet denn, dass Dakar irgendwie weg ist?“

„Wir wissen nur nicht wo er ist. Vielleicht weiß Tea bescheid“ war Maries Idee. „Ich kann ja in der Zwischenzeit Tato anrufen. Vielleicht sind sie ja schon wieder auf dem Rückweg.“

„Danke, das kann ich auch selbst schnell machen.“

„Und ich gehe Tea fragen.“ Und damit verschwand Tristan auf dem schnellsten Wege durch das Restaurant in den dahinter gelegenen Garten.

Yugi holte sein Handy aus der Hosentasche, tippte auf die Kurzwahl und wartete Sekunden bis er eine Verbindung bekam. „Hallo Schatz“ grüßte er seinen großen Sohn ganz kurz. „Wo seid ihr denn? - … - Nein, noch nicht. Wir suchen Yami und haben uns gefragt, ob ihr vielleicht heute Morgen was bemerkt habt.“ Er wartete einen ganzen Moment und machte dann große Augen. „Ach so? Nein, habe ich nicht gemerkt. Da muss ich noch mal gucken gehen. - … - Nein, macht euch erst mal keine Sorgen. Ich melde mich gleich noch mal. - … - Erst mal nicht, das würde ihm ähnlich sehen. Ich laufe schnell rauf. Sag mir zwischendurch bitte mal wie es Sethos geht.“ Damit verschwand er schon wieder nach drinnen und ließ Mokuba und Marie draußen links liegen.

Die beiden sahen sich an und Mokuba wusste nichts anderes als sich wieder zu setzen und zu warten. „Ich hätte gern einen einzigen Tag, wo mal nichts passiert“ murrte er und fummelte an der Plastiktischdecke herum.

„Dann willst du zurück in die Pampa?“

„Gott bewahre.“ Nein, das dann auch nicht unbedingt. „Nur in letzter Zeit muss man sich um einige Leute ganz schön Sorgen machen. Mir wäre ja schon geholfen, wenn ich wüsste wie’s Seto geht. Aber bei dem weiß ja auch keiner wo er ist. Und der einzige, der es weiß, liegt im Krankenaquarium.“

„Wenigstens geht es Tato besser. Er hat sogar richtig gelacht heute Morgen.“

„Echt? Das habe ich nicht mitgekriegt.“

„Doch, wirklich“ lächelte sie. „Balthasar hat beim Frühstück einen schmutzigen Witz erzählt und Tato hat sich richtig beömmelt. Wenn er so lacht, sieht er wieder aus wie ein Zweijähriger. Richtig ansteckend.“

„Ich hatte gestern auch das Gefühl, dass es ihm besser geht. Ich glaube, dass er wieder fliegen kann, hat sein Seelenleben irgendwie verändert. Obwohl das mit Sethos ganz schrecklich ist, scheint Tato jetzt sehr viel gefestigter. Und die Tage im Krankenhaus haben ihm wohl auch zu denken gegeben.“

„Ich glaube, er weiß auch, dass wir jetzt auf ihn zählen“ überlegte sie und blickte immer wieder nach oben zu Yamis Zimmerfenster. „Sari ist noch zu jung, im Augenblick ist er also der einzige Drache bei uns.“

„Schon gruselig wie sehr man sich von so was abhängig macht“ bemerkte Mokuba und hatte schon einen Riss in die Tischdecke gefriemelt. „Mittlerweile ist es schon soweit, dass ich mich ohne Drachen ganz unwohl fühle.“

„Geht mir auch so. Aber ich glaube, das liegt an der Umgebung. Zuhause fühlen wir uns einfach sicherer, weil wir uns auskennen. Hier ist alles irgendwie neu und wenn ich jemanden auf der Straße sehe, frage ich mich immer was er wohl für eine Fähigkeit hat oder ob er so ein Normalo ist wie ich. Sachen über die man sonst nie nachdenkt.“

„Dakar war nur drüben im Supermarkt“ erzählte Tristan als er mit eben dem im Schlepptau zurück nach vorn kam und sich umguckte. „Wo ist Yugi?“

„Mit Tato am Ohr nach oben gelaufen“ zeigte Mokuba zu den Fenstern hinauf. „Was hast du denn im Supermarkt gemacht?“

„Mama brauchte neue Windeln und Shampoo.“ Wenn so ein ausdrucksloser Typ wie Dakar das sagte, war es eigentlich zum Schreien komisch. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein blasshäutiger Vampir mit langer Rabenmähne und stechenden Augen, aber eigentlich war er ein Muttersöhnchen und hatte sogar ihr zuliebe ein violettes Shirt angezogen, um auch mal was Farbiges zu tragen. Für Tea würde er einfach alles tun. „Soll ich Atemu nun suchen oder nicht?“

„Ich weiß nicht. Warten wir mal, was Yugi sagt.“ Doch auch wenn Mokuba nach oben sah, tat sich da nicht viel. Das Fenster war angekippt, aber sonst nichts zu erkennen. Jedoch wenn Yami in der Stadt war, würde Dakar ihn schnell finden. Er brauchte nur den Hauch eines Duftes und konnte sein ‚Opfer‘ über mehrere Kilometer verfolgen ohne dabei selbst gesehen zu werden. Dakar war der perfekte Jäger. Nun ja, was erwartete man auch anderes, wenn man eine Schlange zum Vater hatte?

Dann war auch Yugi wieder zur Stelle und trat heraus auf die Terrasse. Sein Handy hatte er weg gesteckt und hielt dafür einen Zettel in seiner Hand. Sein Gesichtsausdruck irgendetwas zwischen erleichtert, genervt und ungläubig.

„Und?“ fragte Marie nervös. „Weißt du wo er sich rumtreibt?“

„Nicht genau. Aber ich weiß, dass ihm nichts passiert ist“ antwortete er, lehnte sich an ihren Stuhl und las den Zettel vor. „Hört euch das an: Hi Yugi, bin einkaufen, habe deine Kreditkarten. Wartet nicht mit dem Essen auf mich. Kuss, Yami. Ist das zu glauben?“

„Und wo war der?“ guckte Mokuba genauso erleichtert wie verwirrt.

„In meiner Brieftasche. Als würde ich auf die Idee kommen, da reinzugucken, wenn ich meinen Yami suche. Manchmal macht er mich echt fertig.“

„Wahrscheinlich hat er das da reingesteckt, weil er deine Kreditkarten genommen hat“ mutmaßte Marie und nahm ihm den Zettel ab, um noch mal zu lesen. „Aber wenigstens ist ihm nichts passiert.“

„Woher wollt ihr denn wissen, dass der Zettel von ihm ist?“ Tristan war da noch sehr skeptisch. „Wenn Mokuba Recht hat und er entführt wurde, kann der auch gefälscht sein.“

„Wohl kaum.“ Marie drehte das Papier in sein Blickfeld und darauf erkannte man nichts weiter als Hieroglyphen. Aber nicht nur Zeichen, sondern sehr viele Striche, Kurven und Kringel. Seine Bildschrift war selbst für Laien von ‚normalen‘ Hieroglyphen zu unterscheiden, da seine Sprache sehr viel älter war. Sehr, sehr, sehr viel älter und es nur noch eine Hand voll Menschen gab, die das überhaupt lesen konnten. Selbst Ägyptologen würden das nicht entziffern können. „Wenn ihm was passiert wäre, hätte er da sonstwas hinschreiben können und dem Entführer wäre es nicht mal aufgefallen.“

„Es gibt das Wort Kreditkarte auf ägyptisch?“ bemerkte Tristan dennoch skeptisch.

„Nein, er hat es flacher Kleintausch genannt. Er meint damit aber Kreditkarten. Kleintausch nannte man zu seiner Zeit das Geld. Ich hab’s nur sinnvoll übersetzt“ erklärte Yugi und setzte sich zurück auf den Stuhl. „Ich werde ihn irgendwie dazu überreden müssen, dass er doch ein Handy bei sich trägt. Anders machen meine Nerven seine Allüren nicht mit.“
 

Yami ging es also gut, der war nur spontan dem Frustshoppen verfallen. Doch kaum war das eine Rätsel gelöst, tat sich gleich das nächste Problem auf. Eines welches sich auch sofort als solches zeigte. Oder eher anhörte, denn es drang ein gellender Schrei durch die Nachmittagshitze.

„BAAAAABBIIIIII!“

Und das hörte sich nicht an als wäre das ein Spiel.

„BAAAAABBIIIIII! BAAAAABBIIIIII!“

„Feli!“ Sofort sprang Tristan auf, schmiss den Stuhl dabei um und rannte durch die offene Tür in den Garten. Sie schrie um Hilfe, das hörte man selbst dann wenn man nicht ihr Papi war.

„Was ist denn da los?“ Und schon lief auch Mokuba hinterher und mit ihm die anderen. Schon bevor sie ankamen hörte man Tumult, hörte man Tea und Nika rufen und Hannes war auch bereits rausgerannt.

Draußen angekommen, war die Situation ebenso überraschend wie schnell überblickt. Am Zaun parkte ein dunkler Geländewagen, in welchem bei laufendem Motor ein Mann mit Sonnenbrille wartete. Im Garten flüchteten zwei Männer. Einer davon in sommerlichen Shorts und einem Shirt in selber, blauer Farbe. Der andere im schwarzen Anzug mit Krawatte und langem, blonden Haar. Allesamt unbekannt. Umso verbotener, dass der Anzugmann Feli im Arm hatte, ihr den Mund zuhielt und auf den Wagen zulief, während der Shortmann die Hände ausgestreckt hatte und in diesem Moment alle Personen, welcher zur Hilfe eilten auf den Boden warf.

„Das sind Magier!“ rief Tea, welche sich schützend vor die Kinder gestellt hatte und dabei wenigstens die übrig gebliebenen zusammenhielt.

Nika war bei ihrem Rettungsversuch zu Boden geworfen worden, aber Tristan war noch nicht nahe genug dran gewesen. Deshalb stürmte er genau jetzt auf die Kidnapper zu und warnte mit einem entschlossenen Rufen. „Lasst sie sofort los! Lasst sie los!“ Aber das kümmerte natürlich niemanden. Die Herren waren schnell und schon fast beim Auto angekommen als sowohl Tristan als auch zwei andere Männer umgeworfen wurden und sich längs auf dem Boden wiederfanden.

„Oh Gott! Feli!“ Aber Mokuba war nun mal kein Kämpfer. Selbst wenn, er war viel zu weit entfernt als dass er den Wagen noch hätte erreichen können. Ebenso wie Yugi, der aber gegen drei Männer auch nichts hätte ausrichten können. Beide liefen auf den Wagen zu, doch es war denkbar aussichtslos.

Der Mann mit den Shorts war bereits hinein geklettert, der Anzugmann wollte gerade. Nur Dakar war schnell. Wie aus dem Nichts trat er vor die geöffnete Wagentür und verhinderte die sofortige Flucht. Er konnte sich blitzschnell bewegen und sah dabei noch immer aus wie eine Zeitlupenaufnahme seiner selbst. Eine Hand streckte er nach hinten durch die offene Tür, die andere zum Fahrer. Bei Letzterem war zu sehen wie er sofort in Ohnmacht fiel und übers Lenkrad gebeugt liegen blieb. Dem anderen war es wahrscheinlich ähnlich ergangen. Dakars Blick allein reichte um den dritten Kidnapper vor sich erstarren zu lassen.

Dann ganz langsam wie eine Geistergestalt bewegte der Giftmagier sich. Er trat einen Schritt näher, nahm die schreiende Feli auf seinen Arm und zwang ihren Kopf an seine Schulter. Dann erst hauchte er dem erstarrten Mann seinen Atem entgegen, worauf dieser hustend auf den Boden sank.

Womit wieder bewiesen war, dass man sich mit einem hochklassigen Magier wie Dakar nicht auf einen Kampf einlassen sollte.

„Feli! Oh Süße, nicht weinen. Papi ist ja hier. Feli, mein Mäuschen. Ist ja gut.“ Tristan hatte sich zuerst aufgerappelt und nahm seine schreiende und weinende Tochter an sich. Ihm händigte Dakar das Mädchen sofort aus und blickte kalt auf den hustenden Mann zu seinen Füßen, um den er sich noch kümmern musste.

„Oh Gott, Felicitas! Tristan!“ Nika eilte auch sofort herbei und wollte ebenso an dem hustenden Mann vorbei und zu ihrer Tochter, doch als sie fast vorbei war, griff der Mann ihren Fuß. Er hatte sie kaum berührt, da stieß Dakars Arm herab und legte ihn flach auf den Rücken.

„Beweg dich noch ein Mal“ fauchte er und musste nicht mal zu Ende sprechen, um zu zeigen, dass es besser wäre, einfach liegen zu bleiben.

Während Nika ihre Tochter an sich drückte, kochte in Tristan die Wut hoch. Da hatte doch tatsächlich jemand Hand an seine Kleine gelegt. Das war eindeutig eine versuchte Entführung gewesen. Und zwar eine echte bei helllichtem Tage. Wäre Dakar nicht hier gewesen, hätte das böse ausgehen können.

„Na warte, du!“

„Nein, Tristan!“ Yugi hielt seinen Arm fest, bevor er in seiner Wut zuschlagen konnte.

„Lass mich! Der Kerl wollte Feli was antun! Der kann was erleben, dieses Arschloch!“

„Warte Tristan, warte“ bat er noch mal und drehte sich zu dem am Boden liegenden Mann. Der war unter Dakars Augen eh hilflos, aber Yugi spürte da mehr. „Wer bist du?“ fragte er ernst. Dem Mann war die Sonnenbrille heruntergefallen und sein Atem ging schwer, ließ ein enges Pfeifen hören. Aber in seinem Gesicht lag keine Bosheit. Viel eher blickte er verwirrt hinauf, sah zwischen Yugi und Dakar hin und her, bevor er zurück in den Garten blickte. „Wer bist du?“ fragte Yugi nochmals.

„Ich weiß nicht … was mache ich denn hier?“ Er schien selbst völlig ratlos.

„SPIEL HIER NICHT DEN DUMMEN!“ Dafür war Tristan in Rage und würde ihm am liebsten … „ICH BRING DICH UM, DU …“

„Tristan, warte. Bitte.“ Yugi kniete sich herab und blickte dem blonden Mann mit dem teuren Anzug tief in die Augen. Doch erkennen konnte er dort nicht viel. „Wie heißt du?“

„Rick … Patsson“ antwortete er und hielt sich hustend die Hand vor den Mund. „Was ist denn hier los?“

„Das wüssten wir auch gern“ erwiderte Tristan, der sich schwer damit tat seine Wut herunter zu schlucken.

„Hannes, kannst du uns helfen?“ bat Yugi. Der dicke Wirt stand noch im Garten und half einem der beiden Männer auf die Beine, welche ebenfalls zur Hilfe geeilt waren.

„Natürlich. Was ist denn los?“ Er kam herüber und sah prüfend erst auf den Hustenden, dann in das dunkle Innere des Geländewagens.

„Kannst du bitte die beiden nach drinnen bringen?“

„Braucht ihr denn noch irgendwas? Soll ich einen Arzt rufen?“

„Das ist nicht nötig“ mischte Dakar sich ein und zog etwas lieblos den bewusstlosen Shortmann am Kragen aus dem Wagen. Der hatte die volle Dröhnung bekommen und hing nun leblos in dessen Griff. „Bring den anderen rein. Erst in ein oder zwei Stunden hört meine Betäubung auf zu wirken.“

„Und Sie müssen mir bitte kurz etwas beantworten“ bat Yugi und legte dem verwirrten Mann am Boden die Hand auf die Schulter. „Sie wissen wirklich nicht, was passiert ist?“

„Nein, ich habe keine Ahnung“ antwortete er und nervös huschten seine Augen von einem zum anderen. „Ich bin aus dem Büro raus und wollte mit meinem Bruder ins Schwimmbad.“ Er wies auf den Mann in Shorts, welchen Dakar sich über die Schulter legte und ins Haus trug. „Was ist mit ihm?“

„Keine Sorge, ihm geht’s gut“ beruhigte Yugi und holte sich mit einem intensiven Blick die Aufmerksamkeit zurück. „Was ist genau passiert? Woran erinnern Sie sich?“

„Darf ich vorher etwas fragen?“ bat er und schluckte seinen Hustenreiz. „Sind Sie … Sie sind der Pharao?“

„Ja, bin ich. Also keine Angst.“ Er setzte sein sanftes, beruhigendes Lächeln auf. Vermuten tat er auch etwas, aber er wollte Gewissheit haben. „Erzählen Sie mir bitte kurz, woran Sie sich zuletzt erinnern.“

„Ich habe meinen Bruder an der Haltestelle getroffen. Dort vorn“ zeigte er auf das Haus, meinte aber sicher die Straße, welcher dort verlief. „Wir standen dort und warteten auf die Straßenbahn. Dann kam dieser schwarze Wagen vorbei und hielt vor uns. Und dann finde ich mich hier auf dem Boden wieder und mein Bruder ist bewusstlos.“

„Ich glaube ihm kein Wort“ schnaubte Tristan. Er hielt sich sehr zurück, um Yugi nicht zu übergehen, aber er würde immer noch viel lieber …

„Bleib cool, Tristan. Er war das nicht“ löste Yugi auf.

„Ich soll cool bleiben? Meine Tochter wäre fast entführt worden und du sagst, ich soll cool bleiben?! Tickst du noch ganz richtig?!“

„Überlass das Yugi“ bat auch Nika. Sie beruhigte noch immer Felis Weinen und schuckelte sie auf den Armen. „Komm, wir gehen rein. Ich brauche ein Pflaster.“

„Ist Feli was passiert?“

„Nein, er hat mich gekratzt.“ Sie schob ihren Fuß mit den pinken Flipflops vor und an ihrem Unterschenkel zog sich ein mehrere Zentimeter langer Kratzer entlang, welcher leicht blutete. Nicht schlimm, aber eben auch nicht schön. „Komm mit und lass das Yugi und Moki machen.“

Er warf dem Typen noch einen dunklen Blick zu, aber trat dann seiner Frau zuliebe den Rückweg an.

„Ich komme gleich und kümmere mich um deinen Kratzer“ versprach Mokuba. Er wollte Yugi jetzt nicht allein lassen und Nika würde noch einen Augenblick warten können.

„Ich glaube, Sie waren von jemandem besessen“ erklärte Yugi dem völlig verwirrten Mann. „Es gibt Magier und Hexen, die können die Körper von anderen übernehmen und Sie Dinge tun lassen, die Sie selbst niemals tun würden. Ich habe eine Veränderung bei Ihnen gespürt, die so grundsätzlich war, dass ich mir sehr sicher bin, dass Sie besessen waren.“

„Warum, was …?“ Er guckte Yugi an und war völlig von der Rolle. „Was habe ich denn getan?“

„Nicht Sie, aber jemand in Ihrem Körper hat versucht, die Tochter meines Freundes zu entführen.“

„Oh Gott …“ Und so wie er schaute, konnte man das nicht spielen. „Aber das … oh Gott, das tut mir leid. Ich würde nie … also … ich bin nicht mal magisch begabt. Ich weiß, dass mein Bruder, aber … er würde auch nie … und den anderen kannte ich nicht mal, der da … oh Gott …“

„Schon gut, es ist nicht Ihre Schuld“ beruhigte Yugi. Er hatte herausbekommen, was er wollte und wusste nun, dass die drei Männer wahrscheinlich gar nichts davon wussten, was sie getan hatten. Einer war wohl magisch begabt, aber dass jemand aus Blekinge versuchen würde, dem Pharao oder seiner Familie etwas anzutun, war sehr unwahrscheinlich.

Was jetzt aber noch zu klären war … warum Feli?
 


 

Chapter 2
 

„Das habe ich mich gleich gefragt“ meinte Noah und rührte mit dem Strohhalm die Zitrone in seinem Eistee. Er und Joey wie auch Narla waren gleich zurückgekommen als sie von dem Ereignis erfuhren. Ein solcher Entführungsversuch war ausreichend Grund für die Gruppe, sich zusammenzurotten. Nur Amun-Re war im Aquarium geblieben, wo Balthasar und Spatz seinen Schutz übernahmen. Alle anderen waren binnen einer Stunde alle vollzählig. Ach ja, bis auf Yami, der noch immer irgendwo wild Geld ausgab, aber dafür hatte man wenigstens Mokeph auf dem Handy erreicht.

„Was denn?“ guckte Dante ihn an, der dem Gespräch zwar folgen wollte, aber die Zusammenhänge nicht so recht verstand. Die Kinder hatten den Trubel schon fast wieder vergessen und spielten bereits in der Sandkiste. Von den Erwachsenen wurde ihnen ernst erklärt, dass sie nicht zu fremden Leuten gehen durften, aber wurden gleichsam beruhigt, dass alles in Ordnung sei, solange ein Erwachsener in der Nähe sei. Nur Feli bebte noch immer am ganzen Körper und saß zwischen Mamas Armen versteckt, wobei ihr auch die Hitze egal war.

„Nichts, Kleiner. Hast du ausgetrunken?“ Noah nahm Dante das leere Saftglas ab und strich ihm die Haare aus der Stirn, während der nickte. „Gut, dann geh wieder spielen.“

„Oki, Kleiner. Danke schön, bitte sehr.“ Und schon war er wieder weg, um Tato und Nini im Sandburgenbau zu unterstützen.

„Das ist wirklich ein Rätsel“ überlegte auch Tristan. „Wenn ich ein Kind entführen wollte, dann würde ich Nini oder Dante entführen. Bei Nika und mir gibt’s doch kaum Geld zu holen.“

„Klingt ja nett“ murrte Mokuba. „Ich würde meinen Dante und mein Geld ganz gern beide behalten.“

„Ich meine euch zu erpressen, würde sich wenigstens lohnen“ versuchte er zu erklären. „Nika verdient mit Mode zwar auch ganz gut, aber im Vergleich zu den Familien Kaiba und Muto sind wir doch arme Schlucker.“

„Wer uns aber kennt, der weiß, dass wir jede Summe für eure Kinder zahlen würden“ führte Noah seine Gedanken fort und blickte besorgt hinüber zu den spielenden Kindern. „Das waren auch keine gewöhnlichen Entführer. Sie haben abgewartet bis möglichst alle unsere Magier abwesend sind. Das heißt, sie haben uns beobachtet.“

„Und Dakar war eigentlich auch weg. Nur gut, dass der Supermarkt heute leer war“ äußerte Tea und legte sich die kleine Theresa über die andere Schulter, denn das Bäuerchen ließ heute länger auf sich warten. „Wäre er nicht so schnell zurück gewesen … ich will gar nicht dran denken, was dann wäre.“

„Dakar ist der Held des Tages“ grinste Joey breit, aber von dem frisch gekürten Helden kam keine Reaktion. Er blickte einfach irgendwo ins Nichts, so wie immer.

„Mich wundert es eher, dass so was mitten in Blekinge passieren kann“ sprach Mokeph ernst. „Ich dachte, hier sind wir sicher. Wenn wir bedroht werden und kämpfen müssen, hätten wir auch in Domino bleiben können.“

„Amen“ ergänzte Mokuba.

„Balthasar sagte mir am Telefon, dass derjenige gar nicht in Blekinge sein muss. Und er kennt sich mit so etwas doch am Besten aus“ erzählte Marie. „Er sagte, wenn man diese Geistbesetzung ausreichend gut beherrscht, dass man dann auch einen Körper übernehmen kann, der viele Kilometer weit weg ist. Er sagte, er könnte Phoenix und Narla auch am anderen Ende der Welt spüren und besetzen. Und andere Leute, mit denen er nicht verwandt ist, muss er nur ein Mal bewusst berührt haben, um sie immer wieder aufspüren zu können.“

„Du meinst es wäre also möglich, dass der oder die Entführer gar nicht selbst in Blekinge sind und mindestens so begabt wie Balthasar“ kombinierte Noah und versuchte möglichst schnell dahinter zu kommen, wer oder was genau sie hier bedrohte. „Voraussetzen können wir also nur, dass derjenige etwas von uns will, sonst hätten sie Feli auch sofort töten können, dafür waren sie nahe genug.“

„Sag sowas nicht“ bibberte Nika, welche solch einen Gedanken gar nicht haben wollte.

„Ich sage nur, sie waren offensichtlich nicht darauf aus, sie zu verletzen. Das legt nahe, sie wollten uns erpressen.“

„Oder sie wollten etwas von Feli.“ Tato kam zu ihnen in den Garten und nahm sich unterwegs zwei Stühle mit. Einen für sich und einen für Sareth, welche hinter ihm ging.

„Hast du etwas in ihren Gedanken gesehen?“ hoffte Tristan auf Erklärung. Tato war bei allen drei Männern gewesen, um ihre Gedanken und Erinnerungen zu prüfen, denn solch geistlichen Fähigkeiten besaß Dakar nicht. Sareth musste so etwas noch trainieren, weshalb sie ihrem Vater diesmal dabei assistierte.

„Nichts, was uns auf eine Spur führen würde“ erzählte er und rückte seiner Tochter den Stuhl hin. „Ich habe die drei nach hause geschickt.“

„Wir sollen euch sagen, dass es ihnen schrecklich leid tut“ ergänzte Sareth und sprach dabei direkt Tristan und Nika an. „Sie wussten gar nicht, was sie taten. Aber es tut ihnen trotzdem leid. Sie haben ihre Telefonnummern aufgeschrieben, falls ihr noch mal mit ihnen reden wollt.“

„Nur einer von ihnen ist Hexer. Er ist aber eher schwach begabt“ erklärte ihr Vater weiter, setzte sich und nahm die Zigarettenschachtel vom Tisch. „Sein Talent liegt darin, durch Dinge hindurch zu sehen. Hauptsächlich durch Stein. Seine Fähigkeiten sind aber sehr gering ausgeprägt und er hat sie nur als Jugendlicher studiert. Jetzt ist er ein nicht praktizierender Hexer, also eigentlich nutzlos.“

„Er hat aber eine Energiewelle über den Boden geschickt“ wandte Yugi ein. „Sobald Dakar da war, hat sich der Energiestrom um ihn herum verändert. Danach floss er normal. Bevor Dakar ihn betäubt hat, war die Energie irgendwie … gar nicht vorhanden. Als würde das Leben einen Bogen um ihn herum machen.“

„Seit wann entwickelst du denn magische Fähigkeiten, Yugi?“ horchte Joey.

„Ich weiß auch nicht, was das war. Ich kann nur sagen, dass ich da eine Art toten Punkt gefühlt habe. Ich bin magisch vielleicht eher unbegabt, aber ich weiß, wie sich Energie anfühlt. Und ich ich weiß, dass ich dort etwas unnatürliches wahrgenommen habe.“

„Das kann ich nicht beurteilen. Das ist Pharaonenquatsch“ murrte Tato. Er hasste es, wenn er etwas nicht nachvollziehen konnte und das Spüren der Energieflüsse beherrschte er nur gering bei Menschen, bei allem anderen gar nicht. Das jedoch war das, was die Pharaonen als einzige konnten. Er würde ja auch gern, immerhin trug er Yugis Geist in sich … doch zum Pharao taugte er trotzdem nicht. Die Energie der Erde kommunizierte nicht mit ihm.

„Also konntest du nichts herausfinden“ unterstellte Tristan enttäuscht.

„Nur eben, dass die drei besessen waren“ erklärte er und schlug die Beine übereinander. „Interessant finde ich aber, dass sie alle von nur einem Geist besessen waren. Es war also nur eine Person, die alle drei gelenkt hat. Ungewöhnlich“ erklärte er weiter und zündete seine Kippe an, der Aschenbecher rutschte ganz automatisch über den Tisch an seinen Platz. „Ich konnte Spuren seines Geistes in ihnen ausmachen, Fetzen und Farben von Gedanken, fremden Erinnerungen, sie aber nicht zurückverfolgen. Sareth hat ihn auch gespürt und wir sind uns sicher, dass er nicht in der Nähe ist. Wahrscheinlich nicht mal in dieser Stadt. Jedoch sobald er oder ein weiteres seiner Medien in unseren Dunstkreis kommt, werden wir das spüren.“

„Also sind wir sicher“ wollte Nika nur die beruhigenden Worte hören.

„Im Augenblick ja“ brummte er dunkel. „Ich wäre gern selbst hier gewesen. Vielleicht hätte ich seine Gedanken lesen können. Nur ungern lasse ich den Kerl einfach so davonkommen.“

„Woher willst du wissen, dass es ein Kerl war?“ fragte Tea. „Es könnte auch eine Frau gewesen sein.“

„Nein, das war ein Kerl. Seine Gedanken waren männlich. So was sehe ich.“

„Wenn er was will, wird er wiederkommen“ meinte Joey und schlug die Fäuste ineinander. „Und dann schnappen wir uns den Kerl.“

„Definiere wir“ blickte Tato ihn skeptisch an.

„Mann, du weißt doch wie ich das meine. Den machen wir platt. Du hältst ihn fest und ich trete ihm in die Eier.“

„Damit verletzt du nur sein Medium. Überlass die Sache lieber den großen Jungs.“

„Ich wüsste dennoch gern, worauf die ganze Aktion abzielte“ steuerte Noah auf das Ursprungsthema zurück. „Wollte uns derjenige erpressen oder war das nur eine Warnung?“

„Für eine Warnung war das zu gut geplant. Er muss gewartet haben bis wir alle weit verstreut waren“ dachte Tato den Gedanken weiter. „Und er war so clever, niemanden von uns zu besetzen.“

„Ja, stimmt“ rief Sareth verblüfft. „Wenn seine Intention auf eines der Kinder gerichtet wäre, dann hätte er auch ein Kind besetzen können und wäre einfach weggelaufen.“

„Er muss also wissen oder zumindest ahnen, dass wir alle Schutzzauber auf uns tragen. Sobald er einen von uns angreift, schellen bei uns Magiern sofort alle Alarmglocken.“

„Ach ja, stimmt“ erinnerte sich Sareth. „Außer bei Dakar. Nur bei dir, mir und Balthasar. Und Oma, wenn er hier wäre. Oder Sethos, wenn er …“ Ja, wenn er etwas lebendiger wäre. Im Augenblick war er dem Tode näher. „Wir sollten es doch eigentlich spüren, wenn jemand von uns in eine kafkaeske Situation gerät.“

„Haltet ihr es für möglich, dass Papa dahinter steckt?“ fragte Narla vorsichtig.

„Nein, was sollte der mit Felicitas anfangen?“ zuckte Tato mit den Schultern. „Ich bin relativ sicher, dass er direkt und nur sie haben wollte. Und er wollte sie lebendig und bei Bewusstsein.“

„Das habe ich auch gespürt“ ergänzte Sareth. „In den Gedanken der Männer war das massive Bedürfnis, Feli mitzunehmen.“

„Da wir beide dasselbe gespürt haben, sind wir davon überzeugt“ führte ihr Vater den Bericht weiter aus. „Sie waren nur auf dieses eine Kind fixiert. Sie wollten kein anderes, nur Feli.“

„Aber was wollen sie denn mit Feli?“ fürchtete Nika und drückte sie nur noch fester an sich. „Sie hat doch nichts. Sie kennt keine Geheimnisse und steht nicht mal richtig in Blutsverwandtschaft mit jemandem von uns. Für einen anderen Magier wäre sie doch total nutzlos.“

„Das wundert mich auch“ bemerkte Tato nachdenklich. „Wenn es um einen Körper ginge, wäre Dante das perfekte Opfer. Wenn es um Magie ginge, hätte er klein Tato mitnehmen müssen oder Baby Dakar. Nini wäre auch gut zu gebrauchen, wenn man es auf pharaonische Kräfte abgesehen hätte. Selbst Risa und Thesi und Joey wären besser, sie sind mit Seth blutsverwandt. Feli ist ein zuckersüßes Püppchen, aber für einen magiebezogenen Kidnapper denkbar nutzlos.“

„Aber er hatte es trotzdem nur auf sie abgesehen?“ Tristan versuchte zwar, es zu verstehen, aber so sehr er Feli auch liebte, konnte er sich nicht vorstellen, was ein Fremder mit ihr anfangen wollte. Nüchtern betrachtet, war sie das nutzloseste Opfer, das man bekommen konnte.

„Vielleicht hat sie etwas an sich oder etwas gesehen.“ Wie immer wenn Dakar mal sprach, durchbrach seine heisere Stimme die ganze Situation. Und brachte einen völlig neuen Denkansatz.

„Wie meinst du das?“ wollte Tato genauer wissen.

„Wenn sie etwas in sich trägt, was für jemand anderen wichtig ist“ sprach er und heftete seinen messerscharfen Blick auf das versteckte Mädchen. „Vielleicht eine gewisse Mutation in ihrem Körper oder ein gefährliches Wort in ihren Gedanken. Vielleicht hat sie etwas beobachtet, was jemanden in Bedrängnis bringt.“

„Ich habe nichts besonderes bei Feli beobachtet“ versuchte Nika ihre Kleine zu beschützen. „Sie ist genauso wie immer.“

„Keine Veränderungen?“ horchte Dakar direkt aus. „Wiederholt sie ein Wort besonders oft oder führt sie vermehrt bestimmte Bewegungen aus? Irgendetwas auffälliges?“

„Nein, mit ihr ist alles wie immer“ betonte Mami. „Sie ist seit letzter Woche im Kindergarten und malt seitdem ständig Bäume. Aber sonst …“

„Aber das tun sie alle“ behauptete Tristan. „Nini und Tato malen auch nur noch Bäume. Das ist Mode bei den Kids.“

„Und sie singt ständig ‚Ein Männlein steht im Walde‘. Und sie isst viel Honigmelone im Augenblick. Honigmelone ist ihr Lieblingswort.“

„Das machen unsere Kleinen aber auch“ meinte Yugi. „Ist denn irgendwem in letzter Zeit etwas bei Feli aufgefallen?“

Es war bereits halb sieben Uhr am Abend und man hörte die Grillen zirpen. Der Ton passte perfekt zu der Stille, welche in diesem Moment herrschte. Niemandem war jemals etwas ungewöhnliches an Feli aufgefallen. Man konnte noch so viel herumraten, es fiel niemandem etwas ein, was sie für einen Kidnapper attraktiv machte. Jedenfalls nichts was attraktiver war als bei den anderen Kindern.

„Wir sollten einfach besonders gut auf sie aufpassen“ beschloss Tato. „Ich schlage vor, dass immer einer von uns bei ihr ist, der sie im Ernstfall verteidigen kann. Am idealsten wäre natürlich Balthasar. Wenn es um Medienmagie geht, ist er der Erfahrenste von uns.“

„Dann gehe ich mit in den Kindergarten“ schlug Mokeph vor. „Risa soll nächste Woche ohnehin eingewöhnt werden und dafür sind mindestens zwei Wochen angesetzt. Dann mache ich das. Wenn es dir recht ist.“ Er fragte vorsichtig Tea, denn eigentlich war sie diejenige, welche Risa an den Kindergarten gewöhnen sollte. Es war ganz normal, dass die Eltern am Anfang noch vor Ort blieben, damit die Kleinen sich nicht verlassen vorkamen. Nika und Tristan wechselten sich seit letzter Woche ab. Dante hatte gar keine Eingewöhnung gebraucht, ihm reichte es wenn seine Freunde da waren und Nini hatte ihm ja alles erklärt. Aber Tea wollte das bei ihrer ersten Tochter eigentlich selbst machen und ob sie das Mokeph so einfach überlassen würde? Ihr Vertrauen zu ihm war gebrochen.

Deshalb sah sie ihn sehr prüfend an und diese Entscheidung fiel ihr sichtlich schwer. Doch es war das Sinnvollste in diesem Moment. „Nur wenn du Risa dabei nicht ganz aus den Augen verlierst.“

„Wann habe ich meine Kinder schon mal aus den Augen verloren? Hm?“ Er fragte das ganz sanft, wollte sie beruhigen.

Doch ihr Blick sprach Bände. Es lag ihr auf der Zunge. >Als du die andere gebumst hast.< Doch sie wollte vor versammelter Mannschaft nicht noch eine Szene machen. Also schwieg sie, blickte weg und streichelte Theresa über den Rücken.

„Okay, dann machen wir es so“ fasste Tato noch mal zusammen. „Mokeph achtet auf Feli, wenn sie im Kindergarten ist. Ansonsten bitten wir Balthasar, dass er auf sie aufpasst. Die restliche Zeit werden Sareth, Narla, Dakar und ich uns abwechseln, sodass auch immer jemand im Aquarium ist. Amun-Re und Sethan sollten wir nicht allein lassen.“

„Ich … ich kann morgen nicht“ warf Sareth ganz leise, ganz piepsig ein und senkte beschämt den Blick.

„Musst du auch nicht“ tat ihr Vater das ab.

„Warum?“ wollte Joey wissen. Er checkte das nicht sofort. „Macht Sareth jetzt Urlaub, oder wie? Ich würde ja auch gehen, aber ich habe nun mal keine AUA! Mann, Narla!“

„Stell dich nicht so blöd an“ seufzte sie und streichelte seinen Arm, auf den sie eben so nachdrücklich gehauen hatte. „Morgen ist Neumond.“

„Aber ich denke bei Sareth ist das nicht so doll.“

„Ist es auch nicht“ antwortete sie leise. „Aber ich werde immer so … müde.“

„Ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen und Beobachtungsgabe täte dir mal ganz gut“ meinte Narla, nahm seine Hand und küsste sie. „Halt einfach den Mund, wenn die Erwachsenen reden.“

„Ich bin älter als du.“

„Ja ja …“

„Dann gehe ich langfristig zu Sethan“ bot Dakar an. „Ich brauche am wenigsten Schlaf und meine Sinne sind scharf genug. Davon abgesehen, habe ich eh kaum mehr zu tun als Mama hinterher zu laufen.“

„Die Idee ist gar nicht so doof.“

„Ich werde dich ganz oft besuchen“ lächelte Tea ihn an. Und sie bekam sogar ein schmales Lächeln zurück. Er zeigte nicht viele Emotionen, aber für Tea gab er sich Mühe, das merkte man. Er lebte in einer eigenen Verehrung zu ihr.

„Ich liebe dich, Mama.“
 

„Boah, was ist das denn?“ Es war nicht nur Joeys baffer Ausruf, welcher die Situation sprengte, sondern der filmreife Auftritt eines anderen.

Um die Ecke bog ein wuchtiges Motorrad mit silbern polierten Felgen, breiten Reifen und einer ausgewachsenen Manneslänge. Das schwarze Metall glänzte und reflektierte das Sonnenlicht über seine breiten Lamellen, während der Fahrer weit über den Rumpf bis zu dem kurzen Lenker vorgebeugt lag. Diese wahnsinnige Maschine parkte direkt am Gartenzaun, der Fahrer stieg ab und als er den schwarzen Helm absetzte, wussten alle sofort, was Yami mit Yugis Kreditkarten angestellt hatte. Er hatte sich nicht nur ein neues Motorrad gekauft, sondern war offensichtlich beim Frisör gewesen. Seine blonde Mähne war nun schwarz wie die Nacht, ebenso wie seine Lederklufft. Selbst als er die Jacke auszog, trug er darunter ein schwarzes T-Shirt mit der glutroten Aufschrift ‚Pharao‘. Deutlicher ging es nun ja wohl nicht mehr. Der Hit aber waren seine knallroten Lederturnschuhe, die einem schon aus der Ferne zuschrien: Seht wie sexy ich bin!

Yami grinste seine Freunde an, winkte kurz und klappte dann die Taschen seiner Maschine hoch, nahm zwei Arme voll Einkaufstüten heraus und schleppte seine Beute gen Gartenpforte.

„Hey, Yami!“ Yugi fand zuerst seine Sprache wieder, während selbst den Kindern der Mund offenstand. Nur Nini schrie und lachte wild bei seinem Anblick.

„Hey!“ rief er zurück, aber lief einfach weiter.

In der Tür kam ihm Hannes entgegen, der drinnen wohl das Brüllen der Maschine gehört hatte und zum Schauen rauskam. Er war so breit gebaut, dass Yami nicht an ihm vorbeitanzen konnte und sich von oben bis unten betrachten lassen musste. „Hallo Pharao“ grüßte der Wirt überrascht.

„Hi Hannes“ grinste Yami. „Kannst du meine Taschen nach oben bringen?“

„Öhm …“ Viel Wahl hatte er nicht, da drückte Yami ihm schon seine gesammelte Pracht in die Hände.

„Und dann hätte ich gern irgendwas mit einem Schirmchen drin. Danke schön.“ Er drehte sich zur Seite, schwang die Beine über den Gartenzaun und tänzelte auf die anderen zu. Sichtlich gut gelaunt.

„Was ist denn mit dir passiert?“ fragte Joey stellvertretend für alle anderen. „Hast du dir etwa die Augen geschminkt?“

„Die Kosmetikerin meinte, ich hätte die perfekte Augenkontur für so was. Hab ich früher schon schick gefunden.“ Also ja, er hatte sich die Augen schwarz gemacht.

„Dooooofiiiii! Wie siehst du denn aus?“ Nini sprang ihm auf den Arm, sodass er keine andere Wahl mehr hatte als sie aufzufangen. „Wer hat das mit deinen Haaren gemacht? Sie sind schwarz wie Schuhcreme!“

„Gut erkannt“ freute er sich und knutschte sie. „Gefällt’s dir?“

„Du siehst voll super aus! Wie ein Playboy!“

„Bin ich ja auch.“ Er guckte kurz zurück, aber Tato und Dante waren an den Zaun gelaufen und betrachten durch ihn hindurch das Motorrad, berührten es neugierig mit ihren Händen. Das Ding interessierte die Jungs wesentlich mehr als eine neue Frisur. Nur Risa buddelte weiter im Sand als sei nichts gewesen.

„Und wir haben uns Sorgen um dich gemacht“ kommentierte Tea verwundert. „Aber dir scheint’s ja richtig gut zu gehen.“

„Kann ich deine neuen Haare anfassen?“ Und schon war Nini dabei und strich erst mit den Fingerspitzen, dann mit der ganzen Hand über seine neue Farbe. Die Frisur selbst war kaum verändert. Zwei lange Ponysträhnen hingen an den Seiten herab, der Rest in einen kurzen Zopf gebändigt. Nur aus dem strahlenden Goldblond war reines Schwarz geworden.

„Yami?“ fragte Yugi misstrauisch. „Geht’s dir wirklich gut?“

„Du meinst wegen der Haare?“

„Nein, du wolltest sie schon lange schwarz haben“ erklärte er und senkte vorsichtig die Stimme. „Aber nach dem was gestern war …“

„Keine Sorge, Yugischatzi. Ich habe mich lange nicht mehr so befreit gefühlt“ antwortete er, drehte sich mit Nini bis sie lachte und setzte sie auf dem Boden ab und sich selbst dann ganz frech auf Tatos Schoß, grinste ihn breit und fröhlich an. „Na Großer? Gemütlich hier bei dir.“

„Runter.“

„Geht nicht. Es ist kein Stuhl mehr frei.“

„Dann setz dich auf irgendwen anderes!“

„Aber du hast die hübschesten Beine.“ Na, wenigstens war er direkt.

„Depressiv warst du weniger nervig“ bemerkte Tato und schob ihn kraftvoll herunter. Aber nur um selbst aufzustehen und sich einen neuen Stuhl zu holen.

Yami indessen fischte seine neues Portemonnaie heraus, welches an einer langen Silberkette baumelte. „Hier. Danke für die Leihgabe.“ Er legte Yugi seine drei Kreditkarten auf den Tisch und überließ Nini „Kann ich mal gucken?“ den Rest zum Ausforschen. Sie war eben neugierig.

„Du warst wohl ganz schön teuer“ bemerkte Yugi mit Blick auf das Motorrad. „Neuer fahrbarer Untersatz, neues Outfit, neues Styling … sollte ich sonst noch was wissen? Nur damit Seto das eventuell von der Steuer absetzen kann.“

„Die silberne Kreditkarte ist überzogen“ erklärte er freimütig. „Sonst ist alles gut.“

„Du hast es geschafft, die Kreditkarte auszureizen?“ Das brachte selbst den krisenerprobten Yugi zum Staunen. Er wusste nur, dass er das Limit gar nicht kannte. Seto sagte immer: ‚Mach dir keine Sorgen.‘ Und die hatte Yugi bisher auch nie gehabt. Bis Yami kam. „Wie viel hast du denn ausgegeben?“

„Weiß ich nicht. Die Belege sind irgendwo in den Taschen.“ Und Sorgen kannte er wohl auch nicht mehr.

„Hast du mir auch was mitgebracht?“ Im Portemonnaie fand sie nur ein paar Geldscheine und Münzen, irgendwelche anderen Papierfetzen und ein Bonbonpapier. Nichts interessant daran.

„Natürlich habe ich euch nicht vergessen“ lächelte er sie lieb an. „Bei Hannes ist ne gelbe Tüte. Die kannst du mal herbringen.“

„Jaaaa! Geschenke!“ Und schon war sie unterwegs zur Wundertüte.

„Yami, was hast du denn bloß alles gekauft?“ Yugi kam noch immer nicht darüber hinweg, dass er eine Kreditkarte komplett zum Ende gebracht hatte. So was war doch eigentlich gar nicht möglich.

„Ich hab’s mir gutgehen lassen“ lächelte er und lehnte sich entspannt zurück. „Erst war ich Wellness machen. Ich brauchte einfach ne rundum Erneuerung. Danach habe ich mir einen Porsche mit Fahrer für den ganzen Tag angeheuert und bin in jedem Laden gewesen, den ich finden konnte. Die besten Sachen habe ich so mitgenommen, der Rest wird morgen geliefert.“

„Geliefert?! Was denn alles?“

„Wirst du dann sehen“ grinste er zufrieden. „Und dann habe ich diese traumhafte Maschine gesehen und musste sie nach der Probefahrt einfach mitnehmen. Ich wollte eigentlich was in rot oder grün haben, aber schwarz ist auch okay. Zumal die Form mir perfekt passt.“

„Ist die nicht etwas groß für dich?“ Yugi traute diesen Dingern einfach nicht. Yami fuhr eigentlich lieber kleine, schnelle Maschinen und das dort hinten war ein Riese.

„Eigentlich schon, aber sie ist perfekt. Danach bin ich was essen gegangen und weil ich so gute Laune hatte, habe ich alle Leute eingeladen, die da waren.“ Dann war es auch kein Wunder, dass die Karte tot war. „Zum Schluss war ich noch im Swingerclub und jetzt will ich nur noch in der Sonne liegen und irgendwas mit Schirmchen trinken.“

„Und?“ lächelte Narla ihn an. „Nette Bekanntschaft gemacht bei den Swingern?“

„Nicht direkt. Da hat jeder ne Maske getragen. Heute war Blind Date das Thema. Die haben jede Woche ein anderes Thema“ erklärte er freimütig. „Aber da waren ein paar sehr hübsche Menschen und die waren sehr nett zu mir. Ich habe mir ne Kundenkarte machen lassen. Ab zehn Besuchen gibt’s ein Mal gratis. Also wenn du auch mal willst.“

„Ich?“ Narla? „Ati, ich bin minderjährig.“

„Ach ja, habe ich vergessen“ lachte er, aber das tat seiner Fröhlichkeit keinen Abbruch. „Dann weiß ich ja, was wir zu deinem 21. Geburtstag machen.“

„ … “

„Also, ich finde die Idee nicht so gut“ mischte Joey sich entschieden ein. „Narla und ich feiern allein, wenn sie volljährig wird. Da brauchen wir keine fremden Männer mit Masken!“

„Aber vielleicht Frauen.“ Auf diesen Satz hin blickte Joey sie an wie ein Auto. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? „Ja, ehrlich“ betonte sie mit verstecktem Grinsen. „Du bist zwar ein guter Liebhaber, aber vielleicht haben Frauen mir ja auch etwas zu bieten. Ich meine du sagst selbst, dass ich manchmal zu jungenhaft bin und wenn ich volljährig werde, will ich vielleicht auch mal etwas mehr ausprobieren.“

„Was soll das denn heißen?“

„Joseph, mein Bärchen“ lächelte sie herzallerliebst. „Sei doch nicht so verklemmt. Du darfst uns auch zusehen.“

Jetzt konnte er gar nichts mehr sagen. Seine Gesichtsfarbe glich einem Feuerlöscher und sein Ausdruck sagte, dass er noch unschlüssig war, ob er nun sauer oder verzweifelt sein sollte oder einfach schreiend wegrennen. „Du … verarscht mich.“

„Nein, warum sollte ich? Überleg doch mal, mein Vater mag’s auch gern wild. Warum sollte ich da anders sein?“

„Aber … aber du bist doch meine … aber …“

„Aber was? Hm?“ Sie legte ihm die Hand aufs Knie und wenn er nicht so blond wäre, hätte er den Braten schon gerochen. Selbst seine Freunde glucksten bereits, aber er nahm Narlas Eskapaden für bare Münze. „Was hast du, Bärchen? Schockt dich das so sehr?“

„Ich … ich … oh je …“ Er legte sich die Hand an die Stirn, aber da konnten die Ersten nicht mehr an sich halten und lachten schallend heraus. „OH NARLA!“ Bis auch der Blondeste unter ihnen es endlich checkte.
 

Chapter 3
 

„Und du sag noch mal, dass Autofahren blöde ist.“ Denn es regnete in Strömen und Yugi hatte nicht grundlos darauf bestanden, dass er Yami mit dem Wagen fuhr und nicht Yami ihn mit dem neuen Motorrad.

„Ach, durch die Lederklamottis kommt nichts durch.“

„Du findest auch immer Widerworte.“

„Wenn’s dir zu nass ist, hättest du auch bei Tato im Auto bleiben können.“

„Mit dem ist auch nichts weiter anzufangen. Der liest doch.“ Er hatte darauf bestanden, die beiden zu begleiten. Beide Pharaonen gemeinsam unbeaufsichtigt zu lassen, war derzeit keine gute Idee. Aber wenn Gefahr drohte, spürte er das auch, wenn er gemütlich im warmen und vor allem trockenen Auto seinen Wälzer zu Ende brachte. Außerdem hatte er Sichtkontakt zum Haus.

Obwohl sie direkt an der Straße parken konnten und Regenschirme dabei hatten, waren sie auf dem kurzen Fußweg dennoch recht feucht geworden. Gestern war es noch brütend heiß gewesen und heute überzog sie eine Gewitterfront. Doch Yami hatte sich in den Kopf gesetzt, heute noch mal mit Finn zu sprechen. Die Sache mit dem Abschiedsbrief konnte er nicht unkommentiert hinnehmen. Was genau er eigentlich von ihm wollte, wusste er selbst noch nicht. Aber er wollte den Kontakt nicht aufgeben. Sich von Finn fernzuhalten, kam gar nicht in Frage - dafür hing er zu sehr an ihm und eine solche Trennung, kratzte außerdem an seinem Stolz als Liebhaber. Und obendrein, Yamis neues altes Ich bestand darauf, immer das zu bekommen, was es wollte. Er wollte sich nicht mehr anderen zuliebe zurückhalten. Das entsprach nicht seinem Charakter. Er hatte Seth verloren, weil er sich selbst untreu geworden war. Jetzt wollte er nicht auch noch Finn verlieren.

Sie retteten sich unter den Dachvorsprung und klappten die windverbogenen Schirme zusammen. Yami drückte die Klingel und lächelte Yugi an.

„Du hast einen Tropfen auf der Nase.“

„Viel schlimmer sind meine nassen Schuhe.“ Yugi wischte sich über die Nase, damit war wenigstens die trocken.

„Ich sage doch: Tragt Leder, Leute.“

„Seto mag kein Leder.“ Er war eben nicht nur Vegetarier, sondern hatte auch sämtliche Ledersachen aus seinem Besitz verbannt. Kunstleder tat es ja auch. Und Yugi machte eben alles mit.

„Ach, früher haben wir nur Leder getragen“ meinte er und lehnte sich an die Wand, blickte ihn liebevoll an. „Wenn wir schon Tiere töten, dann sollten wir auch alles von ihnen verwerten. Der Mensch ist eben ein Raubtier, das ist die Natur.“

„Diskutiere das lieber mit Seto“ seufzte er und strich sich das feuchte Haar zurück. Der Regen kam trotz Schirm mithilfe des Windes überall hin. „Ich bin ja deiner Meinung, aber Seto denkt da moderner. Er meint, wenn die Wissenschaft es möglich macht, müssen keine Tiere mehr getötet werden. Das kann ich irgendwo auch nachvollziehen.“

„Du musst dich ja nicht zwischen unseren Meinungen entscheiden“ meinte er. „Aber nur weil Seto so denkt, muss ich ja nicht auch so denken. Ich finde, dass die natürlich gewachsenen Rohstoffe noch immer die qualitativ besten sind. Was nicht heißt, dass alles andere schlecht ist. Aber wenn man eine Wahl hat, sollte man sie auch treffen.“

„Und ich habe die Wahl getroffen, dass ich keine Wahl treffe. Aber mal was anderes, Yami, hast du uns überhaupt angemeldet?“

„Nein, habe ich nicht. Warum?“

„Es macht keiner auf.“ Er wies auf die Tür, denn trotz der betätigten Klingel öffnete sie sich nicht. „Vielleicht ist Finn ja gar nicht zuhause.“

„Quatsch, da brennt doch Licht im Wohnzimmer.“ Und Finn war Stromsparer. Der ließ das Licht nicht grundlos brennen. Also klingelte Yami noch mal und klopfte zusätzlich. „Yugischatz, wenn er nicht aufmacht, steigen wir durchs Fenster ein.“

„Hast du die schwarzen Masken und die Jutesäcke mit?“

„Ich sagte einsteigen, nicht ausrauben“ grinste er neckisch. „Das machen wir erst, wenn’s dunkel ist.“

„Ich dachte, wir machen andere Sachen, wenn’s dunkel ist.“

„Nee, die mache ich lieber mit Licht“ zwinkerte er ihm zu. „Hast Druck, was?“

„Na ja, Seto ist jetzt schon sechs Wochen weg.“

„Also, ich hatte zwar genug Sex gestern, aber für dich reicht’s noch. Oder willst du nicht doch mal mit in den Club? Die Leute sind echt nett und ab zehn Besuchen kriege ich einen geschenkt.“

„Ich halte immer noch viel von sexueller Treue. Ich kann nicht an Sex denken, während so viel los ist und Seto irgendwo … ich weiß ja nicht mal, was er genau tut.“

„Wir bringen uns bald auf andere Gedanken. Irgendwie fehlen mir die Schäferstündchen mit dir auch. Also die nächste freie und ruhige Nacht gehört uns, okay?“

„Das hört sich doch gut an.“ Auch wenn es ganz natürlich war, dass Yugi bei Setos langer Abwesenheit gewisse Bedürfnisse aufbaute, so hatte er dennoch ein schlechtes Gewissen, an so etwas zu denken. Es war so viel los und er musste sich um so viele Dinge einen Kopf machen - da musste das Liebesleben eben hintenan stehen. Zumal Sex ohne Seto auch nicht wirklich das war, was er sich wünschte. Er wollte eigentlich nur Seto und nur ihn allein. „Aber Yami“ hakte er dennoch leise nach. „Ganz ehrlich … geht es dir wirklich so gut oder verdrängst du, was passiert ist?“

„Nein, ich verdränge nichts“ antwortete er und blickte die geschlossene Tür an. „Ich habe nur beschlossen, dass ich mich nicht mehr verbiegen lasse. Ich habe mich selbst zu lang zurückgenommen. Ich habe mich nicht mehr durchgesetzt. Wenn ich zu meinem alten Ich zurückfinde, dann findet die Welt mich vielleicht auch wieder.“

„Dennoch … das mit Seth …“

„Seth ist nicht mehr der Mann, in den ich mich verliebt habe. Mein Herz tut weh, der Schmerz ist fast übermächtig. Aber ich darf mich davon nicht lähmen lassen. Wenn ich mich von Seth fertig machen lasse, dann habe ich nicht nur gegen ihn verloren, sondern habe auch ihn verloren. Er hat sich selbst in dieser Zeit verloren, ebenso wie ich mich in dieser Zeit verloren habe. Wenn ich mich aber wiederfinde, wer weiß? Vielleicht kann ich ihm dann helfen. Und vielleicht komme ich dann dann bewusst besser mit dieser Zeit klar und Seth muss nicht mehr diese unterdrückte Sehnsucht in mir befriedigen wollen.“

„Unterdrückte Sehnsucht?“

„Ich habe Heimweh“ gab er leise zu. „Das habe ich die letzten Jahre verdrängt, aber jetzt bin ich mir darüber bewusst. Dass Seth so handelt, ist zum Teil auch meine Schuld. Aber eben nur zum Teil. Meinen Teil kann ich sühnen und korrigieren. Aber das kann ich nur, wenn ich mir meiner eigenen Wünsche bewusst bin. Deshalb werde ich in Zukunft mehr auf mich achten und auf das, was mir wichtig ist. Wenn ich Seth über mich stelle, entspricht das nicht der Konstellation wie sie sein sollte. Das weiß ich jetzt und jetzt kriege ich die Kurve, egal wie.“

„Dann muss ich mich nicht um dich sorgen?“

„Nein, müssen tust du das nicht.“ Er drehte sich zu ihm herum und schloss ihn in den Arm, ganz fest. „Aber es tut gut, dass du da bist und dir Sorgen machst. Wenn ich weiß, dass du da bist und aufpasst, kann ich viel freier denken. Danke, Yugi. Danke, dass du immer zu mir stehst. Auch dann wenn ich scheiße drauf und dran bin.“

„Ich kann gar nicht anders“ antwortete er und küsste ihn sanft auf die Lippen, blickte ihm dann in die Augen und strich über sein Kinn. „Die Kosmetikerin hatte Recht. Der Kajal gibt dir einen viel intensiveren Blick. Und du siehst nicht mal schwul aus.“

„Ein bisschen muss ich meine Wurzeln ja behalten“ tat er das ab. „Bitte mach dir um mich keine Gedanken. Wenn es mir schlecht ginge, würdest du das zuerst merken. Aber ich fühle mich befreit. Jetzt, wo ich die Verantwortung für Seths Taten abgelegt habe, kann ich eigene Pläne schmieden.“

„Und die wären?“

„Ich weihe dich ein, sobald ich welche habe.“ Er wusste noch nicht, was er tun wollte. Aber er wusste, dass ihm etwas einfallen würde, wenn seine Gedanken einfach schon mal vorausliefen. Er brauchte Gedanken, keine Bedenken. „So, und jetzt will ich da rein. Finn, du Feigling!“ Er drehte sich um, klingelte und hämmerte an die Tür. „Ich weiß, dass du da bist! Beweg deinen schicken Arsch zur Tür! Los jetzt! Mach auf! Ich hasse es, wenn man mich warten lässt! Mach auf! HAAAALLOOOOO! AUFMACHEN! SOFORT! HERR IVARSSON! TÜR AUF! DU HAST BESUUUUUCH!“

Endlich bewegte sich ein Schatten hinter der huggeligen Glastür und ein Schlüssel klimperte von drinnen. Yamis Geschrei hatte also tatsächlich Effekt. Das mit dem Durchsetzen funktionierte.

Als die Tür aber aufging, stand da nicht Finn, sondern jemand anderes. Zuerst fiel einem das narbige Gesicht auf. Die Oberlippe war längs durchtrennt und ein wenig schief zusammengewachsen. Ein Nasenflügel war auch verzogen. Unmenschlich entstellt war das Gesicht nicht, nur auffällig vernarbt. Aber die hellblauen Augen wirkten durchdringend, streng und allwissend. Als würden sie alles durchblicken, alles wissen, alles kennen. Übernatürliche, wunderschöne, unheimliche Augen. Danach fiel ihm das lange, graue Haar auf, welches glänzend über die Schultern fiel. Aschgrau, obwohl diese Frau offensichtlich jung war. Sie war etwas größer als Yami, aber in etwa so muskulös. Sportlich und durchtrainiert. Sie trug einen dunkelroten Herrenjogginganzug und dunkelblaue Socken aus fester Wolle. Ihre eine Hand hielt einen Hähnchenschenkel fest, die andere die Tür. Sie hatten Finn erwartet und fanden solch eine merkwürdige Frau.

Sie blickte Yami an, er blickte sie an. Beide schienen sich unsicher, aber dann zogen sich ihre Mundwinkel nach oben und ihre mysteriösen Augen bekamen ein helles Strahlen.

„Atemu!“ Ihre Stimme war hell und freundlich, sehr weiblich. Viel sinnlicher als man es ihr zugemutet hätte.

„Loki?“ fragte er überrascht.

„Pharao! Ich hätte dich fast nicht erkannt! Was machst du denn hier?“

„Mir einen Wolf klingeln.“

„Das Wortspiel kannte ich noch nicht“ lachte sie und trat einen Schritt zurück, duckte sich in merkwürdiger Art. „Ich freue mich, dich zu sehen.“

Aber er breitete seine Arme aus und lächelte sie lieb an. „Dann begrüße mich doch, Süße.“

„Atemu!“ Das tat sie auch. Sie fiel ihm in den Arm und kuschelte sich an ihn. Ebenso wie er sie fest drückte. Nur merkwürdig, dass sie dabei noch immer einen fettigen Hähnchenschenkel festhielt. Nach einem tiefen Seufzen öffnete sie die Augen und sah über Yamis Schulter Yugi an. Misstrauisch, vielleicht sogar ein Stück drohend.

„Hi“ lächelte er und hob friedvoll die Hand. Sie sah aus als wolle sie ihn jeden Moment auffressen.

„Das ist mein Yugi“ erklärte Yami und ließ sie los, um ihn vorzustellen. „Yugi, das ist Loki. Finns ältere Schwester.“

„Ach, das ist der andere Pharao“ bemerkte sie und verbeugte sich schnell. „Bitte entschuldigt, ich hatte Euch nicht erwartet und auch irgendwie größer in Erinnerung.“

„Aha.“ Na super. Nur vor dem Krankenhaus hätten sie sich ein Mal kurz sehen können, aber schon da hatte sie mehr Augen für Yami gehabt. Und da sie ihm damals nur bis zum Oberschenkel ging, hatte sie ihn natürlich größer in Erinnerung.

„Können wir reinkommen, Schatz?“

„Klar, wenn ihr wollt.“ Sie trat zurück und ließ die beiden herein, schmiss die Tür krachend hinter ihnen zu.

„Loki, warum machst du denn nicht auf, wenn man klingelt?“ Er könnte jetzt noch da draußen stehen, wenn er nicht so ein Theater gemacht hätte.

„Keinen Bock auf Besuch“ antwortete sie und biss in ihren angenagten Hähnchenschenkel. „Wuschte ja nisch, dasch du dasch bischd.“

„Schmeckt’s?“

„Hm. Wolld ihr au?“ Sie ging ins Wohnzimmer, aber da Yami Finn und dessen Reinlichkeitsfimmel zu gut kannte, zog er sich die Schuhe aus, bevor er ihr folgte und Yugi tat es ebenso. Drinnen angekommen, legten sie ihre Jacken über das Sofa und fanden ein wahres Chaos vor. Auf dem Tisch lagen Unmengen von Fressalien in aufgerissenen Packungen inmitten von einem Berg Hähnchenschenkeln und Chickenwings gemischt mit Bratwürsten. Da war diverser Aufschnitt über Schinken und Leberwurst bis hin zu mehreren Käsesorten wie Gouda und Camembert. Chips und Erdnüsse waren in verschiedenen Sorten vorhanden und nur die Eispackung war leer gefuttert. Mit der vielen Cola und dem Wein sah es aus wie nach einer Party.

„Was ist das denn?“ lachte Yami. Ihm gefiel der Anblick, während sich bei Yugi alles umdrehte.

„Meine Freizeitgestaltung, wenn Finni nicht hinguckt“ antwortete sie und griff nach einer Scheibe Salami, welche sie geschickt zusammenrollte, bevor sie in ihrem Mund landete. „Schetscht eu, ihr griegt waschab.“

„Das lasse ich mir nicht zweimal sagen!“ Yami stieg gleich drauf ein, nahm das Nougatglas und eine Bratwurst und setzte sich zu ihr auf die Couch.

Yugi hingegen nahm den Sessel und damit Abstand von dieser Völlerei mit kombinierter Magenverstimmung.

„Ich wusste gar nicht, dass du so viel Geschmack beim Essen hast“ lobte Yami und schob sich die kalte Wurst rein.

„Als Mensch kann ich problemlos alles essen. Hab einen Magen aus Stahl“ erzählte sie und nahm die Colaflasche.

„Stimmt, ich habe dich noch nie als Menschen gesehen. Wie lange bist du noch so?“

„Noch ein oder zwei Tage. Wenn sich die Wolken verziehen etwas länger. Neumond ist voll mein Ding. Ich liebe es, Mensch zu sein.“

„Wegen des Essens?“

„Nein, Cola. Ich liebe Cola, aber Finn rückt sie nicht raus, weil ich mich sonst übergebe. Als Tier vertrage ich Zucker nicht so gut. Aber bei Neumond komme ich an den Schlüssel für die Vorratskammer ran und mein Bruder denkt sich nur leichte Verstecke aus.“

„Schlaues Mädchen.“ Er biss noch mal von der Bratwurst ab und blickte Yugi an. Aber der schüttelte nur den Kopf und lehnte sich in den Sessel zurück. Die ganze Fresserei war ihm unheimlich. „Du, Lokischatz, sag mal … wo ist denn Finn?“

„Einkaufen mit Herbert.“

„Herbert?“

„Nachbar“ zeigte sie nach hinten. „Wir haben doch kein Auto. Und Schokolade hatten wir auch nicht mehr, also musste er einkaufen gehen.“

„Mit Herbert.“

„Jupp, mit Herbert“ erwiderte sie zwischen zwei Schlucken. „Er nimmt Finn mit in die Stadt und der schleppt ihm die Getränkekisten. Herbert hat Rücken.“

„Du gehst nicht gern in die Stadt, oder?“

„Nicht wirklich. Als Wolf kleben mir die Haushunde am Arsch und als Mensch gucken mich alle blöd an. Da habe ich hier mehr Spaß. Und solange Finni weg ist, kann ich machen, was ich will.“

„Ist nicht einfach du zu sein, oder?“

„Ich kenne es ja nicht anders. Kann’s mir auch nicht anders vorstellen.“ Finn hatte nicht gelogen, sie hatte es härter erwischt. Er selbst trug nur Narben, die man verdecken konnte, aber ihre waren mitten im Gesicht und vermutlich noch mehr am Körper. Der Zirkel hatte seine Zeichen auf ihr hinterlassen. Und so gezeichnet zwischen die Menschen zu gehen, brachte sicher noch mehr Leid mit sich als in Wolfgestalt die verzogenen Stadthunde anzuknurren und bei seinem Bruder an der Leine geführt zu werden. Deshalb war Finn so unsagbar lieb und geduldig zu ihr, er fühlte sich in der Pflicht, ihr etwas von dem zu geben, was für ihn selbstverständlich war.

„Hast du denn keine Freunde, Loki?“

„Mir geht’s gut, Pharao. Ehrlich“ betonte sie und zog mit ihren schiefen Lippen ein Lächeln. „Mir fehlt nichts.“

„Wirklich nicht? Bist du nicht ein bisschen einsam?“

„Guck mich doch mal an. Welcher Mann würde schon mit mir ausgehen? Ich sehe aus wie Quasimodos Braut und Manieren habe ich auch nicht. Aber noch weniger Lust habe ich, mich zu verstellen.“

„Bist halt ein Wolf. Aber ich finde dich spontan klasse. Du bist voll nach meinem Geschmack.“

„Du bist ja auch nicht normal“ tat sie das ab. „Nein, mir geht’s echt gut. Mir fehlt nichts. Ich bin gern allein und Hunde mag ich eh nicht. Und Menschen noch weniger.“

„Weil sie dir weh getan haben?“ Sie blickte ihn an, ihre hellblauen Augen wurden leer, bevor sie fortblickte und einen kräftigen Schluck Cola nahm. „Entschuldige, das war etwas direkt, oder?“

„Finn hat dir doch erzählt, dass wir nichts von früher wissen. Ich weiß nicht warum es so ist, aber ich mag einfach keine Menschen. Bis auf ein paar. Toni mag ich zum Beispiel sehr. Oder seine Schwester Antonella. Aber so im Allgemeinen bin ich schnell genervt. Menschen wollen sich immer gleich binden und hauen bei den ersten Schwierigkeiten ab. Habe ich doch bei Finns Weibern gesehen. Ich habe da keinen Bock drauf. Da bleibe ich lieber gleich allein. Für dich vielleicht komisch, aber ich finde mein Leben okay. Bei Wölfen gibt’s auch Einzelgänger und mein Bruder ist mir Gesellschaft genug.“

„Wenn du dich so wohlfühlst, ist es natürlich in Ordnung. Ich wollte dir jetzt keine doofen Fragen stellen oder sonstwas.“

„Du erforschst gern das Leben von anderen Leuten, was?“ Jetzt schmunzelte sie ihn an, neckte ihn mit ihrem hellen Blick.

„Ich interessiere mich sehr für Menschen und ihre Geschichten“ bestätigte er und kaute auf Nutellawurst herum. „Und ich freue mich sehr, dich jetzt auch mal als Menschen zu sehen.“

„Und? Bin ich so wie du gedacht hast?“

„Nein, überhaupt nicht“ schmunzelte auch er. „Du bist viel cooler.“

„Inwiefern?“

„Du siehst so locker aus. Ist das Finns Jogginganzug?“

„Ja. Ich mag seinen Geruch. Und deswegen findest du mich cool? Weil ich die Klamotten meines Bruders trage?“

„Ja, nicht nur. Du redest frei raus und hast dieselbe Fresslust wie ich. Außerdem hast du hübsche Brüste.“

Yugi verschluckte sich an diesem Satz, aber Loki brachte das zum Lachen. „Willste mal anfassen?“

„Wenn du mich lässt.“

„Nö“ grinste sie frech. „Erst musst du mit mir ausgehen, dann darfst du vielleicht mal anfassen.“

„Ich denke, du gehst nicht gern aus.“

„Bei dir würde ich eine Ausnahme machen.“ Und schon hatte er sie angesteckt. Yugi war soeben Zeuge von Yamis uraltem Charme geworden. Er redete genau so, dass sie ihn verstand und lockte sie aus ihrem Schneckenhaus. Wenn er eines konnte, dann Menschen einschätzen und für sich gewinnen. Und das funktionierte sogar bei Einsiedlern wie der gequälten Loki. Er musste nur einfach er selbst sein.

„Super, dann haben wir nächsten Neumond ein Date?“ unterstellte er einfach mal.

„Du holst mich um acht Uhr ab“ nickte sie und griff nach einer neuen Scheibe herzhafter Salami. „Aber sag mir vorher, was du vorhast. Nur damit ich mich entsprechend anziehe.“

„Nein, wir machen es andersrum. Du sagst mir, was du anziehen willst und ich überlege mir …“ Er wurde von der Klingel unterbrochen. Es klingelte nicht nur ein Mal, nicht zwei Mal, sondern gleich drei Mal hintereinander. Aber Loki interessierte sich nicht weiter dafür. Ihr Ziel bestand darin, noch heute die Salamipackung leer zu machen. „Willst du nicht aufmachen?“

Da klingelte es schon wieder, nur ein Mal und es klopfte. Na ja, ein Klopfen war es nicht. Es hörte sich eher danach an als würde jemand leicht gegen die Tür treten.

„Nö“ schmatzte Loki und guckte die Tür nicht mal an.

„Klingt aber als würde da jemand dringend reinwollen.“

„Das ist klein Finn“ erklärte sie und tunkte die Salami in den Senf. „Drei Mal klingeln ist Familienklingeln.“

„Machst du ihm nicht auf?“

„Hat doch einen Schlüssel.“ Ja ja, das war Geschwisterliebe.

„Dann mache ich auf. Das kann man ja nicht mit anhören“ meinte Yugi, aber wurde von Yami zurück gewunken, denn der stand selbst auf.

Mit eiligen Schritten war er an der Tür, wo auch bereits ein Schlüsselbund klirrte und ein Kratzen an der Tür ertönte. Als Yami aufmachte, sah er Finn nicht mal, sondern nur eine riesige Packung mit einer Carrera-Bahn, die er auf dem Knie und an der Stirn balancierte, während er in der einen Hand drei volle Plastiktüten und seinen Schlüssel hielt, in der anderen zwei Getränkekisten. Und er stand da wie der Turm zu Babylon, der jeden Moment unter seiner eigenen Last zusammenfiel.

„Was hast du getrieben so lange? Ich bin pitschenass.“ Er quetschte die Autobahn zwischen seine eh schon vollen Arme, drückte sich schwer beladen nun seitwärts durch die Tür, sodass Yami nur sprachlos rückwärts gehen konnte. Noch bevor er ganz drinnen war, schlüpfte der Hausherr aus den dreckigen Schuhen und drängelte sich weiter ins Wohnzimmer. „Wärst du wohl so gütig und nimmst mir mal was ab?“

„Warum?“ fragte sie von der Couch aus.

„Damit ich wenigstens was sehen kann! Der Großteil von dem, was ich schleppe, ist für dich, Sissi.“ Doch eine Antwort durfte er nicht wirklich erwarten. Dafür nahm Yami ihm zumindest den riesigen Karton mit dem elektrischen Spielzeug ab und stellte ihn an den Rand. Finn schob die Getränkekisten mit dem Fuß an die Seite und schniefte. Er war ohne Regenschirm so richtig übel nass geworden. Doch das war auch nicht mehr wichtig als er sich wieder aufrichtete und Yami erblickte. Er zwinkerte und man sah ihm seine Überraschung ins Gesicht gemalt wie Picasso es nicht besser hätte schaffen können.

„Seit wann spielst du mit elektrischen Autos?“ lächelte er ihn fröhlich an.

„Ist nicht für mich“ antwortete er überrumpelt.

„So? Für wen denn dann?“

„Für den Nachbarsjungen zum Geburtstag. Ist etwas groß, um es bei seinen Eltern zu verstecken. Was machst du hier?“

„Dich unheimlich niedlich finden.“ Finn war einfach zu süß so verplant wie er guckte. Da hätte sich selbst Seto als Verplanung in Übergröße noch ein Beispiel dran nehmen können. „Loki hat uns reingelassen“ erklärte er als nichts weiter kam.

„Ach so. Na gut.“ Er war zu höflich, um etwas anderes zu tun oder zu sagen. Erst mal stellte er die Tüten auf den Tisch und zog sich die nasse Jacke aus. Da diese aber aus Stoff war, blieb er darunter nicht wesentlich trockener. Und Yami konnte nicht anders als auf schlimme Gedanken zu kommen. Das nasse Shirt klebte an diesem wunderbaren Oberkörper. Schade, dass es rot war und nicht weiß - oder entsprechend transparent. „Guten Tag, Yugi“ grüßte er höflich als er den auf dem Sessel sitzen sah.

„Hallo Finnvid“ lächelte der zurück und stand kurz auf, als Finn ihm entgegenkam und die Hand hinhielt. „Entschuldige bitte, dass wir uns nicht vorher angekündigt haben.“

„Nein, kein Problem. Ich freue mich über Besuch.“ Was eigentlich nicht stimmte, er bekam ungern Besuch in seinem Privathaus. Er drehte sich herum und legte Loki im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter. „Alles okay bei dir?“

„Hm“ nickte sie, aber kaute beharrlich weiter.

„Musstest du gleich den ganzen Kühlschrank ausräumen?“

„Hm.“

Ein Wunder, dass er so lieb zu ihr war, obwohl sie ihn behandelte wie ihren persönlichen Diener. Aber er schien ihr das nicht mal übel zu nehmen. Sie moserte ihn an, dafür dampfte er ein bisschen vor sich hin, alles super.

„Na ja, kann ich …“ Er rieb sich die klammen Hände und blickte zwischen Yami und Yugi hin und her. „Kann ich irgendwas für euch tun, oder …?“

„Was oder?“ fragte Yami ernst nach. „Ich wollte gern noch mal mit dir sprechen.“

„Das … ähm … das passt gerade etwas schlecht. Ich muss noch mal … rüber zum Nachbarn. Ihm helfen bei … Reparaturen und so was.“

„Red keinen Scheiß“ schmatzte seine große Schwester von hinten. „Wenn du lügst merkt das ein Blinder mit nem tauben Hund, selbst wenn beide geisteskrank sind.“

„Das überlass mal mir, ja?“

„Wenn du den Pharao anlügen willst, bitte sehr.“ Sie wusste wie sie ihn traf. Er war dem Pharao treu ergeben, verehrte ihn geradezu. Und ihn anzulügen, fiel ihm wahrscheinlich schwerer als Yami es fiel, diese Lüge zu bemerken. „Wenn du die Einkäufe weggeräumt hast, solltest du dich umziehen. Du hast schon ne Gänsehaut, Kleiner.“

„Hast du den Pharaonen wenigstens etwas angeboten?“

„Atemu ist schon beim Essen. Pharao Yugi wollte nicht.“

„Ich meine, hast du ihnen etwas anständiges angeboten? Hast du Kaffee aufgesetzt oder Tee gemacht?“

„Danke, uns geht es bestens“ beruhigte Yugi mit sanfter Stimme. „Geh dich doch erst mal umziehen, bevor du dich erkältest.“

„Bitte sag es, wenn du etwas brauchst“ bat er noch mal nachdrücklich.

„Es ist alles prima, Finnvid. Danke schön. Loki war sehr nett zu uns.“

„Na gut, dann …“ Dann würde er gern erst mal auf eine einsame Insel reisen und sich von Kokosnüssen ernähren. „Dann gehe ich mich schnell umziehen.“

Er senkte den Blick und ging geduckt an Yami vorbei. Er konnte ihm einfach nicht in die Augen sehen.

„FINN!“ rief Loki, bevor er noch ganz auf der Treppe war. „Mach Feuer im Kamin!“

„Gleich.“

„Mir ist kalt!“

„Dann dreh die Heizung an.“ Er wollte jetzt nicht zurücklaufen, nur schnell die Treppe hoch und sich fangen.

„Nein, ich will dem Kamin zuhören! Mach ihn an!“

„Nimm den Grillanzünder oder warte auf mich! Du machst mich fertig.“ Er war schon oben und wollte eigentlich nur weg und jetzt nicht ihren Butler mimen.

„Finnvid Rominter! Deiner großen Schwester ist kalt! Mach den Kamin an!“ Und sie wollte nun mal ein gemütliches Nachmittagsfeeling.

So sehr er es auch versuchte, er würde sich so bald nicht gegen sie behaupten können. Also zischte es im Kamin, es rauchte, mit einem Pochen brannten die Holzscheite darin und sie hatte wieder einmal ihren Willen bekommen.

„GEHT DOCH!“ Das Worte danke kannte sie auch nicht. Seine Antwort war eine leise zugehende Tür und sie konnte sich wieder ihrer Antidiät-Kampagne widmen.

„Er kann Feuer machen ohne richtig hinzusehen“ würdigte Yugi erstaunt diese scheinbar leichte Aktion. „Wow.“

„Die einen Sachen fallen ihm leicht, andere eben nicht“ erwiderte sie und betrachtete mitleidig die Chipstüte. Auch wenn sie diese wohl nicht meinte. „Eure Anwesenheit bringt ihn ziemlich aus dem Konzept.“

„Hat er was gesagt?“ fragte Yami vorsichtig nach. Er war noch nicht ganz dahinter gestiegen wie eng das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden in Bezug auf solche Dinge war. Und er wollte auch nichts ausplappern, was ihm vielleicht unangenehm wäre.

„Nein. Das braucht er nicht“ antwortete sie und sah aus dem Fenster. „Ich weiß was da zwischen euch gelaufen ist. In dieser Vollmondnacht.“

„Oh.“ Also wusste sie mehr als sie durchscheinen ließ. „Aber gesagt hat er dir nichts, oder? Oder hat er mal was gesagt in Bezug auf mich?“

„Du willst nicht ernsthaft von mir wissen, was du tun sollst, oder?“ fragte sie und blickte ihn durchdringend an mit ihren hellblauen Augen.

„Das nicht. Aber du kennst ihn doch viel besser als ich. Wie kann ich ihm klarmachen, dass er keine Angst vor mir haben braucht?“

„Er hat keine Angst vor dir, sondern vor sich selbst“ erwiderte sie und faltete die Hände in ihrem Schoß. „Dass er sich in dich verliebt hat, habe ich geahnt, noch bevor er dich mit hierher brachte. Ich habe ihn noch niemals so gesehen. So träumerisch und so nachdenklich. Wärst du eine normale Frau, hätte er sich vielleicht schon an dich rangemacht. Aber du bist der Pharao und somit unantastbar. Davon abgesehen, bist du ein Mann und Finn ist wirklich nicht der Typ für solcherlei Neigungen.“

„Und deshalb hat er beschlossen, mich zu meiden? Nur weil ich der Pharao bin und zufällig auch noch männlich?“

„Nein, du weckst Gefühle in ihm, die er nicht haben möchte“ antwortete sie ihm sehr genau. „Finns erste Freundin, Belinda, war in einer festen Beziehung, aber er liebte sie trotzdem. Sie sagte ihm dann, sie habe sich freundschaftlich von dem anderen getrennt. Über ein Jahr lang waren sie zusammen bis er herausfand, dass sie sich niemals von ihrem anderen Freund getrennt hatte und er nur der Lückenfüller war, wenn sie sich einsam fühlte. Er wollte etwas Ernstes und sie hat ihn voll verarscht. Ich mochte sie nie, aber Finn hat sie geliebt. Letztlich hat er sie vor die Wahl gestellt und sie hat den anderen genommen. Das hat ihm das Herz gebrochen.“

„Aber ich bin nicht Belinda. Ich lüge ihm doch nichts vor. Er weiß doch von Seth!“ Das würde er niemals tun. In solchen Dingen spielte er immer mit offenen Karten. Finn wusste doch genau um Yamis derzeitige Partnerschaft.

„Aber Finn ist bisher mit jeder Liebschaft auf die Schnauze geflogen. Besonders mit Nancy. Die Tusse wollte er sogar heiraten und dass sie ihn wegen seiner Schlafwandelei hat sitzen lassen, hat ihn echt fertig gemacht. Er ist eh schon sehr introvertiert und dann kommst du. Dich auf diese Art zu lieben, grenzt an Gotteslästerung und davon abgesehen, weiß er wie hoffnungslos es ist. Du liebst doch deinen Priester mehr als alles andere. Ihr seid beide alte Seelen mit einer großen Vergangenheit. Und er ist nur ein kleiner Vorstadtmagier. Er kann da nur verlieren.“

„Seth ist nicht mehr mein Priester. Ich habe mich von ihm gelöst“ sagte Yami fast erbost. „Und nur weil ich Seth liebe, heißt das doch nicht, dass ich Finn nicht auch … dass Finn nicht trotzdem etwas Besonderes für mich sein kann.“

„Was sagst du das mir?“ fragte sie und sah ihn intensiv an. „Ich bin nicht derjenige, in den du dich verliebt hast. Wenn du mit Finn zusammensein willst, musst du Finn das sagen. Und nicht seiner großen Schwester.“ Sie kam sehr schnell auf den Punkt und das ebenso schonungslos. Aber Klartext war das, was Yami am liebsten hatte und wahrscheinlich auch das einzige, was hier noch half. „Also erwiderst du die Liebe meines Bruders jetzt oder nicht?“

„Ich … na ja …“ Wenn er das so genau wüsste, dann fiele ihm manches leichter. Aber wäre er denn hier, wenn Finn ihm nichts bedeuten würde? Er sah Yugi an, aber der seufzte nur leise. Er konnte ihm ja auch nicht vorsagen, was er fühlte. „Aber was wäre denn, wenn ich … wenn ich mich auch in Finn verliebt hätte?“

„Was dann wäre?“ fragte Yugi sanft. „Dann hast du dich verliebt. Auf so etwas hat man keinen Einfluss. Nur wie du damit umgehst, das musst du wissen.“

„Ich … wenn ich ihm fernbleiben könnte, dann … dann wäre ich ja nicht hier.“ Das wusste er, aber dann auch nicht mehr. Er war mal wieder ohne Plan gestartet …

„Yami, das musst du allein wissen“ musste Yugi ihn enttäuschen. „Was auch immer du machst, ich stehe hinter dir. Aber denk auch an Finn. Tue ihm nicht unnötig weh, nur weil du unentschlossen bist.“

„Ich hasse es, unentschlossen zu sein“ sagte er zu sich selbst und ballte unbewusst die Fäuste. „Vielleicht fühlt es sich nur deshalb anders an, weil Finn nicht Seth ist. Bisher habe ich nur Seth geliebt … aber Finn ist …“

„Finn ist nicht Seth.“

„Nein, das ist er nicht. Finn ist … anders.“ Und deshalb auch die Gefühle, welche er in ihm weckte. Er wusste bisher nur wie es sich anfühlte, einen einzigen Mann zu lieben. Aber jetzt eine neue Liebe zu spüren, eine andere … natürlich fühlte es sich anders an. Vielleicht war es auch dieses Gefühl, welches ihn stark machte. Hätte er sich jemals von Seth lossagen können, wenn er Finn nicht getroffen hätte? Mit Finn sah er wieder einen Sinn in dieser Welt, etwas Schönes, etwas was seinen Tag lebenswert machte. Mit Finn zusammen zu sein war so leicht, so prickelnd und so befriedigend. Wenn Finn da war, wirkten alle Probleme so belanglos. Finn machte ihn frei. Finn machte ihn zufrieden. Finn gab ihm das Gefühl von Leben. Und von Liebe.

Nach kurzem Zögern drehte er sich auf dem Absatz um und sprang die Treppe hinauf. Er wusste jetzt, dass er dieses Gefühl nicht aufgeben wollte. Er liebte ihn und er wollte mit ihm zusammensein. Ein Pharao kämpfte für das was er wollte und selten lohnte sich ein Kampf so sehr wie dieser hier. Er würde sich Finns Herz erkämpfen und es niemals wieder loslassen.
 

Der Kampf gegen die eigenen Triebe jedoch begann gleich an der Schlafzimmertür. Er ging direkt hinein und wäre fast zu spät gewesen. Finn nahm sich gerade eine frische Jeans aus dem Kleiderschrank, womit der Blick auf seinen knackigen Körper noch frei war. Schade dass er eine schwarze Short trug, aber sonst: „Lecker.“

„Ähm …“ Der Halbnackte lief rot an, schlug die Hose auf und schlüpfte schnell hinein.

„Sorry, ist mir rausgerutscht.“ Er wusste zwar, dass es Finn nicht unangenehm war, wenn man die langen Narben auf seinem Körper sah, aber es war ihm durchaus unangenehm, wenn man ihn halb nackt erwischte. Yami vergaß manchmal, dass nicht jeder so freizügig dachte.

„Ist unten was passiert?“ fragte er und knöpfte sich die Hose zu. An seinen Händen jedoch sah man wie nervös er war. Er kriegte die kleinen Metallknöpfe kaum durch die Löcher gefummelt.

„Nein, ich wollte allein mit dir sprechen.“ Yami setzte sich aufs Bett und sofort ereilten ihn schauerlich schöne Gedanken. In diesem Bett hatte er sich so gut gefühlt. So gut wie lang nicht mehr. Mit Finn zu schlafen, war so erfüllend, so zärtlich und so heiß. Und am nächsten Morgen fühlte er sich ruhig und gereinigt. Wenn Finn sich doch nur auch daran erinnern könnte.

„Der Wagen da draußen.“ Finn zeigte aus dem Fenster, an welchem die Regentropfen herabliefen. „Ist das eurer?“

„Der silberne Jeep?“

„Japp.“

„Das ist Yugis.“ Er musste nicht mal hinsehen, um zu wissen welches Auto gemeint war. Draußen auf der Straße stand ja nur das eine. „Warum? Stehen wir im Parkverbot?“

„Nein, da sitzt jemand drin.“

„Das ist nur Tato“ beruhigte er. „Er hatte keine Lust auf Regen und bleibt lieber im Wagen. Mit irgendeinem Buch für Oberschlaue.“

„Langweilt ihn das Warten nicht?“ Finn drehte sich herum und ging zurück zum Kleiderschrank. Schade, wahrscheinlich wollte er sich auch noch ein Shirt über diesen tollen Rücken ziehen. „Ihr könnt ihn doch hereinbitten.“

„Tato geht’s gut. Wenn er seine Ruhe hat und wir in der Nähe bleiben, kann er da noch stundenlang rumhängen. Drachen sind geduldige Viecher.“ Um Tato machte Yami sich weniger Sorgen als um Finn. Der musste doch ahnen weshalb er hier war, doch er suchte händeringend nach anderen Themen. „Und wie geht’s dir?“

„Bestens. Loki futtert mir die Haare vom Kopf, aber sonst.“

„Ach, dafür sieht deine Frisur doch noch ganz gut aus.“ Etwas sehr zerzaust zwar, aber das tat dem Glanz seines dunkelroten Haares keinen Abbruch.

„Sobald ich wieder trocken bin vielleicht.“ Er fuhr sich den nassen Pony aus dem Gesicht und zog sich zu Yamis Enttäuschung nicht mal ein Shirt, sondern gleich einen Wollpullover an. Er war zwar dünn genug, dass man seine Statur noch erkennen konnte, doch das meiste war nun verdeckt. Warum nur mussten Feuermagier sich ständig so warm einpacken? „Du hast dich aber auch verändert, Pharao.“

„Ah, es ist dir aufgefallen.“ Er lehnte sich gemütlich zurück und lächelte ihn an. Auch wenn Finn vorgab, irgendetwas im Schrank zu kramen.

„Ist ja schwer daran vorbei zu gucken.“

„Ich meine, weil du mich kaum ansiehst.“ Finn wich jedem Blick aus, egal wie direkt Yami ihn ansprach. Es war traurig.

„Tut mir leid.“ Er zögerte einen Moment, doch dann schloss er die Schranktür und begab sich zur Tür. „Ich muss die Einkäufe wegräumen und mich um Loki kümmern. Entschuldige, wenn ich etwas kurz angebunden bin.“

„Du kannst dir doch denken, warum ich hier bin. Warum weichst du mir aus?“

„Wir können später reden. Wenn ich weniger im Stress bin.“ Er wollte die Tür öffnen und unelegant fliehen, doch nicht mit dem alten Pharao.

Der erhob sich und hielt ihn, noch bevor er die Türklinke ganz hatte herunterdrücken können. Er schlang seine Arme um Finns Bauch, drückte sich an seinen Rücken und spürte den muskulösen Körper unter der Baumwolle. Finn war ganz warm, obwohl er durchgefroren war. „Verdammt, ich liebe Feuermagier.“

„Atemu, bitte.“ Finns Stimme wurde leise, zitterte ein wenig. „Lass mich los.“

„Nein, ich will nicht. Ich will dich spüren.“

„Ich muss runter zu Loki.“

„Loki ist bei Yugi gut aufgehoben. Jetzt bleib einfach mal hier.“ Und damit kehrte Stille ein. Finn erstarrte im Stand und hielt die Hand an der Klinke, während Yami die Arme um seinen Bauch geschlungen hielt und ihn nicht gehen ließ. Er wollte, dass er sich beruhigte und sich vielleicht endlich für ein klärendes Gespräch öffnete. Er spürte, wenn er Finn jetzt gehen ließ, dann würde er ihn kein zweites Mal einfangen.

„Hast du … meinen Brief gelesen?“ fragte er nachdem einige Momente vorbeigezogen waren.

„Das habe ich“ bestätigte Yami mit milder Stimme.

„Dann kannst du dir denken, dass … dass mich das hier … verletzt.“

„Nein, du hast mich verletzt“ sagte er im Gegenzug. „Denkst du, ich nehme es einfach so hin, dass du mich abschiebst?“

„Ich wollte dich nicht abschieben, aber ich …“

„Aber du was?“

„Du hast es doch gelesen. Atemu, lass mich bitte los.“

„Nur wenn du versprichst, dass wir miteinander reden. Und dass du nicht davonläufst.“

„Ich weiß nicht, was es da noch zu reden gibt. Ich … wollte dich nicht beleidigen, aber ich … Atemu, ich fühle mich sehr schlecht. Bitte lass mich.“

„Wenn du wegläufst, sobald ich dich loslasse, dann halte ich dich die nächsten Jahre so fest. Ich lasse mich von dir nicht einfach abschieben, nur weil du mit deinen Gefühlen nicht klarkommst.“

„Aber ich …“ Was sollte er ihm denn noch sagen? Er konnte sich nicht mit Gewalt losreißen, es war immerhin der Pharao, der ihn festhielt. Aber wenn er noch länger diese angenehme Umarmung fühlte, sprang sein Herz entzwei. „In Ordnung, wir reden. Aber bitte lass mich los.“

„Schade. Ich habe gehofft, du zierst dich noch eine Weile.“ Aber aufgrund seines Versprechens musste er loslassen. Er trat sogar einen Schritt zurück und da Finn sich noch immer nicht bewegte, setzte er sich aufs Bett zurück und wartete.

Dann erst konnte sein Opfer durchatmen und sich langsam umdrehen. Endlich trafen sich ihre Blicke, doch diesmal wurde ihm schwer im Herzen. Finns dunkelbraune Augen waren feucht und traurig, furchtsam. Er tat sich schwer mit Gefühlen und Yami wusste das. Es marterte ihn, dass er alles noch mal durchsprechen musste, was er doch so mutig zu Papier gebracht hatte.

„Entschuldige.“ Finn drehte sich weg und wischte sich schnell über die Augen, atmete tief ein.

„Was ist?“ fragte er gedämpft. „Was bringt dich so durcheinander?“

„Dein Blick. Du wirkst … stärker als vorher.“

„Ich bin stärker. Meine Augen sind jetzt offen für die Welt. Und auch offen für dich. Deshalb ist es mir sehr wichtig, dass wir beide noch mal miteinander sprechen.“

„Was willst du mir denn sagen?“ Finn blieb mit abgewandtem Kopf neben der Tür stehen, schien als wolle er jeden Moment fortlaufen. Auch wenn er das natürlich nicht tun würde, aber er wollte es.

„Komm erst mal her. Setz dich zu mir.“ Er streichelte den Platz neben sich und wartete einige Sekunden bis ihm endlich Folge geleistet wurde und Finn ließ sich bedächtig neben ihm auf der Tagesdecke nieder. Er schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme. Ganz klare Abwehrhaltung. „Finn, hör zu.“ Er fasste seine Hand und stellte fest, dass sie noch immer klamm war. Leicht feucht und viel zu kalt für ihn. Armer Finn. „Du hast dich in mich verliebt, ja?“

„Sieht so aus“ antwortete er, wobei seine Worte mehr ein Flüstern waren. „Es tut mir leid, Pharao. Das hätte mir nicht passieren dürfen.“

„Sich zu verlieben, ist doch keine Sünde. Es muss dir nicht leid tun.“

„Ich weiß, dass ich mich nicht immer gut im Griff habe, wenn es um so etwas geht. Deswegen wollte ich Abstand nehmen und … ich habe gehofft, du würdest das akzeptieren.“

„Das tue ich nicht wie du siehst.“ Er lächelte sachte, auch wenn das gar nicht gesehen wurde. Finn musste es in seiner Stimme hören. „Es ist doch nichts dabei. Ich fühle mich glücklich und geehrt, dass du mir diese Gefühle entgegenbringst.“

„Aber ich … ich weiß nicht … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Sag einfach was in deinem Kopf ist.“

„Das sagst du so leicht.“ Er musste noch mal tief atmen und genug Mut sammeln, um das hier durchzuziehen. „Ich wollte nicht, dass du mitbekommst, wie ich empfinde. Wärst du in jener Nacht nicht hier geblieben, hätte ich es vielleicht durchgehalten. Aber so … Atemu, es fällt mir sehr schwer, dir jetzt noch nahe zu sein.“

„Warum? Ist es weil ich der Pharao bin und du dich mir nicht ebenbürtig fühlst? Oder weil ich ein Mann bin und du unsere körperliche Nähe als schmutzig empfindest? Oder hast du einfach Angst, dass ich dir wehtue? Dass ich dich ablehne?“

„Es ist alles zusammen.“ Er zog seine Hand weg und stützte stattdessen seine Stirn hinein. „Atemu, ich bin verwirrt. Du bist der Pharao und ich dürfte dich eigentlich nicht mit meinen eigenen Problemen belasten. Abgesehen davon, habe ich niemals so für einen Mann gefühlt. Das ist doch nicht normal, einen anderen Mann so zu begehren.“

„Du hast Angst vor dem Schwulsein“ unterstellte Yami ruhig. „Das ist doch nichts schlimmes. Deine Sexualität bestimmt doch nicht dein Leben. Sex bereichert das Leben. Wenn du dich auf nur das weibliche Geschlecht beschränkst, halbierst du das Glück, dass dir zustehen kann.“

„Du kannst das vielleicht so bedenkenlos hinnehmen, aber für mich ist das alles andere als leicht“ sprach er und Yami hörte wie sich die Tränen in seiner Stimme sammelten. „Selbst wenn du kein Mann wärst, du liebst einen anderen. Du hast bereits einen Partner. Einen, dem ich niemals das Wasser reichen könnte.“

„Du glaubst, es ist sinnlos, weil ich Seth liebe?“

„Du wirst irgendwann fortgehen. Und dann werde ich dich wieder verlieren. Das halte ich nicht aus. Das habe ich doch alles schon geschrieben.“ Er verzweifelte langsam. Jetzt riss er schon an seinen Haaren. „Pharao, ich will jetzt bitte gehen.“

„Nein, so trenne ich mich nicht von dir.“ Er rutschte zu ihm auf und nahm erst mal seine fahrigen Hände herunter. Dann wischte er ihm übers Gesicht und entfernte die kleinen Tränen, die er nicht hatte zurückhalten können. Er legte seine Handflächen an die geröteten Wangen und zog seinen Kopf heran, schmiegte ihre Stirn aneinander. „Finn, hör zu. Du hast Recht, ich liebe Seth. Trotz allem was er tut, liebe ich ihn. Aber ich habe eingesehen, dass er nicht mehr derselbe Mensch ist. Der Seth, der uns bedroht, das ist nicht mein Seth. Das ist nicht der Mann, den ich liebe. Ich möchte hier auch gar nicht über Seth sprechen, sondern über uns. Über dich und mich. Denn auch ich habe Gefühle für dich.“

„Ich bin ein Nichts gegen ihn“ wisperte er geschlagen. „Ich kann niemals mehr sein als dein Gespiele und das ist mir nicht genug. Tut mir leid.“

„Nein, du bist mehr für mich als nur ein Abenteuer.“ Er wollte es ihm ganz ruhig klarmachen, aber insgeheim dachte er sich: >Alter, rede ich hier mit Seto oder was? Ich behaupte nie wieder, nur Yugi sucht sich gestörte Typen.< Aber er verstand, was Finn meinte. Ja, er wusste es nicht nur, sondern er konnte es wirklich auch verstehen. „Du glaubst, wenn wir uns zu sehr aneinander gewöhnen, dass du mich noch mehr lieben könntest. Und du glaubst, dass ich irgendwann mit Seth fortgehen werde und dich dabei zurücklasse. Richtig?“

Finn nickte und schluckte leise.

„Ich gebe dir mein Wort, dass das nicht passieren wird. Selbst wenn mein Wunsch in Erfüllung geht und ich mit Seth nochmals zusammenfinde, so werde ich dich darüber nicht vergessen. Dafür bedeutest du mir zu viel.“

„Aber nicht genug“ hauchte er verzweifelt und wollte den Kopf wegziehen. Nur Yami ließ ihn nicht. „Ich kann niemals das für dich sein, was er ist.“

„Nein, du wirst niemals das für mich sein, was Seth ist. Aber du wirst immer das für mich sein, was Finn ist.“ Jetzt erst ließ er ihm ein wenig Abstand, aber nur um seine Augen in einem festen Blick festzuhalten. „Finn, ich liebe dich. Nicht auf dieselbe Weise wie ich Seth liebe, aber ich liebe dich so wie ich dich liebe. Ich will mehr von dir als nur Sex und ein paar lustige Stunden vor dem Fernseher oder auf dem Motorrad. Ich will, dass wir zusammenbleiben. Mit dir will ich alt werden.“

„Und genau das wird nicht möglich sein.“ Er versuchte wegzublicken, doch wen Yami erst mit seinen Augen festhielt, der konnte sich dem nicht entziehen. „Du wirst wieder mit ihm zusammensein und mir das Herz brechen. Ich weiß es.“

„Ja, vielleicht werde ich irgendwann wieder mit Seth zusammensein. Ich wünsche es mir sogar“ erwiderte er ernst. „Aber solange ich auf dieser Welt lebe und solange meine Seele nach dem Ableben im Reich meiner Götter weilt, solange will ich auch mit dir zusammensein. Seth ist keine Konkurrenz für dich, denn du bist Finn. Mein Finn. Ich liebe dich und ich will mit dir zusammensein.“

„Das ist hirnrissig, Pharao. Du wirst nach Domino City zurückgehen und ich werde hier bleiben und … und …“

„Und?“

„Und wahrscheinlich nie wieder glücklich werden“ quetschte er sich dann endlich seine Antwort heraus und griff schon wieder mit den Händen in sein Haar. Das schien eine Stressreaktion von ihm zu sein. Das Haarraufen. „Ich will nicht die Nummer Zwei sein. Ich will … ich will das nicht.“

„In meiner Zeit war es vollkommen normal, mehrere Partner zu haben. Es ist schade, dass ihr das über die Jahrtausende verloren habt.“ Er senkte seine Stimme und fuhr zärtlich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar. „Du hast bereits deinen Platz in meinem Herzen. Du musst ihn nur einnehmen.“

„Ich kann aber … ich kann es nicht ertragen, wenn du …“

„Hey, Finnvid.“ Er sah ihm tief in die Augen und strich mit dem Daumen über seine bebenden Lippen. „Hab doch keine Angst vor mir. Ich liebe dich. So sehr, dass ich nicht an ein Leben ohne dich denken möchte. Ich will nicht von dir getrennt sein. Und wenn ich wieder mit Seth zusammenkomme, dann wird er das akzeptieren müssen. Dann wird er akzeptieren müssen, dass du an meiner Seite bist. Weil ich es so will. Ich bin der Pharao und ich wähle mir meine Geliebten selbst. Und wen ich erst erwählt habe, den werfe ich nicht einfach auf den Müll. Ich werde dich niemals zurücklassen. Ich werde mit dir zusammensein und dich lieben. Du bist jemand besonderes in meinem Leben. Du bist Finn und ich bin Atemu, daran wird sich nichts ändern. Ich kann dich nicht zwingen, mich so zu akzeptieren wie ich bin. Mich und meine Art zu lieben. Aber wenn du an meiner Seite leben kannst, dann kannst du auch deinen Platz in meinem Herzen einnehmen. Denn ich liebe dich aus tiefster Seele. Du bist für mich einzigartig und auf deine Art wundervoll. Ich fühle mich wohl bei dir und unendlich frei. Ich will dich nicht verlieren. Ich will, dass wir von heute an gemeinsam leben und uns lieben. Du musst nur einfach bei mir bleiben und keine Angst vor unserer Liebe haben. Wie genau unsere Zukunft aussehen wird, das weiß ich nicht. Aber ich bin bereit, mich mit dir auf etwas Neues einzulassen. Denn ich liebe dich, Finnvid. Ich liebe dich sehr.“

„Du … liebst mich?“ Das musste er erst mal schlucken. Er war von etwas anderem ausgegangen. „Ich dachte, du … du willst nur …“

„Dass ich nur eine Freundschaft mit Sex will?“ Yami wusste genau, was in seinem roten Kopf vor sich ging. „Ich gebe zu, das wollte ich auch. Aber ich habe mich schon vorher gefragt, weshalb ich mich so zu dir hingezogen fühle. Okay, du bist sehr attraktiv und für Feuermagier hege ich eh einen Faible, aber da war noch mehr. Selten hat mich ein Mann so angezogen wie du. Ich fühle mich wohl bei dir, zu wohl um es noch Freundschaft zu nennen. Es dauerte eine Weile bis ich es mir eingestehen konnte, aber nun kommt es ganz leicht über meine Lippen. Ich liebe dich, Finn. Ich liebe dich und ich will mit dir zusammensein. Mit dir zusammen leben und alt werden.“ Er lehnte sich etwas zurück und lächelte ihn liebevoll an. „Okay, für Kinder und Hausbauen bin ich vielleicht nicht der Typ, aber man soll niemals nie sagen. Ich höre mir deine Wünsche gern an und wenn du irgendwann selbst Kinder haben willst, finden wir sicher eine nette Frau für dich. Aber wehe, du verlässt mich für sie. Das würde mich sehr kränken.“

„Ich … ich würde dich niemals …“ Er fuhr schon wieder mit seiner Hand zum Haar, aber Yami hielt sie fest und blickte ihn an. „Ich kann das nicht. Ich kann nicht mit dir zusammensein. Wenn wir uns irgendwann trennen, wird der Schmerz unerträglich sein.“

„Und deshalb willst du dich jetzt von mir trennen, bevor wir uns trennen? Es tut dir doch jetzt schon weh. Warum willst du dich selbst unglücklich machen, nur weil du Angst davor hast, unglücklich zu werden? Das erkläre mir mal.“

„Das kann ich nicht erklären“ behauptete er und kniff die Augen zusammen, um nicht zu weinen und wandte sich ab.

„Du glaubst, wenn du dich jetzt von mir fernhältst, tut es weniger weh als wenn wir erst eine Weile zusammenwaren und wir uns dann trennen? Je näher du mir bist, desto mehr wird es dich schmerzen. Ist es das?“

Finn nickte stumm und presste die Finger an seine Knie.

„Das ist nun mal die Natur der Liebe“ erklärte er ihm sanft. „Je mehr man sich aufeinander einlässt, desto mehr kann man verletzt werden. Aber desto näher kann man sich einander auch fühlen und damit glücklicher werden. Wenn du so fest davon überzeugt bist, dass ich dich unglücklich mache, warum willst du dann vorher nicht das Recht in Anspruch nehmen, glücklich gewesen zu sein?“

„Ich bin bisher nur verlassen worden. Und je länger die Beziehung dauerte, desto …“

„Desto verletzter warst du hinterher. Ich kann es mir denken“ unterbrach er, rutschte ein Stück von ihm weg und legte die Füße aufs Bett. Er würde diese Diskussion so lange führen bis er bekam, was er wollte. „Finn, ich bin nicht eine von den Frauen, die dich bei den ersten Problemen sitzen lassen. Ich bin Atemu und ich stehe zu den Leuten, die ich liebe. Du hast mir viel verschwiegen und versucht, mich zu täuschen. Aber gleichzeitig stehst du zu dem Mist, den zu machst und versuchst immer, andere zu schützen. Du hast es vielleicht nicht bezweckt, aber ich habe mich in dich verliebt. Unter anderem eben auch, WEIL du Ecken und Kanten hast. Wenn du dich von mir fernhalten willst, muss ich das akzeptieren. Aber eigentlich will ich das nicht. Nur weil ich der Pharao bin, heißt das nicht, dass du dein ganzes Leben nach mir ausrichten musst. Du bist schließlich nicht mein Priester, sondern mein Liebhaber. Ich weiß, dass du hier Verpflichtungen hast und Menschen, die dir wichtig sind. Ich gebe zu, dass ich sehr dominant sein kann und versuche, meinen Dickkopf durchzukriegen. Aber ich sorge mich auch um dein Glück und ich gehe trotz meiner dominanten Art viele Kompromisse ein. Du brauchst keine Angst davor zu haben, dass ich dein Leben zerstören will.“

„Das habe ich auch gar nicht gemeint. Ich meine …“

„Und ich meine, dass du mich mal ausreden und mich meinen Vortrag beenden lässt“ unterbrach er ihn ruhig. „Finn, ich liebe dich. Und du liebst mich. Und wenn du akzeptieren kannst, dass ich noch einen anderen neben dir liebe, dann können wir sehr glücklich werden. Ich bin bereit, mich mit dir auf etwas Neues einzulassen. Dich zu meinem einzigen Geliebten aus dieser Zeit zu machen, die nicht die meinige ist. Ich würde mich sogar darauf einlassen, neben Seths nur noch dein Bett zu teilen. Und das ist wirklich ein sehr großes Zugeständnis. Alles, was du tun musst, ist, mir und meiner Liebe zu dir zu vertrauen. Kannst du das?“ Er sah ihn durchdringend an und hoffte so sehr darauf, dass seine Worte ihn endlich erreichen und erweichen würden. „Kannst du auf meine Liebe vertrauen? Darauf, dass du mir unendlich wichtig bist?“ Er sah ihm tief in seine braunen Augen und spürte die große Sehnsucht, welche in ihm verborgen lag. Er liebte Finn aus ganzem Herzen. Er liebte auch Seth, aber in diesem Augenblick wollte er nur Finns Herz gewinnen. Er hatte sich in ihn verliebt und er wollte eine Zukunft mit ihm. Eine Zukunft mit einem modernen Mann aus dieser Zeit. Eine Zukunft mit jemandem, der seine Interessen teilte und der ihm ein so unbeschreibliches Gefühl der inneren Zufriedenheit schenkte. Er wollte mit Finn zusammensein und es für immer bleiben. Deshalb holte er die Worte tief aus seiner Seele und sprach sie mit aller Überzeugung. „Ich liebe dich, Finnvid. Bitte bleibe bei mir. Als mein Wächter, als mein Freund und als mein Geliebter. So wie du bist, liebe ich dich und so wie du bist, will ich mit dir zusammensein. Wenn du mich auch lieben kannst. Finn, sieh mich an.“ Er lehnte sich zurück, stützte sich auf die Hände und wünschte, er könnte in seine Seele blicken, sehen was er dachte und was er tun musste, um ihn aus seiner selbst gewählten Einsamkeit zu befreien. „Sieh mir in die Augen und behaupte, dass du nicht mit mir zusammensein willst. Wenn du mir das sagen kannst, dann gehe ich und laufe dir nicht mehr über den Weg. Aber sag es so, dass ich es dir glauben kann.“

Draußen prasselten die Regentropfen ans Fenster und ein leiser Donner kündigte das nächste Gewitter an. Das war alles, was von der Welt hereindrang. Alles andere verschwamm und versank in Bedeutungslosigkeit. Finn sah dem Pharao in seine übernatürlichen Augen und öffnete den Mund, ohne ein Wort herauszubringen. Sein Kopf sagte ihm, dass eine Verbindung dieser Art eine denkbar schlechte Veränderung war. Rational gesehen sprach alles dagegen als Zweitgeliebter eines Pharaos zu fortzuleben und all seine Zukunftspläne, sowie seine bisherige Lebensart infrage zu stellen. Sich dem Spott der Bevölkerung und den Gefahren einer solchen Liebe auszusetzen. Aber sein Herz sang und johlte und tanzte und interessierte sich nicht einen Deut für das, wovor der Kopf warnte. Der Pharao liebte ihn und war hier, um ihn für sich zu gewinnen. Gab es denn etwas Schöneres als das? War das nicht ein ungeträumter Traum, der da in Erfüllung ging?

Letztlich fand er kein Wort der Antwort, seine Stimme ging in Tränen unter als er sich dem Pharao entgegenwarf und an seiner Schulter die Verzweiflung und die Angst entließ, die ihm das Herz einzwängten. Er spürte die Arme, welche sich um ihn legten und festhielten. Es war ihm peinlich als erwachsener Mann zu weinen wie ein Schulmädchen, doch er konnte nichts anderes tun. Es war nicht zu vergleichen mit den Gefühlen, welche er zuvor zu seinen Freundinnen empfunden hatte. Das hier war … etwas völlig anderes und er wusste noch nicht wie er damit umgehen sollte, was von ihm erwartet wurde und ob das alles überhaupt eine gute Idee war. Aber dennoch … dennoch … die Nähe des Pharaos war übergroß.

„Du, Finn?“ flüsterte Yami zärtlich in sein Ohr, während er seinen Rücken mit beiden Händen streichelte. „Ich interpretiere das als ein Ja. Oder?“

„Tut mir leid“ schluchzte er und drückte sich enger in seine Arme. „Ich heule sonst auch nie …“

„Tränen sind die Sprache des Herzens“ beruhigte er und küsste ihn ins Haar. „Ich bin froh, dass du endlich mit mir sprichst.“

„Atemu …“ Er wusste jetzt auch nicht, was er noch sagen sollte.

„Also, sind wir jetzt ein Paar. Du und ich?“

Finn nickte nur. Er versuchte, die Tränen einzudämmen und sich möglichst schnell zu fangen. Der Pharao sollte ihn nicht für eine Heulsuse halten.

„Schön, das finde ich sehr gut.“ Dafür hatte der sich erstaunlich gut im Griff. Auch wenn Finn an seiner Brust das Herz laut schlagen hörte. Er hatte seine Gefühle nur einfach besser unter Kontrolle. „Dann muss ich dir jetzt nur noch eine Bedingung sagen.“

„Bedingung?“ Er wischte sich die Augen sauber und blickte kurz zu ihm hoch.

„Ja, es ist mir etwas unangenehm, aber ich muss darauf bestehen.“ Er drückte Finn ein wenig weg und sah ihn bitterernst an. „Früher war es schon so, dass meine Geliebten alle Kastraten waren.“

„Was?!“ Was sollte das denn heißen?

„Na ja. Ich gestatte es zwar, dass meine Geliebten Frauen haben, aber sie dürfen keine Kinder mit ihnen zeugen. Wenn du Kinder haben willst, dann zeuge ich sie mit deiner Frau. Deshalb muss ich darauf bestehen, dass du dich kastrieren lässt.“

„Du willst, dass ich …“ Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich soll mir was abschneiden lassen?“

„So ist es Tradition“ zuckte er mit den Schultern. „Kommt dir vielleicht etwas komisch vor, aber mir sind meine Traditionen wichtig. Also, wenn du mich liebst … du hast ja nun zugestimmt.“

„Gar nichts habe ich!“ Er saß da wie angewurzelt und … er kannte sich ja mit den Traditionen und Gebräuchen von vor 5000 Jahren nicht aus. „Das ist nicht dein Ernst!“

„Das ist mein voller Ernst. Früher war es eine Ehre, wenn ich einen Mann darum bat, seine Männlichkeit für mich herzugeben. Es klingt komisch, aber vielleicht solltest du diese Bedingung als eine besondere Auszeichnung sehen. Und in den modernen Krankenhäusern heutzutage, ist so eine Operation auch kein großer Eingriff mehr.“

Aber über das königliche Gesicht breitete sich ein Grinsen aus und seine Augen zeigten ein neckisches Funkeln. Das würde noch sehr lustig werden mit Finn.

„Atemu, du bist so gemein!“ Jetzt merkte auch er es, drehte sich um und wischte die juckenden Augen. „Mich so zu verarschen.“

„Mach dich locker, Finni“ lachte er und sprang ihm an den Rücken, kuschelte sich wieder an ihn.

„Normalerweise heule ich nicht so schnell.“

„Ich weiß. Aber so ein Liebeschaos haut jeden um. Ich habe zuhause auch geheult. Kannst Yugi fragen, der hat literweise hinter mir aufgewischt. Aber jetzt lassen wir es uns gutgehen, okay?“

„Okay“ nickte er und nahm Yamis Hände, welche über seiner Brust lagen. „Tut mir leid, ich bin noch ein bisschen zittrig. Ich habe mich gleich wieder.“

„Du bist ja ein Sensibelchen“ lächelte er und küsste seine Wange. „Keine Angst, ich mag sensible Männer.“

„Na dann.“

„Du bist doch nicht beleidigt, weil ich dich auf den Arm genommen habe, oder?“

„Na ja … nett war das nicht.“

„Schön, ich mag beleidigte Männer.“

„Gibt’s auch irgendwas, was du nicht magst?“ seufzte er verzweifelt.

„Natürlich. Sex erst nach der Ehe zum Beispiel.“

Finn seufzte noch tiefer und ließ den Kopf hängen. Das konnte ja was werden …
 


 

Chapter 4
 

„Ist das zu glauben?“ Joey ließ sich neben Narla plumpsen, legte die Arme auf den Tisch und den Kopf drauf.

„Was?“ guckte sie ihn verwundert an.

„Ja, bitte sprich in ganzen Sätzen“ meinte auch Balthasar, welcher an seinen Tortellini kaute.

„Leute, ich komme eben von Yugi, ja?“

„Oh ja, was für ein Kunststück“ kommentierte Noah von der Seite und spießte seinen grünen Salat auf. Abendessen war ne feine Sache. Zumal das Restaurant seit gestern für Gäste gesperrt war. Offiziell wegen Umbaumaßnahmen, inoffiziell wegen versuchter Kindesentführung. So hatte die Truppe das ganze große Haus komplett für sich allein. Bis auf Hannes, der weiter tat, was ein Wirt halt so tat. Dass er etwas mit der Sache zu tun hatte, konnte sich wahrlich niemand vorstellen.

„Bärchen, wenn du was zu erzählen hast, dann erzähle und mach nicht so ein Heckmeck darum“ bat Narla und schob ihm ihre angefangene Tomatensuppe rüber, damit er sie aufaß. „Und nimm die Arme vom Tisch. Das ist kein Bett.“

„Ich bin nur total baff“ meinte er, nahm die Suppe entgegen. „Magst du nicht mehr?“

„Ist schon meine dritte. Iss auf.“

„Also, Yugi ja?“ Er tauchte den Löffel hinein, schaute aber Narla aufgeregt an. „Yugi hat mir eben erzählt, dass Yami jetzt mit Finnvid zusammen ist. Ihr wisst schon, dieser große Typ mit den roten Haaren. Wo wie alle dachten, der wäre Rentner.“

„Wir wissen wer Finn ist“ versicherte Balthasar. „Und alles andere wissen wir auch. Verbrabbelt sich ja nicht jeder so lang mit der Sekretärin wie du.“

„Wie? Ihr wisst das schon, dass Yami fremdgeht?“

„Fremdgehen würde ich das nicht nennen“ meinte Narla. „Er hat nur einen zweiten Geliebten. In Ägypten war das ganz normal, dass man mehrere Partner hat, wenn man sich in mehrere Leute verliebt. Damals nannte man das, jemanden zu seinem Favoriten zu machen.“

„Du sollst mich nicht immer verarschen!“

„Ausnahmsweise, mein blonder Schatz, verarsche ich dich mal nicht“ knutschte sie ihm mitten auf die Nase. Er war manchmal echt zu süß, wenn er sein Hirn nach Feierabend einfach ausstellte. Aber die Frage, ob er sich das bei Seto abgeguckt hatte, wollte sie in dieser Runde lieber nicht stellen - damit ärgerte sie ihn allein.

„Wer’s glaubt. Trotzdem glaube ich nicht, dass Seth das so gern sehen wird“ redete Joey weiter und rührte seine Suppe um. „Selbst wenn das in Ägypten normal war, wird er bestimmt total eifersüchtig werden.“

„Das solltest du Ati überlassen“ meinte Balthasar. „Der weiß schon, was er tut. Davon mal weg, glaube ich, dass Finn ihm richtig gut tut. In unserer Zeit ist Ati ewig allein geblieben und hat Seth zwar was vorgebetet, aber nie wirklich die Kraft gehabt, ihm den Marsch zu blasen. Und jetzt guck ihn dir mal an. Er ist ein ganz neuer Mensch.“

„Ja, er sieht richtig gut aus“ pflichtete Narla ihrem Bruder bei. „Sicher wird Papa nicht begeistert sein, aber für Yami ist es das Beste. Er ist kein Typ, der allein leben kann. Und Finn ist voll sein Geschmack. Ich liebe meinen Papa, aber wenn er sich so sehr von sich selbst entfernt, darf er sich nicht beschweren, dass sein Pharao sich einen zweiten Geliebten nimmt. Er hat ja auch aus Liebe geheiratet und Yami hat das akzeptiert. Letztlich ist Finn nichts anderes als Marie.“

„Das würde ich nicht ganz so sehen“ warf Noah ein. „Marie war von Anfang an klar, dass sie ‚nur‘ die Frau des Priesters ist und soweit ich weiß, war Seth bereits mehrfach verheiratet bevor er mit Yami zusammenkam. Finn und Seth sind momentan aber auf derselben Ebene der zwischenmenschlichen Beziehung. Yami hat immer versucht, Liebesleben und Priesterschaft zu trennen und somit hat Seth seine Alleinstellung als Liebhaber verloren. Und das kurz nachdem Yami ihn unehrenhaft aus der Priesterschaft entfernt hat. Insofern muss ich Joey zustimmen, dass das zu Problemen führen kann.“

„Danke, Chef.“ Passierte ja selten, dass Joey auch mal Recht bekam.

„Ich finde das ganz legitim“ sagte Balthasar mit einer wegwerfenden Geste. „Wenn mein Herr Vater so gegen die Prinzipien handelt, muss er damit rechnen, verdrängt zu werden. Ich habe gleich gesehen, dass Finn ein klasse Kerl ist. Und habt ihr das Leuchten in Atis Augen gesehen? Das war doch klar, dass der sich sofort verguckt hat.“

„Außerdem ist Yami viel freidenkender. Er braucht das“ pflichtete Noah bei. „Er hätte sich wahrscheinlich auch für Finn erwärmt, wenn Seth daneben gestanden hätte.“

„Yugi sagte, wir sollen Yami unterstützen“ erzählte Joey besorgt.

„Wo Yugi Recht hat“ ergänzte Narla.

„Aber ich kann mir das noch nicht so richtig vorstellen. Ich meine, kommt Finn dann mit uns nach Domino oder wie soll das aussehen?“

„Wichtig ist, dass wir Finnvid als seinen Partner akzeptieren“ riet Noah. „Wenn sie sich lieben, sollten wir da nicht intervenieren. Ich bin sicher, Yami hat sich das nicht leicht gemacht. Aber er ist auch kein Mensch, der gegen sein Herz handelt und wenn er sich verliebt hat und sich dabei gut fühlt, dürfen wir das nicht kaputt machen.“

„Ich find’s aber auch ungewohnt, so sehr ich es verstehen kann“ pflichtete Narla ihrem Joey bei. „Ich glaube auch nicht, dass Papa das gern sehen wird. Ich stehe ja voll auf Yamis Seite, aber ich kenne auch meinen Vater.“ Sie fuhr mit ihrem Zeigefinger die Rillen des Holztisches nach und überlegte. „Doch wie Noah sagt, wir müssen Yami unterstützen. Für uns ist so eine Liebschaft ungewohnt, aber der alte Pharao würde das hinkriegen, auch zwei Partnerschaften zu managen. Er ist immerhin zum Herrschen geboren und wird schon wissen, was er … buuhaa ...“ Plötzlich schüttelte sie sich und die Gänsehaut lief bis auf ihre Arme hinab.

„Schatz?“ fragte Joey vorsichtig nach. „Alles okay?“

„Ja, geht schon wieder.“ Sie rieb sich die Arme und atmete tief. „Das muss ich unter Kontrolle bekommen.“

„Narla nimmt Geisterunterricht“ erklärte Joey dem verwirrt dreinschauenden Noah.

„Geisterunterricht“ wiederholte der skeptisch. Trotz der täglichen Beweise stand Noah dem Okkultismus noch immer skeptisch gegenüber. Und an Geister glaubte er -eigentlich- nicht.

„Ich habe doch schamanische Fähigkeiten“ erklärte sie und nahm die Hand ihres Schatzes, da der sich anscheinend um sie sorgte. „Yela hat mich einem alten Schamanen vorgestellt und den habe ich heute besucht. Er hat mir gezeigt, wie man Geister und solche Dinge spüren kann, aber seitdem erschauere ich immer, wenn etwas an mir vorbeistreift. Ich muss das erst mal kontrollieren lernen, bevor ich wirklich etwas sehen kann.“

„Was sehen?“ hakte Noah unwissend nach. „Poltergeister und so etwas? Gibt es das denn?“

„Natürlich gibt es Poltergeister“ lächelte sie. „Er hat mir ein Buch mitgegeben, das ich mal durcharbeiten werde. Ich habe meine Fähigkeiten nie richtig trainiert und da ich ja nur eine Hexe bin, sind sie derzeit nicht besonders stark. Vor einigen Jahren waren sie stärker, weil ich mit meinen Drachen verbunden war, aber ohne sie nimmt meine magische Kraft allmählich ab. Er sagte mir aber, dass meine Schamanenkraft wahrscheinlich stärker ist als meine Feuerkraft. Wir haben lange geredet und deshalb habe ich beschlossen, dass ich diese Fähigkeiten weiter ausbilden will. Vielleicht kann ich damit nützlicher sein als mit Feuerzaubern.“

„Genau, kleine Hexe, überlass das Feuer den Magiern“ grinste Balthasar sie provokativ an.

„Halt die Klappe, HALB-Bruder.“

„Und was kannst du dann machen?“ wollte Noah weiter wissen. „Schamanen sehen doch nur die Seelen verstorbener Menschen. Oder? Sorry, ich kann mir darunter nicht viel mehr als Gläserrücken vorstellen. Oder Schamanen aus dem Urwald oder bei den Indianern.“

„Die meisten haben wirklich eher etwas mit Toten zu tun, aber in mir steckt mehr. Ich kann, wenn ich die Ausdauer bewahre, eine der mächtigsten Schamaninnen werden. Alfons hat das angeblich sofort in mir gesehen.“

„Alfons ist der Typ, wo sie war“ erklärte Joey zusätzlich.

„Ich kann nicht nur die Seelen Verstorbener sehen, sondern vielleicht sogar herbeirufen. Quasi Tote aus dem Totenreich zurückholen.“

„Das klingt irgendwie merkwürdig“ murmelte der skeptische Noah. „Du meinst, du rufst Tote herbei?“

„Cool, Zombies“ grinste Balthasar.

„Das ist aber wohl der schwerste Zauber“ musste sie eingestehen. „Ich weiß auch noch nicht wirklich, wie das gehen soll. Vorerst konzentrieren wir uns auf das Sehen von vorhandenen Geistern. Alfons sieht lauter Dinge. Er hat mir berichtet, dass er manchmal sogar helle Gestalten mit goldenen Flügeln und lieblichen Gesichtern sieht, die bei ihm verweilen.“

„Das sind Engel“ wusste Balthasar sofort. „Dein Meister kann wirklich Engel sehen?“

„Wenn er sein inneres Auge öffnet, ja. Er vertraute mir sogar an, dass er sich manchmal mit ihnen unterhält. Zwar nur wenige Worte, aber sie sollen ihm sehr zugetan sein. Er sieht aber auch Schatten. Er sagte, Schatten zu sehen ist wesentlich leichter. Sogar Menschen ohne Magie können sie sehen.“

„Das stimmt. Sogar wir sehen die starken Schatten“ nickte Noah. „Und was bringt es dir, wenn du das lernst? Ich meine, hat das alles auch eine praktische Seite?“

„Ja, natürlich“ lächelte sie aufgeregt. „Ich kann vielleicht irgendwann auch mit Seelen sprechen und ihren Beistand erbitten. Sogar tote Tiere könnte ich sehen und sie um Dinge bitten. Als Schamane kann man mit drei Welten in Kontakt treten. Nämlich der bewussten Welt in welcher wir uns jeden Tag befinden. Als zweites mit der unbewussten Welt, in welcher sich Engel und Schatten bewegen und auch Verstorbene, die noch hier weilen. Und als drittes mit dem Totenreich, dort wo alle Seelen weilen, welche noch nicht vergessen wurden.“

„Und wenn du sie rufst, hast du so eine Art Armee von Toten und du bist die Kommandantin“ grinste Joey, der bei diesem Gedanken in seine eigene, kleine Comicwelt abtauchte. Man wollte gar nicht wissen, was er sich da wohl ausmalte … wahrscheinlich war Narla in seiner Vorstellung dabei auch leichter als leicht bekleidet wie in einem seiner Mystery-Erotica-Büchlein …

„Außerdem gibt es bestimmte Zauber, die nur von einem Schamanen gesprochen werden können oder Tränke, die nur wir brauen können. Alfons sagte mir aber gleich, dass man als Schamane sehr demütig gegenüber dem Leben und dem Tode sein muss. Man selbst ist nur ein Instrument zwischen den Welten und muss um alles unterwürfig bitten. Ich glaube, das wird mir am schwersten fallen. Ich ordne mich nicht so gern unter.“

„Stimmt.“ Mit diesem einen Wort schaute sie Joey auch schon wieder sehr intensiv an. Er wusste sicher am besten wie wenig sie sich unterordnen konnte. „Aber ich mag starke Frauen.“

„Du bist so süß“ lächelte sie und schmiegte ihren Kopf an seinen. „Ich liebe dich, Bärchen.“

„Ich liebe dich auch, Süße. Besonders wenn du zwischendurch so mädchenhaft bist.“

„Was? Ich dachte, du magst starke Frauen und keine kleinen Mädchen.“

„Ähm … na ja …“ Na super, wieder was gesagt ohne darüber nachzudenken, was er eigentlich sagen wollte. „Ich liebe ja auch nur dich.“

„Nicht besonders gut, aber immerhin gerettet“ seufzte sie und blieb gemütlich an ihn gelehnt, legte sogar die Arme um ihn. „Wenn du noch was Nettes sagst, gibt’s Sex heute Abend.“

„OH!“ Oh … oh … oh! Jetzt schnell was Nettes sagen! „Du hast den … oh … oh, ich weiß! Du hast pralle Boobies!“

„Na ja.“ Okay, unter Stress war er unkreativ. „Das lass ich mal noch so durchgehen.“

„Tja, so macht man das, Männer“ grinste er die beiden anderen stolz an und legte demonstrierend den Arm um seine Eroberte. „Schande, Schatz, du frierst ja schon wieder.“ Er strich über ihre Arme, war es gar nicht gewohnt, dass sie fröstelte - wo sie doch wörtlich ne heiße Braut war. „Erkälte dich mal nicht bei diesem Schamanenquatsch.“

„Aber weißt du, was cool ist?“ freute sich Balthasar. „Wenn du so stark wirst, dass du Tote rufen kannst, dann macht es gar nichts mehr, dass du auf alte Knacker stehst. Dann kannst du auch nach ihrem Tod mit ihnen zusammensein.“

„Ich glaube nicht, dass das so einfach ist“ lachte sie. „Außerdem stehe ich nicht auf Knacker.“

„Na ja, Joseph ist nun auch bald 30.“

„Alter, ich bin gerade 29 geworden!“

„Und deine Freundin? Die ist gerade mal süße 18, nech?“

„VOLLE 18!“

„Also doch Knacker.“

„Lass deine Sprüche mal bei Tato“ lachte Narla, während Joey sich grün ärgerte. Natürlich wirkte er neben einer jungen Freundin älter, aber es reichte schon, dass Narlas Freunde Sprüche klopften. Da durfte man doch wohl wenigstens in der eigenen Familie verschont bleiben.

„Außerdem ist 30 keine so schlimme Zahl“ warf Noah zweideutig ein. „Ich wünsche mir übrigens ein neues Teeservice für’s Büro.“

„Ach ja! Du hast ja bald Geburtstag!“

„Blitzmerker, Joseph“ schüttelte Narla den Kopf.

„Cool, dann musst du fegen gehen“ grinste Joey voller Freude.

„Würde ich ja glatt machen“ grinste Noah vor sich hin.

„Und warum grinst du so?“

„Weil d u das meinem Freund verklickerst“ zeigte er mit dem Zeigefinger auf Joey. Wenn der Mokuba erzählte, dass Noah von irgendwem geküsst werden sollte, war es fraglich, ob Joey selbst irgendwann mal 30 wurde. Wahrscheinlich eher nicht.

„Okay, lassen wir das mit der Tradition“ seufzte der enttäuscht bis ihm etwas Geniales einfiel. „Narla, wenn ich nächstes Jahr auch 30 werde, müssen wir noch dieses Jahr heiraten.“

„Wieso?“ guckte sie ihn hilflos an. „Freust du dich nicht, wenn dich ein junges Ding knutscht? Ich jedenfalls werde das nicht sein, denn DU hast mich befleckt, mein Lieber.“

„Doch ich will schon geknutscht werden. Aber ich habe keine Lust auf körperliche Arbeit. Also musst du mich heiraten.“

„Ich heirate dich doch nicht nur weil du so faul bist. Du bist unmöglich“ schüttelte sie aufgebend den Kopf und erschauerte im selben Moment nochmals. „Meine Güte, hier sind viele … oh …“

„Viele oh was?“ sorgte Joey sich sofort wieder. „Was ist?“

„Ich höre ein Weinen“ erwiderte sie und blickte sich im Raum um. Doch hier unten war kaum noch jemand. Nur sie selbst und Hannes, der im Nebenraum seine Ablage sortierte.

„Weint das Krümelchen?“ horchte nun auch Joey genau hin. „Aber sie ist doch bei Tea, da musst du keine Sorgen haben. Wir können schön Liebe machen.“

„Nein, das ist kein Babyweinen. Das hört sich anders an.“ Sie stand auf und spitzte die Ohren, untersuchte mit ihren stahlgrauen Augen den Raum. „Hört ihr das nicht?“

„Nein, ich höre nichts“ gestand Noah. „Vielleicht einer von deinen Poltergeistern.“

„Hm, vielleicht. Es kommt von dort.“ Sie zeigte auf die Treppe, doch da war nichts zu sehen. Deshalb ging sie darauf zu, auf das was die anderen nicht hören konnten.

Kaum kam sie in die Nähe der Treppe, zischte und fauchte es und eine Gruppe von Schatten sauste an ihr vorbei, um die Stühle und Tischbeine herum und entfleuchten durch die Wände nach draußen.

„Das habe ich jetzt auch gesehen.“ Balthasar sprang auf und lief bis neben seine Schwester, zückte bereits den Millenniumsstab zum Kampf.

„Nein, bleib ruhig“ bat sie und nahm seinen erhobenen Arm. „Die wollten nichts von uns. Dafür sind sie zu schnell weg.“

„Narla“ flüsterte er und hob den Finger. Nun hörten es auch die anderen. Das leise Weinen. Ein helles Stimmchen, ganz rein und lieblich. Irgendwo unter der Treppe weinte es still und versteckt.

„Das kenne ich! Mann, Alter!“ Joey sprang auf, lief an den beiden vorbei, fiel auf die Knie und krabbelte unter die Treppe. Jedenfalls wollte er es, wenn sich nicht aus der Dunkelheit eine Gestalt auf ihn zubewegt und vor ihm aufgebaut hätte. Er blieb unten knien und rutschte langsam zurück. Blickte in tiefschwarze Augen, eingebettet in blassweiße Haut. Die Hände von schwarzer, zähflüssigem Schleim bedeckt, eine hohe, dünne Gestalt und sie grinste mit scharfen Zähnen zu ihm hinab. Setos Angstgestalt, wahrscheinlich hatte sie die Schatten verscheucht. „Ey Mann, alles cool, ja?“ stammelte Joey und rutschte vorsichtig weiter zurück. Mit dem Vieh war nicht zu spaßen, solang kein Pharao in der Nähe war.

„Seto.“ Trotzdem war Balthasar so mutig und sprach die Gestalt an. „Was machst du hier?“

Doch anstatt einer Antwort hörte er nur ein spitzes Atmen, wie ein Zischen. Und der Blick allein konnte Leben zerstören. Er war hier und er war nicht zu Scherzen aufgelegt.

„JOOEEYY!“ Aber neben der ölig blassen Angst lief etwas kleines vorbei. Kurz leuchtete das blaue Herz und die unschuldige Seele patschte mit schnellen Schritten auf ihn zu.

„Seto! Mann, komm her!“ Bloß weg von dieser Bestie. Er öffnete seine Arme, damit der Kleine zu ihm laufen konnte. Doch anstatt sich bei ihm verstecken zu können, flutschte er durch ihn hindurch und blieb hinter ihm stehen. Schnell drehte Joey sich zu ihm um und blickte in die traurigsten Augen, die es auf dieser Welt gab. Seto war verzweifelt. Ganz nackt stand das kleine Kind da, hielt sein kaputtes Herz fest in beiden Händen an sich gedrückt und atmete stockend. Die Schultern hochgezogen und die blauen Augen weit aufgerissen. Er war ganz außer Atem, ganz offensichtlich brauchte er Hilfe.

„Mann, Seto.“ Joey fing gleich selbst an zu weinen bei diesem Anblick. Dennoch öffnete er hoffnungslos seine Arme. „Wenn ich Seelen berühren könnte, würde ich dich sofort umarmen.“

„Joey!“ Er patschte zu ihm und kam ihm so nahe es ging. Sie konnten sich sehen, aber nicht berühren.

„Mann, was machst du hier?“ Auch wenn Joey ihn nicht anfassen konnte, so hielt er die Hände über seine zitternden Arme. Auch wenn es wenig half gegen die Angst, welche noch immer an der Treppe stand und mit gierigen Augen auf ihn blickte.

„Ich bin gelaufen. Drei Tage“ antwortete der Kleine, sein helles Stimmchen bebte so aufgewühlt, dass man am liebsten über ihn weinen wollte.

„Wo ist denn dein Körper, Süßer? Warum bist du so unterwegs? Wenn die Schatten dich erwischen.“

„Ich bin gelaufen. So lange. Es war dunkel“ bibberte er und blickte nervös zur Treppe, dann auf sein Herz. „So dunkel. Überall sind Schatten. Sie kommen. Sie wollen mich auffressen.“

„Natürlich wollen sie das. Du weißt doch wie gefährlich es ist, wenn du ohne deinen Körper rumläufst. Das sollst du doch nicht.“

„Aber ich wollte nicht … bitte … nicht böse sein.“

„Siehst du?“ zischte die Angst und tat einen Schritt nach dem anderen auf ihn zu, wie ein Raubtier auf der Lauer. „Alles, was du machst, ist falsch. Du machst nur Fehler. Du wirst niemals stark werden. Du solltest lieber gar nichts mehr tun als alle in Gefahr zu bringen. Jetzt hast du wieder alle enttäuscht.“

„DAS STIMMT NICHT!“ Da wurde Joey wirklich böse, wenn Seto sich so etwas einredete. Sicher, die Angst sollte ihn beschützen. Das tat sie auch, wenn Schatten in der Nähe waren oder wenn man vorsichtig sein sollte. Doch leider machte die Angst nicht nur andere fertig, sondern auch den unschuldigen Seelenkern.

„Nicht schreien!“ Davon knickte auch die kleine Seele ein, versteckte ihr Herz an der Brust und den angezogenen Beinen. Kauerte sich auf dem Boden zusammen. Seto war völlig fertig. Kein Wunder, wenn man drei Tage und Nächte lang vor Schatten weglief und versuchte, sein Herz zu beschützen. Und dabei ging er Joey gerade mal bis zum Bauch.

„Nein, ich schreie nicht. Ich bin ganz ruhig“ versprach Joey und sah wie Noah an ihm vorbei und die Treppe hinaufsprang. Sicher würde er Yugi alarmieren, damit er kam und Seto beistand. „Seto, ganz ruhig. Ganz ruhig, okay? Nicht weinen.“

„Ich weine nicht“ flüsterte das Seelchen. „Ich bin stark. Ich weine nicht. Ich muss stark sein.“

„Du bist nicht stark“ zischte die Angst, trat hinter ihn und kniete sich zu ihm herab. Wenn Joey sah wie nahe diese grässliche Gestalt dem armen Seelenkern kam, wollte er sie am liebsten fortprügeln. Aber sie war nun mal ein Teil von ihm und selbst wenn er die Angst verprügeln könnte, so würde er dem kindlichen Seto doch nur wehtun.

„Joseph.“ Balthasar kniete sich zu ihm, sprach ganz leise, um Seto nicht zu erschrecken. „Ich kann deine Seele vom Körper lösen, aber solange Yugi nicht hier ist, könnte die Angst dich angreifen.“

„Ich will nichts falsch machen“ stammelte der Kleine vor sich hin. „Ich muss zu Yugi. Ich muss Yugi finden. Zu Yugi. Yugi muss … ich muss … zu Yugi.“

„Yugi ist oben, Süßer“ beruhigte Joey, ach wenn er ihn doch nur berühren und in den Arm nehmen könnte.

„Ich kann nicht nach oben. Da ist … alle Schatten sind da. Sie wollen nicht, dass ich zu Yugi gehe. Sie lassen mich nicht.“ Deshalb hatte er sich unter der Treppe versteckt. Er kam dort nicht weiter. Die Schatten wussten wo er hinwollte und ließen ihn nicht.

„Seto!“ Da kam Yugi auch schon die Treppe herabgepoltert und schreckte das zitternde Bündel am Boden auf.

„Okay, Yugi. Aufpassen!“ Balthasar sprang ihm entgegen, der Stab in seiner Hand glühte auf und hüllte den Raum für einen Augenblick in goldenes Licht. Nur wenige Sekunden später war es vergangen und Yugis Körper hing leblos in Balthasars Armen. Der hatte ihn noch im Laufen aufgefangen, während dessen Seele Seto in die Arme schloss und endlich beschützte.

Da lag das Seelchen nun endlich in Yugis Umarmung und seine lange Reise fand ein gutes Ende. Die Schatten hatten ihn nicht bekommen, Dank seiner Angst. Und Yugi hatte seine Angst schon lange bezwungen. Seto war endlich am Ziel, Dank Yugi. Weil er ihm wie immer das letzte Stück entgegenkam.

„Hey, nicht weinen.“ Obwohl Yugi selbst die Tränen zurückhalten musste, tröstete er den Kleinen. Wollte ihm das Gefühl geben, dass alles in Ordnung war.

„Ich bin da. Ich habe dich gefunden.“ Er verschwand fast in Yugis Armen, kuschelte sich an ihn, suchte die Nähe und die Wärme.

„Ja, hast du. Du hast mich gefunden“ lobte er und streichelte über das weiche Kinderhaar, setzte ihn sich auf den Schoß und würde ihn so schnell nicht wieder loslassen. Selbst Joey wich zurück und setzte sich zu Narla, die mit Balthasar auf der Treppe blieb. Noah war von oben nicht zurückgekehrt und übernahm wohl das Zubettbringen der Kinder, wo er Yugi soeben abgelöst hatte.

„Yugi, ich war tapfer“ erzählte er mit unsicherer Stimme und krallte sich in seinen Ärmel, während er mit der anderen Hand das blaue Strahlen verdeckte. „Die Schatten waren da und haben mich gejagt. Sethos ist nicht zurückgekommen. Er hat gesagt, ich darf nicht ohne ihn rausgehen, aber ich wusste nicht … ich musste zu dir.“

Tja, Sethos war nicht zurückgekehrt. Und würde es so schnell wohl auch nicht tun. Hoffentlich schaffte Seto es trotzdem. Man durfte ihm nur keine Angst machen. Die stand eh schon hinter ihm und wartete nur auf den richtigen Moment, um sich vorzudrängen.

„Jetzt bist du ja hier.“ Yugi lächelte ihn an, blickte in die kindlich blauen Augen und sah sein Lächeln nach einigen Sekunden erwidert. Seto war so süß. „Und geht es dir gut, mein Engel?“

„Ein bisschen ja, ein bisschen nein“ antwortete er und rutschte so hin, dass er Yugi leichter ansehen konnte. „Geht’s Nini und Tato gut? Und Moki?“

„Ja, es geht uns allen gut. Mach dir keine Sorgen.“ Und dass er ihm Sethos‘ schlechten Zustand verschwieg, würde Seto später hoffentlich verzeihen. „Ich mache mir aber ein bisschen Sorgen um dich. Wo ist denn dein Körper?“

„Nicht hier.“ Ja, die Antwort eines Kindes. „Nur ich und die Angst sind hier. Die Angst beschützt mich vor den Schatten. Aber …“

„Aber was?“ Aber war nicht gut.

„Yugi?“ wisperte das Seelchen und nahm Yugis Hand, drückte sie ganz vorsichtig an sein Gesicht. „Hast du mich noch lieb?“

„Natürlich habe ich dich noch lieb. Niemanden liebe ich so sehr wie dich. Das weißt du doch.“

„So eine dumme Frage“ zischte die Angst und beugte sich zähnefletschend über den kleinen Kopf. „Du stellst nur dumme Fragen. Du beschämst alle, wenn du so dumm bist. Du wirst niemals etwas lernen.“

„Zwischendurch darf man ja mal fragen“ lächelte Yugi erst die Angst und dann die kleine Seele an. „Und du? Hast du mich auch noch lieb?“

„Ja.“ Setos Wangen hauchten sich in ein zartes Rosa und beschämt schlug er den Blick nieder. „Ich habe dich unendlich lieb. Soll ich zeigen wie viel?“

„Na klar. Zeig mal.“

Seto legte sein Herz vorsichtig auf den nackten Schoß, drückte sich schützend an Yugi und breitete die Arme aus, streckte sich so weit er konnte. „Soooooo viel. Und noch viel mehr.“

„Wow, das ist wirklich viel Liebe“ lachte er und kuschelte ihn als auch er kichernd sein Herz wieder aufnahm und sich anschmuste. „Ach, mein Engelchen. Ich habe dich so vermisst.“

„Ich vermisse dich auch“ flüsterte er vertraulich zurück. „Yugi, ich will stark werden. Ganz stark, damit ich alle beschützen kann. Sethos sagt, ich kann das.“

„Da hat Sethos Recht. Du kannst alles, was du dir vornimmst“ stimmte auch er dem zu und küsste die Seele auf die Stirn. „Bitte entschuldige, wenn ich das frage, aber musst du nicht zurück in deinen Körper?“

„Er will dich loswerden. Er hasst es, dich zu sehen. Du bist so ärmlich.“

„Nicht doch“ besänftigte Yugi. „Ich möchte nur, dass dir nichts passiert.“

„Ich muss zurück ins Wasser. Sonst kann ich niemals stark werden. Und ich will stark werden, damit ich alle beschützen kann. Damit du stolz auf mich bist.“ Das war eigentlich ein Moment, in welchem die Angst sofort wieder einsetzen müsste. Ihm einreden müsste, dass er niemals stark genug werden könnte. Doch sie war ruhig. Sie sah nur mit ihren schwarzen, triefenden Augen auf den Hinterkopf des Kindes und atmete so leise, dass sie kaum zu hören war. „Du? Yugi?“

„Ja, mein Herzchen? Kann ich dir irgendwie helfen, damit du wieder in deinen Körper kannst?“

„Nein. Ich muss das alleine schaffen.“ Er rutschte zurück, weg aus Yugis schützenden Armen und kniete vor ihm, drückte das kaputte Herz an sich und blickte ihn flehend an. In seinen lieblichen Kinderaugen lag eine unendliche Unschuld und die tiefe Bitte danach, geliebt zu werden.

„Du wirst es schaffen“ ermutigte Yugi und strich ihm sanft über den Kopf. „Du bist doch mein kleiner Liebling. Du kannst alles schaffen.“

„Aber Sethos hat gesagt, ich schaffe es niemals ohne dich“ sprach er mit hoffender, leiser Stimme. „Sethos hat gesagt, ich muss alles von mir aufgeben. Ich kann nur stark werden, wenn du auf mich aufpasst. Ich muss nichts sein und du musst alles sein. Sethos sagte, du musst alles über mich bestimmen. Ich muss dir alles geben, was ich habe. Ich kann nur stark sein, wenn du mich zerstören kannst.“

„Das klingt aber gemein“ beruhigte Yugi und sah ihn liebevoll an. „Ich will dich doch nicht zerstören. Ich will, dass es dir gut geht.“

„Ich habe ja nichts, was ich dir geben kann. Ich wusste nicht, warum Sethos so was sagt und er hat gesagt, ich muss alleine wissen, was das bedeutet. Aber ich habe nachgedacht und ich spüre, dass ich ganz doll stark werden kann. Aber nicht ohne dich. Ich brauche dich … also, du willst mich. Vielleicht.“

„Liebling, ich verstehe nicht, was du da sagst.“ Auch wenn er als Kind eine einfachere Sprache verwendete und immer alles so aussprach wie es in ihm war, manchmal war er selbst dann schwer zu verstehen. „Mein süßer Engel, warum bist du bis hierher gelaufen?“

„Ich weiß jetzt, was Sethos mir gesagt hat. Er sagte, du musst mich zerstören können. Du musst alles haben und ich nichts. Aber ich habe ja schon gar nichts. Nichts, gar nichts habe ich. Aber dann habe ich gedacht … doch … ich habe noch was. Alles, was ich noch habe.“

Als er seine Hände nach vorn streckte, wusste Yugi, wovon Seto sprach. Und er sah ebenso, was Sethos gemeint hatte, als er von einer zerstörerischen Verbindung sprach. Um Setos Übermacht zu kontrollieren, musste er seine ganze Existenz beherrschen. Und Seto bot ihm alles an, was er noch besaß.
 

Sein Herz.
 

Er hielt es ihm hin. In seinen kleinen, unschuldigen Kinderhänden bot er ihm sein Herz an. Sein kaputtes, geschundenes Herz. Es war über die Jahre schief und krumm geworden, fast zerbrochen an all dem Bösen dieser Welt. Doch er hatte es geflickt mit glitzerndem Diamantenstaub, hatte Träume geformt und Hoffnungen, um am Leben zu bleiben. Er kämpfte, damit sein verletzliches Herz nicht brach. Und nun bot er es dem Menschen an, den er über alles liebte. In seinem blauen Herzen lag alles, was er hatte, was er war, was er geben konnte. Seine gesamte Existenz bot er einem anderen dar.

„Oh, Liebling.“ Yugi legte seine Hände unter die kleinen Finger, traute sich nicht, ihm das Herz zu entreißen. „Du willst mir dein Herz schenken?“

„Ja. Mein Herz sei auf ewig Dein“ hauchte er und sah ihn hoffnungsvoll an. Seine blauen Augen glänzten, so sehr hoffte er darauf, dass sein letztes Geschenk angenommen wurde.

„Aber mein … mein Seto …“ Er musste schlucken, es schnürte ihm die Kehle zu. „Du könntest sterben ohne dein Herz. Das Herz ist das Wichtigste, was ein Mensch besitzt.“

„Nein. Du bist was Wichtigste“ antwortete er überzeugt. „Ich kann dir nichts Wertvolles geben. Nur das. Das ist alles, was ich habe.“

„Das ist zu viel. Ich kann doch nicht …“ Doch sein Zögern weckte die Bedenken in Seto. Ließ auch ihn zögern.

„Ich habe es dir gesagt“ zischte die Angst und die öligen Hände fuhren die Arme der kleinen Seele hinauf, hinterließen hässliche Spuren. Die Angst griff die Handgelenke des Kleinen und schwarzer Speichel floss aus ihrem Mund. „Gib es mir. Niemand kann es so gut beschützen wie ich.“

„Nein, das ist nicht gut …“ Das Seelchen zitterte bei diesem Gedanken. Die Angst war mächtig. Sehr mächtig.

„Ich kann es festhalten. Du bist schwach, aber ich bin stark. Ich kann uns alle retten.“

„Lass dir nichts einreden“ bat Yugi mit zärtlicher Stimme und drückte die bebenden Hände des Kleinen ein bisschen hinauf. Auch wenn es nicht so schlimm aussah, das hier war ein Kampf um Leben und Tod. Jetzt erkannte er, weshalb es nur die Angst war, welche Seto begleitete. Sie war das älteste seiner Gefühle, die stärkste Gestalt in ihm und sie war hier, um endlich das Zepter in die Hand zu bekommen. Sie hatte eingesehen, dass sie Yugi nicht besiegen konnte. Aber sie sah ihre Chance, doch noch Herr über Setos Geist zu werden. Wenn die Angst es schaffte, selbst Seelenkern zu werden, war sie Herrscherin über alles in Seto. Sie konnte ihm das Herz nicht entreißen, doch sie war drauf und dran. „Mein Engelchen, du bist ein guter Seelenkern. Du bist stark. Du hast die Angst geschaffen und du musst sie regieren.“

„Das sagt er nur, weil er unser hässliches Herz nicht haben will.“ Schrecklich, die Angst sprach bereits von ‚unserem‘ Herzen. Sie vereinte sich bereits damit. „Gib es mir. Ich bin stark. Ich kann uns beschützen. Uns alle.“ Sie fuhr mit ihren scharfen Zähnen die Schulter des Kleinen entlang und benässte ihn mit ihrem öligen Blut. Sie würde das Kind verschlucken und Seto in den Untergang treiben. Sie wurde übermächtig.

„Das hier ist ein Scheidepunkt für dein Leben“ sprach Yugi und blickte dem noch Seelenkern in die unschuldigen Augen. „Du allein entscheidest, was mit dir geschieht. Du warst es, der all diese Facetten geschaffen hat. Die Angst und den Schmerz. Aber auch den Priester, den Pascal, den Drachen und den Eisprinzen. Deine Kraft ist unerschöpflich. Du allein hast all das geschaffen.“

„Nichts hast du geschaffen“ zischte die Angst und leckte gierig über sein Ohr. „Du hast uns abgestoßen, weil du keinen von uns halten konntest. Alle sagen, du sollst erwachsen werden, aber du schaffst es nicht. Du bist schwach. Im Gegensatz zu mir. Ich bin die mächtigste Kraft von uns. Ich allein kann auf unser Herz Acht geben und unsere Macht lenken. Yugi will dein Herz nicht haben. Du hast es gehört.“

„Das stimmt nicht“ fuhr der Pharao der Angst ernst über den Mund, musste aufpassen, dass er nicht zu laut sprach. Diesen Kampf durfte er nicht verlieren. Er durfte Seto nicht verlieren. „Seto, du bist gut so wie du bist. Du glaubst, du bist schwach, aber das ist nicht wahr. Du bist gut so, genau so wie du bist. Mit allem an dir. Mit allem Starken und mit allem Schwachen. Du hast eine wundervolle, vielfältige Seele. In dir steckt so vieles, so viele Gefühle. Du musst nicht erwachsen sein, denn das bist du doch schon. Der Priester und der Pascal sind doch erwachsen. Ihr seid gut, alle gleichwertig, alle gleich wichtig. Aber du, mein süßer Liebling.“ Er drückte gegen seine zitternden Hände und fühlte das scharfe, schleimige Gefühl der Angst an seinen Fingerspitzen. „Du bist der beste Seelenkern. Denn du hörst auf alle, du kannst alles betrachten. Die Angst hört nur auf sich selber. Der Drache hört auch nur auf sich selber und der Priester auch. Alle hören nur auf sich selbst. Aber du, du hörst auf alle gleich. Du hast sie alle geschaffen, um sie dir anzusehen, um sie zu verstehen. Du hast es gut gemacht. Deshalb liebe ich dich so sehr. Du bist unschuldig und gutgläubig. Deshalb kann ich mit dir sprechen, deshalb kannst du mich verstehen. Durch dich bin ich mit deiner ganzen Seele verbunden. Und ich liebe alles an dir. Ich kann alle verstehen und ich höre dir zu. Ich kann dir helfen und dich festhalten. Gib dein Herz nicht einem einzelnen Gefühl in dir hin.“

„Er redet Unsinn“ wisperte Angst feucht in sein Ohr. „Nur ich kann uns beschützen. Du weißt wie mächtig ich bin. Gib mir mein Herz und ich werde Yugi beweisen, wie mächtig wir sein können.“

„Es ist wie bei einem guten Kartendeck“ versuchte Yugi es möglichst verständlich zu sagen. Er sah die Zweifel in den unschuldigen Kinderaugen. „Alles muss ausbalanciert sein. Alles muss vertreten sein. Nur mit Zaubern oder nur mit Monstern kannst du kein Spiel gewinnen. Und genauso kannst du kein Leben leben, welches nur von Angst regiert wird. Deine Angst ist wichtig, aber nicht wichtiger als dein Intellekt, deine Kunst, deine Instinkte oder etwas anderes. Du bist als einziger Seelenteil rein genug, um gerecht zu entscheiden. Du bist der beste Seelenkern.“

Selbst die Angst war einen Augenblick ruhig und erstarrte mit ihren Lippen am Hals der kleinen Seele. Ihre Hände griffen noch immer gierig nach dem Herzen, doch was damit geschah, entschied allein Setos reine Seelenmitte. Er musste alles abwägen und tief in sich fühlen, was das war, womit er am besten leben konnte.

„Willst du mein Herz haben?“ fragte er dann mit hoffender Stimmer.

Aber Yugi lächelte nur und fragte ihn im Gegenzug: „Willst du mir dein Herz denn anvertrauen?“

„Nein!“ fauchte die Angst so giftig in sein Ohr, dass der Kleine zuckte und nur mit Mühe seine Arme ausgestreckt hielt. „Gib es mir! Ich beschütze uns! Gib es mir! Mir!“

„Ja“ antwortete der Seelenkern und blickte Yugi tapfer an. Er stellte sich gegen seine Angst und alle Gefühle in ihm. Er stellte sich gegen sein gesamtes Ich, gegen seine Existenz und alles, was ihn ausmachte. Er gab sich seinem Pharao hin. „Ich will dir mein Herz schenken.“

„Wenn es dein Wunsch ist, dann nehme ich dein Herz dankbar in meine Hände.“ Obwohl die Angst seine Handgelenke umklammerte und es zu verhindern suchte, die Augen aufriss und warnend fauchte, ihn davor warnte, etwas zu tun, was so wider die Natur stand, so zog der Seelenkern dennoch seine Hände auseinander. Ganz langsam glitt das strahlend blaue und diamanten funkelnde Krüppelherz in die Hände eines anderen. Er verschenkte sein Herz und damit sich selbst.

Der geschundene Seelenstein glühte kurz auf als er die kindlichen Hände verließ und eine neue Heimat fand. Yugis schloss behutsam seine Hände darum und nahm es an sich. Fort von der Angst, aber auch fort von dem Kind. Er nahm Setos Existenz an, so wie sie war.

Ein sanftes Goldstrahlen erfüllte den Raum und alles, was in ihm war. Das Herz verschwand in den pharaonischen Händen und ging ein in Yugis Seele. Er musste es nicht festhalten, er stieß es nicht ab. Er setzte es unter sein eigenes und schloss die Augen. Das Gefühl einer zweiten Existenz erfasste seine Seele. Anders als ein Yami, aber ähnlich nahe. Er fühlte sich dieser Existenz nicht verbunden und nicht verpflichtet. Er fühlte sie einfach. Fühlte das zweite Leben in sich. Es war selbstständig und nistete sich in ihm ein. Ein Fremdkörper, völlig getrennt von seiner eigenen Seele. Und doch, er fühlte Setos Existenz in sich. Fühlte sein Leben, seine Liebe und alles, was er war. Er fühlte seine Angst und seinen Schmerz, seine Treue, sein Genie, seine Instinkte und seine Magie. Und auch seine Unschuld, seine Frustration, seine Skepsis und seine Naivität. Und er liebte dieses Gefühl, für welches es keine Worte gab. Er spürte es in sich glühen wie einen zweiten Herzschlag. Nur ein Pharao konnte einen anderen Menschen so vollends in sich aufnehmen, ohne Bedenken oder Abscheu. Er nahm Seto an, so wie er war. Alles Schöne und alle Hässliche. Er nahm ihn an in seiner Gesamtheit.

So sehr liebte er ihn.

Doch er schloss dieses Gefühl nicht ein. Er nahm es an sich und öffnete es gegenüber der Welt. Er spürte wie die Energie der Erde durch ihn hindurch und um ihn herum strömte. Und er spürte wie das blaue Herz nach außen drängte. Es klopfte vorsichtig gegen seine Mauern und Ketten und erhielt ein Stück Freiheit geschenkt. Seine Lebensenergie kehrte in den Fluss allen Lebens und Vergehens zurück und schenkte seinem ehemaligen Eigentümer seine Kraft. Setos Lebensenergie floss zu ihm zurück, durch Yugis gütigen Willen. Nun war er von dieser Erde losgelöst und nur noch über seinen Pharao mit dem Leben verbunden. Yugi war nun die Nabelschnur, welche Seto mit der Kraft des Lebens verband.

Yugi öffnete die Augen und sah die Angst und das Kind dasitzen. Sie blickten ihn beide an. Das Kind erwartungsvoll und hoffend. Aber die Angst gleichzeitig misstrauisch und vorwürflich. Seto blieb derselbe Mensch, doch er konnte nun nicht mehr selbst über sich entscheiden. Nun lag die Bestimmung über sein Sein in anderen Mächten.

„Bist du beleidigt?“ fragte das Kind mit Zweifeln im Blick.

„Nein, ich bin stolz“ lächelte Yugi und berührte seine zarte Wange. „Ich liebe dich und ich danke dir für das wunderschöne Geschenk. Ich verspreche dir, ich werde gut für dich sorgen.“

„Jetzt kann ich stark werden“ antwortete das Kind und stand auf, befreite sich aus der Angst, welche den Kampf um sein Herz verloren hatte. Sie würde sicher keine Ruhe geben, würde weiter versuchen, es zu bekommen. Sie würde niemals aufgeben, doch sie war ein Teil von Seto und sie hatte ebenso ein Recht auf ihr Dasein wie alles an ihm. Und Yugi würde auch die Worte der Angst abwägen und beurteilen. Nur Setos Herz, das würde er nun niemals mehr zurückgeben. Er war es nun, welcher Seto mit Lebensenergie speiste und welcher über ihn bestimmte. Über all seine Träume und Hoffnungen und auch darüber, welche Stärke er erlangte.
 

Seto hatte das Rätsel gelöst und fand einen Weg sich und seine Existenz vollkommen zu unterwerfen und hinzugeben. Genau wie Sethos es prophezeit hatte.
 

Und Yugi spürte nun was es bedeutete, einen anderen Menschen vollkommen zu beherrschen und dass dies seinen Geliebten zerstören konnte. Genau wie Sethos es prophezeit hatte.
 

Doch Yugi würde alles tun, damit sie weiter gemeinsam leben und einander lieben konnten. Nichts sollte sie auseinander bringen. Keine übermächtige Magie, keine Götter und kein Schicksal. Nicht einmal sie selbst. „Ich werde für dich sorgen“ versprach er und entließ das Kind aus seiner Verpflichtung. „Ich werde dich und alles an dir lieben, immer und bis in die Ewigkeit. Indem du dich mir hingegeben hast, wirst du frei sein. Das verspreche ich dir.“

„Du sagst das schön.“ Das Seelchen wurde ganz rot im hellen Gesicht und schlug beschämt den Blick nieder.

„Fühlst du dich denn komisch jetzt?“ wollte Yugi wissen und strich über seine nackten Arme. „Hast du das Gefühl, dass dir etwas fehlt?“

„Nein.“ Und das sagte er ohne überhaupt nachzudenken. Er traute sich und blickte wieder zu ihm auf. „Jetzt muss ich nicht mehr auf mein Herz aufpassen, das machst du jetzt. Dafür kann ich auf dich aufpassen. Du bist jetzt mein Herz.“

„Ich bin dein Herz?“ Was für ein schönes Gleichnis.

„Aber jetzt muss ich stark werden. Sethos sagt, ich muss in Verbindung mit der Energie treten. Aber die Energie kommt vom Pharao. Also bin ich direkt an der Quelle. Wie eine Wasserquelle. Ich muss jetzt keine Angst mehr haben.“ Woraufhin die Angst hinter ihm angewidert zischte. Das nahm sie wohl persönlich.

„Das sagt man doch nur so“ beruhigte Yugi dieses überraschend zickige Bruchstück einer Seele. „Du wirst weiter auf Seto aufpassen. Aber übertreibe es nicht.“

„Von dir lasse ich mich nicht belehren“ flüsterte sie uns blickte ihn mit ihren ölschwarzen Augen stechend an. „Ich muss dich lieben, doch das hält mich nicht davon ab, dich ganz genau zu beobachten. Und wenn du auch nur einen Moment schwach wirst, wenn du mich auch nur einen Augenblick verlässt, werde ich …“

„Verkneife dir bitte die Drohungen.“ Und das sagte Yugi so frohgemut als hätte er um ein Stück Sahnetorte gebeten. „Ist euer Körper weit weg? Braucht ihr Hilfe? Tato kann die Schatten sicher von euch fernhalten, wenn wir ihn bitten.“

„Wir sind hergekommen. Da kommen wir auch wieder zurück.“ Und alles andere war eine freche Unterstellung.

„Gut“ nickte Yugi und streichelte den Kopf der kindlichen Seele. „Und lass dir Zeit, mein Herz. Setze dich nicht unter Druck, ich warte so lange auf dich wie es dauert.“

„Ich weiß. Aber ich will zurück zu dir. Ich strenge mich an und vielleicht ist Sethos dann stolz auf mich.“

„Das ist er dann ganz bestimmt. Wir sind alle stolz auf dich. Schon jetzt.“

„Ich weiß. Und wenn ich stark bin, dann … Yugi?“

„Was denn?“ Das klang nun aber besorgt.

„Meinst du, dass ich dann anders bin?“

„Selbst wenn, dann wäre das nicht schlimm.“ Das war etwas, worüber er auch bereits nachgedacht hatte. Wenn diese große Kraft Seto veränderte, was würde dann sein? Letztlich hatte Yugi ihn nicht zu Sethos gehen lassen, um einen möglichst mächtigen Magier zurückzubekommen, sondern vor allem um seine verletzte Seele zu stärken und ihm Selbstvertrauen zu geben. Veränderung war der Grund für all das hier. Jedoch war es auch ganz natürlich, dass Seto sich vor dem fürchtete, was mit ihm geschehen konnte. „Vielleicht veränderst du dich, vielleicht auch nicht“ sprach er mit sanfter, weicher Stimme. „Seit ich dich kenne, hast du dein Verhalten oft verändert, aber dich selbst hast du niemals geändert. Du bist und wirst immer derselbe Seto bleiben. Deine Wünsche, deine Träume und deine Nöte sind noch immer dieselben. Und deine große Liebe hat sich auch niemals verändert. Nur ob du die Gefühle zulässt oder nicht, das macht den Unterschied.“

„Und wenn ich die falschen Gefühle zulasse? Wenn ich ein schlechter Mensch werde?“ fragte er verunsichert. „Yugi, sagst du mir dann bescheid, wenn ich was falsch mache?“

„Ja, dann sage ich dir bescheid“ versprach er und hielt ihm den kleinen Finger zum Schwören hin. „Wir machen ein Versprechen. Ich sage dir, wenn du etwas anders machen kannst und du sagst mir, wenn du dich ohne Herz unwohl fühlst oder wenn du was von mir brauchst, okay?“

„Okay, wir müssen uns immer alles sagen. Noah sagt, Reden verhindert Probleme.“

„Ja, Noah ist ein weiser Mann“ lachte Yugi und hakte seinen kleinen Finger ein, wiegte ihn mit leichtem Druck.

„Und“ setzte der Kleine in seinem kindlichen Eifer hinzu. „Wir schwören uns ewige Liebe, ja? Schon wieder.“

„Ja, schon wieder“ versprach er auch das mit einem Lächeln und fühlte tief in sich eine Sicherheit. Sicherheit darüber, dass Seto sich niemals verändern würde. Er würde nur immer mehr er selbst werden. So wie man in der Mitte eines Labyrinths einen Schatz fand, so fand man in Setos Mitte etwas so reines und klares wie bei keinem anderen Wesen dieser Welt. Aber vielleicht war das auch nur die Formulierung eines schwer verliebten Pharaos.
 


 

Chapter 5
 

Es war richtig niedlich wie Dante vor sich hinkicherte und die einfachsten Sachen toll fand. Jetzt gerade das dicke, rosa Schwein, welches eigentlich immer sauber bleiben wollte und nun nach einem Schubs des Esels in der Schlammpfütze lag - und dabei zugeben musste, dass es ihm dort ganz gut gefiel. Noah hatte ihm das Bilderbuch gekauft und er liebte es. Er kicherte jedes Mal über die Schlammpfütze. Auch wenn er den wenigen Text schon mitsprechen konnte, suchte er dennoch ständig nach einem Doofen, der ihm das Buch vorlas. Und jetzt gerade war eben Sareth diejenige, welche dran glauben musste. Sie saß neben ihm auf dem Rücksitz von Noahs neuem Mercedes, lehnte sich auf seinen Kindersitz und musste sich mit dem jungen Kaiba jedes Bild ganz genau ansehen und sich darüber unterhalten, was da alles drauf war, wie das Schwein grunzte und der Esel wieherte und wie lange man wohl nach so einem Schlammbad richtig baden musste, um wieder sauber zu sein. Lesen mit Dante war ein Fulltime-Job. Und zu Noahs Erleichterung machte der Kleine auch mal was sinnvolleres als immer nur Unsinn mit Tato oder Mokuba.

Heute hatte Sareth sich kurzerhand der Einladung ihrer Onkel angeschlossen und begleitete sie zum Jahrmarkt in der Stadt. Immerhin schien die Sonne und die Bücherei hatte in den letzten zwei Wochen wegen Aufräumarbeiten geschlossen … wobei ihr wohl weniger die Bücher fehlten als mehr jemand bestimmtes, der dort arbeitete und der sich seit dem Flug zum Aquarium auch nicht mehr gemeldet hatte. Den Vormittag hatte sie auch heute dort im Aquarium verbracht, aber es herrschte nur gedrückte Stimmung. Um Sethos stand es noch immer schlecht. Die einzige Veränderung bestand in der Stärke seiner Blutung, welche mal ein wenig abheilte und dann wieder schlimmer wurde. Es war schwer mit dieser Ungewissheit einfach normal weiter zu leben. Sethos lag im Sterben, wie sollte man da überhaupt noch fröhlich sein?

Zumindest die Kinder wollte man ablenken, damit sie von den Sorgen der Erwachsenen nicht zu viel übernahmen. Und was war da besser als der Jahrmarkt? Noah und Mokuba hatten wenig Zeit und gemeinsame Unternehmungen waren selten geworden. Doch heute hatte Noah seine Termine verschoben und folgte Mokubas Vorschlag - also auf zum Jahrmarkt! In stiller Hoffnung auch darauf, dass Sareth ebenfalls Ablenkung fand. Sie sorgte sich sehr um Sethos, auch um Seto zumal der sein Herz fortgegeben hatte und überhaupt war sie wenig fröhlich. Aber Dantes Kichern heiterte sie wohl doch ein bisschen auf. Wenigstens einer der sorgenfrei herumlief und die anderen etwas mitzog.

Doch vielleicht zog Sareth heute auch noch etwas anderes mit, denn Noah verlangsamte seine Fahrtgeschwindigkeit und sah zum Fenster hinaus. „Sari, schau mal.“

„Was?“ Sie ließ die nächste Seite von Dante umblättern und schaute nach vorn.

„Schau mal, wer da draußen sitzt.“ Er wies nach rechts zu Mokubas Seite und tatsächlich! Da saß ihr Vermisster!

Am Gehweg vor einem dreistöckigen Bürogebäude auf einer kleinen Mauer. Er ließ die Beine herabbaumeln und beobachtete die Passanten, die an ihm vorbeiliefen. Seine Erscheinung wie immer etwas durcheinander, seine zerschlissenen Jeans, sein geknittertes, schwarzes Shirt und die ausgelatschten Schuhe. Doch seine Haare waren jetzt kürzer. Auch wenn die Frisur beim Friseur mit etwas Gel sicher gut aussah, war sie jetzt einfach nur gewaschen und hing lieblos platt herunter. Er legte eben nicht viel Wert auf solch schnöden Schönheitsquatsch. Abgelenkt wurde der Blick aber hin zu einem Greifvogel, der vertraulich nahe bei ihm saß. Nur etwa einen Meter neben ihm hockte ein einfarbig hellbrauner Falke mit leuchtend schwarzen Augen. Ein wunderschönes Tier, doch ungewöhnlich, dass diese sonst so scheuen Wesen mitten auf einer Gehwegmauer den Leuten zuschauten. Das taten sonst nur die Priesterfalken, doch den Gesellen dort kannte niemand. Zumal Edith wohl kaum sein Herr und Meister sein konnte.

„Guten Tag Edith“ grüßte Noah zu Mokubas geöffnetem Fenster heraus und hielt den Wagen an. Glücklicherweise war die Ampel hinter ihnen rot und somit niemand da, der hupen konnte.

Er hatte sie wohl schon kommen sehen, aber nicht mal gewunken. Und auch jetzt erübrigte er nur ein gelangweiltes „Tag“. Er wanderte mit den Augen nach hinten und sah Sareth hinter Dantes sperrigem Kindersitz. „Hey Prinzessin“ setzte er wenigstens noch leise hinzu.

„Hey Edith“ antwortete sie und irgendwie versagte die Klimaanlage auf den Rücksitzen gerade. Ihr wurde so komisch warm. „Was machst du da?“

„Sitzen.“ Für die ganz Langsamen, die es nicht sofort sahen.

„Das sehe ich“ antwortete sie nervös. „Ich meine, warum sitzt du da?“

„Warum nicht? Ist doch nicht verboten.“

„Nein, ich meine, hat das einen bestimmten Grund, warum du da sitzt? Wartest du auf jemanden?“

„Nö.“ Nun ja, vielleicht saß er ja wirklich einfach nur so da, weil er nichts anderes zu tun hatte. „Und was machst du?“

„Ich … na ja, ich lese ein Kinderbuch mit Dante.“ Sie zeigte das Bild des rosa Schweins hoch, doch ahnte schon, dass ihn das herzlich wenig rührte.

„Sari.“ Noah drehte sich nach hinten und lächelte ihr lieb zu. „Frag ihn doch, ob er mit auf den Jahrmarkt will.“

„WAS?!“ Jetzt wurde sie richtig nervös. Ihr Onkel hatte komische Gedanken. „Ich kann ihn doch nicht …“

„Warum denn nicht?“ Mokuba unterstützte Noahs Vorschlag und zwinkerte nach hinten. „Ihr seid doch befreundet. Oder nicht?“

„Ich … ähm …“ Oh je! Sie hatte damit gerechnet, dass sie eine Runde mit Dante Kinderkarussell fuhr, ein bisschen Dosen umwarf und am Schluss noch was mit den dreien essen ging. Von einem Date unter Aufsicht von Erwachsenen war hier nie die Rede gewesen.

„Wir verraten es auch deinem Papa nicht“ versprach Onkel Mokuba, der auch ahnte, woher dieses tiefe Rot auf ihrem Gesicht kam. Ganz schwer von Begriff war er nicht und dass sie und der ungehobelte Junge sich gut riechen konnten, war ja auch kein großes Geheimnis mehr.

„Er hat bestimmt keine Lust auf solchen Kinderkram“ rechtfertigte sie sofort.

„Och, ich mag Jahrmärkte auch ganz gern. Ist ja nicht nur für Kinder“ flüsterte Noah nach hinten. „Jetzt frag ihn schon. Mehr als nein sagen, kann er doch nicht. Oder soll ich ihn fragen?“

„NEIN!“ Oh Gott, wie peinlich! Das kriegte sie ja wohl hoffentlich noch selbst hin. So lehnte sie sich über Dante hinüber, um besser hinaussehen zu können. „Du Edith … ähm … wir sind … also, wir sind auf dem Weg zum Jahrmarkt und …“

„Schon klar“ meinte er und lehnte sich zurück auf die Hände. „Fahrt weiter, sonst kriegt der Alte noch einen Strafzettel.“

„Der Alte?“ Noah horchte auf und hoffte, dass damit doch wohl hoffentlich nicht er sondern der Oldtimer gemeint war. Obwohl der Oldtimer ganz neu war - der war fabrikneu.

„Nein, ob du mitkommen willst.“ Jetzt war es doch raus. Er guckte sie erst mal nur an, schien nicht besonders interessiert. „Also ich … das wäre schon cool, wenn du … du musst ja nicht, aber vielleicht … wenn du nicht anderes zu tun hast … du hast keine Lust, oder?“

„Eigentlich finde ich Jahrmärkte zum Kotzen.“

„Du musst ja nicht, aber … aber ich … würde mich sehr freuen, wenn du … aber wenn du nicht willst.“

„Ich störe doch nur. Fahr mal alleine zum Familienausflug.“

„Das ist kein Familienausflug“ sprach Mokuba fröhlich zum Fenster hinaus. „Sari freut sich, wenn du mitkommst also warum willst du hier rumsitzen? Oder hast du doch was anderes vor?“

„Nicht wirklich.“

„Dann lass dich doch nicht so lange bitten. Wenn du keinen guten Grund zum Rumhängen nennen kannst, solltest du auch keine Körbe verteilen.“

„Onkel Moki!“ Das wurde noch richtig peinlich hier! Warum musste er sich da einmischen?

Trotzdem sprang Edith von seiner Mauer und kam langsam zu ihr rüber. „Aber nur, wenn du mich wirklich mitnehmen willst. Du musst nicht höflich sein, Prinzessin.“

„Ach Quatsch. Spring hinten rein“ zeigte Mokuba und lotste ihn auf die andere Seite.

Sareth saß eh schon auf dem Mittelsitz neben Dante und somit war dort noch genug Platz für einen Passagier mehr. Wie selbstverständlich stieg Edith ein und setzte sich nach hinten. Den hellbraunen Falken ließ er dort einfach sitzen. Und dort blieb er auch und sah ihm unbewegter Mine nach.

Noah atmete sich erst mal die Falten weg und konnte losfahren, bevor der nachfolgende Verkehr sie erreichte. Um die Mittagszeit war auf diesen Seitenstraßen wirklich nicht viel los, zumal das hier eine Straße war, in welcher hauptsächlich Behördenbüros waren. Und die arbeiteten auf einem Mittwoch bekanntlich nur bis Mittag.

„Schnallst du dich bitte an?“ bat Noah und hörte dann mit Beruhigung das Klicken von Ediths Gurt.

„Sari guck!“ Jetzt forderte Dante aber wieder seine Aufmerksamkeit. „Das is das Huhn. Wie macht das Huhn?“

„Ich weiß nicht.“ Sie konnte doch hier vor Edith nicht das Gackern anfangen. „Wie macht denn das Huhn, Danti?“

„Gack gack gack! Gooooock! Gooooock!“ machte er und freute sich köstlich über sich selbst. Er liebte Tiergeräusche.

„Der Falke da draußen“ fragte Mokuba endlich und drehte sich zu den Kindern nach hinten. „War das deiner?“

„Nö.“ Er blickte ihn kurz an, aber dann auf Sareths Knie. „Das Vieh ist mir zugeflogen und verfolgt mich.“

„Es verfolgt dich?“

„Keine Ahnung. Anscheinend“ zuckte er mit den Schultern. „Aber wenn’s kein Futter kriegt, zieht es irgendwann wieder ab. Ist wie bei Krähen.“

„Krähen?“ guckte Sareth. „Wie kommst du jetzt auf Krähen?“

„Sari, wie machen Krähen?“ wollte der Kleine sofort wissen.

„Ich weiß nicht. Wie machen denn Krähen?“

„Krah! Krah!“ Tiere waren super!

„Aber warum Krähen, Edith?“

„Wenn man sie füttert, bleiben sie und brüten. Wenn sie nichts kriegen, hauen sie wieder ab. Ich denke, du bist so schlau.“

„Na ja, Edith“ bemerkte Mokuba skeptisch. „Falken sind aber keine Krähen. Besonders nicht, wenn sie so anhänglich bei einem Menschen sind.“

„Was weiß denn ich? Ich hab das Vieh nicht angelockt.“

„Aber er war hübsch. Sehr hübsch“ versuchte Sareth ihn aufzuheitern. „Hast du ihm einen Namen gegeben?“

„Unsinn.“

„Weißt du denn wenigstens, ob es ein Männchen oder ein Weibchen ist?“

„Natürlich.“ Er zog seine vernarbte Augenbraue hinauf und sah sie pikiert an. „Ich habe nichts anderes zu tun als mir die Geschlechtsteile von Tieren anzugucken. Prinzessin, echt mal.“

„Natürlich … tschuldigung.“ Hach, warum stellte sie nur immer so blöde Fragen? Edith war auch ganz schön ablehnend. Sie hatte sich schon in den letzten Tagen gefragt, warum er sich so gar nicht bei ihr meldete. Er wusste ja, wo sie wohnte und wo sie so hinging. Aber seit sie sich vor fast zwei Wochen im Aquarium das letzte Mal sahen … er hatte gar nichts mehr von sich hören lassen.

„Komisches Kleid“ bemerkte er und blickte an ihr rauf und runter.

Sie trug heute einen dunkelroten Sari mit gelber Rankenbestickung und einer am Gürtel angenähten Tasche. Dazu leicht erhobene Stoffsandalen und etwas gewellte Haare. Eigentlich hatte sie diesen Sommerdress nur angelegt, weil Onkel Noah sie darin so gern sah. Sie hatte ja nicht erwartet, damit heute in die Öffentlichkeit zu gehen.

„Ähm ja … etwas merkwürdig für einen Stadtgang, oder?“

„Ziemlich merkwürdig. Aber okay.“ Wobei ‚okay‘ aus seinem Munde fast ein Kompliment war. „Wenigstens siehst du nicht so nuttig aus wie die anderen Tussen.“

„Sari!“ Und Dante verstand nicht ganz, warum sie nicht auf sein flehentliches Gucken und Armstreicheln reagierte. „Liest du mir vor? Was steht da? Das Schwein.“

„Danti, möchtest du Bob hören?“

„BOB! JA!“ Mokuba hatte einfach die besten Ideen. Er kramte im Handschuhfach und schob eine CD in den schweigenden Player, welcher daraufhin mit fröhlichem Kindersingsang begann. Dante liebte Bob den Baumeister, der war im Kindergarten gerade total angesagt. Da konnte er stundenlang hinhören. Und Sareth konnte sich etwas unbeobachteter mit Edith unterhalten. Auch wenn der nur zum Fenster hinaussah.

„Du“ sprach sie ihn leise nochmals an. „Du hast dich gar nicht mehr … ich meine …“ Aber sich aufzuführen wie ein Waschweib von wegen ‚Du hättest dich ja mal melden können‘ wollte sie dann auch nicht. „Ich habe dich gar nicht mehr in der Bücherei getroffen.“

„Schwer, wenn da wegen Umbau zu ist.“

„Du … auch woanders nicht. Ich habe immer geguckt, ob ich dich irgendwo sehe.“

„Ich war in der Bücherei. Regale aufbauen und rumschieben. Für das neue Schuljahr machen die da so Terz wegen irgendwelchen Schreibtischen. Keine Ahnung.“

„Na gut. Ich dachte … ich habe dich irgendwie vermisst.“

„Echt?“ Jetzt sah er sie doch an und war sichtlich überrascht. „Wieso?“

Und die beiden Onkels auf den Vordersitzen mussten sich das Lachen verkneifen. Der Kerl war doch echt schwer von Begriff.

„Wieso nicht?“ antwortete sie nestelte nervös an ihrem Rock, während Bob seine Lieder über Bagger sang. „Ich dachte, wir … ist ja auch egal.“

„Ich dachte, du bist voll sauer auf mich.“

„Warum?“ Er dachte, sie wäre sauer? „Habe ich das gesagt?“

„Du hattest meinetwegen Probleme. So blöd bin ich nun auch nicht, dass ich das nicht merke. In Kämpfe von Pharaonen sollte man sich nicht einmischen. Das hätte ich lassen sollen.“

„Ohne dich hätten wir Sethos nie so schnell ins Aquarium fliegen können. Du hast uns geholfen.“

„Nachdem ich euch reingefunkt hatte. Ich wollte mich ja entschuldigen, aber dein Vater …“ Tato hatte wahrscheinlich so giftig geguckt, dass jeder die Flucht ergriffen hätte. „Ich dachte, es ist besser, wenn ich mich nicht mehr blicken lasse.“

„Ach, bei Papa darfst du dir nichts dabei denken. Der war nur gestresst und ich … tut mir leid, ich war so fertig, dass ich mich auch nicht richtig für deine Hilfe bedanken konnte.“

„Schon gut.“ Das war eben nicht der rechte Ort und nicht die rechte Gelegenheit gewesen, um herumzuturteln. „Wie geht’s denn deinem Fischfreund?“

„Sethos“ erklärte sie und seufzte betrübt. „Es geht ihm ziemlich schlecht. Wir wissen nicht, ob er … vielleicht … es sieht nicht so gut aus.“

„Verstehe“ bemerkte er und sah zum Fenster hinaus. „Ich renne dir nicht mehr nach. Dann passiert so was nicht mehr.“

„Habe ich dich deshalb nicht getroffen? Weil du dachtest, ich wäre böse auf dich?“

„Na ja … ich an deiner Stelle würde mir aus dem Weg gehen.“

„Das will ich aber gar nicht.“ Sie sammelte ihren Mut und schob vorsichtig die Hand zu seinem Ellenbogen, berührte ihn zaghaft. „Oder willst du mir lieber aus dem Weg gehen?“

„Quatsch.“ Na dann war doch wohl alles geklärt. Er schaute sie sogar kurz an und darüber hinaus war er freiwillig hier eingestiegen. Also war er nicht ganz auf Abstand aus. „Kann ich mal was sagen?“ sprach er dann etwas lauter nach vorn. „Da hinten rechts rum geht’s schneller. Auf der anderen Straße ist ne Baustelle.“

„Oh. Okay.“ Noah sah also von seinem Kurs ab und wechselte die Spur nach rechts. Er merkte schon, dass der Verkehr hier dichter wurde und die meisten links abbogen, aber das konnte auch daran liegen, dass bei dem schönen Wetter mehrere Leute zum Jahrmarkt wollten. „Woher weißt du denn das?“

„Da stand mein Bus vorhin im Stau. Links ist echt besser. Da geht’s auch schneller zum Glorienplatz.“

„Ja, ich sehe es schon.“ Noah konnte hier sogar die Parkplätze ausgeschildert sehen. „Ist wohl ein Geheimtipp, was?“

„Nur der Nebeneingang. Man muss ja nicht immer vorne rum.“

„Gut, dass wir dich eingepackt haben“ lächelte Mokuba und drehte sich zu ihnen herum. „Danti, möchtest du was trinken?“ Aber dann sah er, dass der Kleine sein Buch nur schwerlich auf dem Schoß festhielt und die Augen halb geschlossen hatte. Mit seinem offenen Mund sah er zum Knutschen süß aus. Es dauerte nicht mehr lange und die Müdigkeit würde ihn dahinraffen. „Hach, Kinder schlafen so wunderbar schnell ein.“

„Er hatte heute keinen Mittagsschlaf“ erklärte Noah nach einem kurzen Blick in den Rückspiegel.

„Na dann ist das kein Wunder, wenn er pennt.“

„Nich penn“ murmelte Dante und hob seinen Kopf. Aber hier im warmen Auto ohne Beschäftigung fehlte ihm seine Mittagsruhe doch.

„Sari, nimm ihm doch bitte mal das Buch ab.“ Vorsichtig entfernte sie das Buch und gab es nach vorn, wo Mokuba es verstaute. „Zum Glück haben wir den Buggy mit. Dante, möchtest du gleich im Buggy fahren?“

„Ja. Nich laufn.“ Schöner war gefahren werden.

„Wenn er die vielen Süßigkeiten sieht, wird er schon wieder munter“ meinte sie, denn welches Kind konnte schon den ganzen Jahrmarkt verschlafen? Noch dazu den ersten seines jungen Lebens. „Warst du schon auf dem Jahrmarkt?“ fragte sie den anderen Jungen zur Linken.

„Bin mal rübergelaufen. War blöd“ beantwortete der kurz.

„Dann warst du mit den falschen Leuten da“ meinte Mokuba. „Mit uns wirst du sicher Spaß haben.“

„Ich war allein da.“

„Oh.“ Umso schlimmer. „Dann wirst du erstrecht Spaß haben.“

„Allein auf dem Jahrmarkt?“ stutzte Sareth. „Was macht man denn allein auf dem Jahrmarkt?“

„Sagte ich doch, ich bin rübergelaufen.“

„Du meinst, du hast ihn nur passiert? Ohne dir was anzusehen?“

„Du tust ja so als sei das verboten.“

Sie seufzte leise, aber wirklich schlimm fand sie sein barsches Benehmen nicht. Er war nun mal ein Einzelgänger und für bunte Glitzerwelten nicht zu haben. Umso süßer, dass er ihretwegen trotzdem mitkam. „Ich freue mich jedenfalls, dass du mitkommst. Ich bin sehr gern mit dir zusammen.“

„Wenn du meinst.“ Er war geschmeichelt, das sah sie ihm an. Aber da ihre beiden Onkel vorn saßen, konnte er auch nicht aus seiner Haut. Eigentlich war er ganz lieb, aber zeigen mochte er das nicht. Noch nicht. Vielleicht taute er ja etwas auf, wenn er sah, dass ihre Familie nicht so abgehoben war und auch nicht auf ihn herabsah. Er hatte sich seine Lebensumstände nicht ausgesucht.

„Sind die Parkplätze kostenlos?“ Noah sah sich um, nachdem er den Wagen irgendwo in eine der Parklücken bugsiert hatte.

„Hase, da kommt schon einer zum Abkassieren“ zeigte Mokuba aus dem Fenster. Da kam eine runde Frau in dunkler Uniform auf sie zu. Wohl der Parkdienst. „Du bezahlst und ich bette den Kleinen um.“

„Gute Arbeitsteilung.“ Noah stellte den Motor aus und öffnete die Tür.

Mokuba sprang ebenfalls raus und ging gleich an den Kofferraum, um die Kinderlimousine aufzuklappen.

„Ich bin froh, dass du mitkommst“ sagte Sareth ihm noch mal. Nun wo sie unter sich und ohne fremde Ohren waren. „Ich hatte wirklich Angst, du willst jetzt nichts mehr von mir wissen.“

„Unsinn, warum sollte ich so blöd sein?“ erwiderte er und sah sie ernst an. „Und du bist dir sicher, dass du dich mit mir abgeben willst?“

„Natürlich, du hast mir riesig gefehlt. Wie kannst du nur glauben, ich wolle dich nicht sehen?“

„Na ja …“ Wie sollte er das treffend ausdrücken ohne sich zu tief reinzureden? „Ich passe ja nun nicht so richtig zu dir. Ich habe gesehen wie besorgt alle um diesen Fischmenschen waren und irgendwie … ich passe eigentlich gar nicht in dein Leben. Ich meine eine Prinzessin wie du und ein Abschaum wie ich. Und der Blick deines Vaters hat mir ja eindeutig zu verstehen gegeben, dass ich …“

„Du sitzt hier aber nicht mit meinem Vater“ unterbrach sie sofort und glänzte ihn mit ihren intensiv blauen Augen an. „Du bist der erste Junge, den ich wirklich richtig mag. Du bist kein Abschaum. Es ist mir egal, wie deine Vergangenheit war. Ich meine, egal ist es mir natürlich nicht, denn du bist mir wichtig. Aber ich … ich weiß nicht wie ich das richtig erklären soll. Ich muss ständig an dich denken und ich … ich mag dich einfach so wie du bist. Und wenn du mir sagst, dass wir nicht zusammenpassen, dann tut mir das weh. Ich finde nämlich, dass wir gut zusammenpassen. Ich meine … wenn du das auch willst.“

„Auf mich kommt es dabei nicht an. Du bist diejenige, die zustimmen muss“ meinte er leise und schweifte zum Fenster hinaus. „Ich kann glücklich sein, dass ein Mädchen wie du überhaupt mit mir redet. Ich meine, du bist der Jackpot und ich … ich habe noch nie was gewonnen.“

„Dann sag so was nicht noch mal“ lachte sie verlegen und haute ihn auf den Arm. Doch natürlich nicht wirklich schmerzhaft. „Und melde dich zwischendurch mal.“

„Wenn du das willst, mache ich das“ versprach er und ihr Herz hüpfte, als sie sein schiefes Lächeln sah. Er wirkte jetzt erleichtert, dass sie ihn nicht abschob. „Du hast mir auch gefehlt, Prinzessin.“

„Du mir auch, Froschprinz“ lachte sie und lehnte sich an ihn. „Ich wollte schon immer mal ein Date auf dem Jahrmarkt haben. Das sieht man sonst nur im Fernsehen.“

„Na ja, ich habe gar keine Glotze“ meinte er und senkte seine Stimme. „Ich wusste gar nicht, dass intelligente Leute wie du überhaupt fernsehen.“

„Natürlich sehe ich fern“ meinte sie überrascht und blickte zu ihm auf. „Hast du echt gedacht, ich gucke nie auch mal was Sinnfreies?“

„Ich dachte, du liest nur.“

„Lesen tue ich viel, aber ich sehe auch gern fern. Am liebsten Telenovelas oder Liebesfilme.“

„Liebesfilme gucken die dummen Weiber bei uns im Gemeinschaftsraum immer. So was findest du gut?“

„Klar, ich bin romantisch veranlagt. Das habe ich von meinem Onkel, der hat mit mir immer Liebesschnulzen geguckt als ich klein war. Das prägt. Ich bin total romantisch und vielleicht finde ich ja bald jemanden, bei dem ich romantisch sein kann.“

„Aha.“ Jetzt bekam er trotz aller Coolness einen fetten Kloß im Hals. Das hörte sie schon an seiner Stimme, sogar in seinem laut besorgten Gedanken. >Und ich Trampel hab wieder voll keine Ahnung.<

„Aber wenn du mir sagst, dass du mich magst, bin ich das glücklichste Mädchen der Welt.“ Und dass sie manchmal einen Gedanken auffing, sagte sie ihm lieber (noch) nicht. Sonst würde er nur Beklemmungen bekommen. Sie legte ihm die Hände an die Arme und rutschte zu ihm auf, blieb ihm ganz zugewandt. Sie wünschte sich, er würde die Gelegenheit endlich nutzen, um sie vielleicht noch mal zu küssen.

„Na, du bist ja einfach zu beglücken“ meinte er und rutschte zurück. „Willst du raus?“

„Aussteigen müssen wir wohl schon irgendwann. Aber mit dir kuscheln ist auch gut. Wie du willst.“

„Ich meine nur, weil dein Onkel die ganze Zeit da draußen steht.“ Tatsächlich war Mokuba so galant und wartete draußen bis die beiden von selbst rauskamen. Er wollte zwar den schlafenden Dante in die Karre setzen, aber die zwei auch nicht stören. Noah löste sein Parkticket mit einem unfreiwillig großen Geldschein und brachte die Parkwächter in wirkliche Probleme beim Wechselgeld, aber Mokuba tat nur so als ob er rauchen wolle.

„Ja, wir sollten wohl aussteigen.“ Schade, sie hätte gern noch etwas in seinem Arm gesessen, aber vielleicht ergab sich später noch eine Gelegenheit. Sie selbst hatte vor ihren Onkels keine Bedenken. Besonders nicht vor Onkel Noah, der wahrscheinlich der einzige war, mit dem man normal über so was reden konnte. Und Mokuba hielt sich mit doofen Sprüchen zurück, der würde auch zuhause dicht halten. Davon abgesehen war Onkel Moki ein fantastischer Lügner. Außerdem wollte sie auf keinen Fall in Edith den Verdacht wecken, dass sie sich für ihn schämte. Je mehr Abstand sie nahm, desto mehr würde er das denken. Also musste sie ihm sogar offen zeigen, wie sehr sie sich über ihn freute.

„Ist es wirklich okay, wenn ich mitkomme?“ fragte Edith und stieg langsam aus.

„Klar, sonst hätten wir ja nicht gefragt.“ Sareth folgte ihm und sah wie Mokuba seine Zigarette austrat und ihr kurz zuzwinkerte. Er hatte also tatsächlich extra gewartet bis er die Tür öffnete und den Kleinen aus dem Sitz pulte. Der schlief dabei einfach weiter, aber würde schon noch früh genug wach werden.

Sareth sortierte sich erst mal, ordnete ihren Rock und den Taschengürtel. Dabei bemerkte sie Ediths Blick auf ihrem Körper, was sie kurz verunsicherte. In diesem roten Dress war sie sehr auffällig, auch wenn die anderen sagten, sie sähe niedlich aus. „Bin ich dir zu overdressed?“

„Wenn das heißen soll, dass du cool aussiehst, dann ja.“ Er steckte die Hände in die alte Jeans und sah sie durchdringend an.

„Overdressed bedeutet eigentlich, dass man zu auffällig für einen schlichten Anlass gekleidet ist. Ich meine …“

„Lass dir nix einreden. Du bist ne Bombe.“

Mokuba konnte jetzt doch sein Kichern nicht mehr verbergen und auch Sareth schüttelte innerlich den Kopf. Das mit den Komplimenten war echt nicht sein Ding.

„Dann bin ich ja beruhigt.“ Aber der Wille war erkennbar.

„So, wir können bis ins nächste Jahrtausend parken und Kleingeld habe ich auch“ verkündete Noah, legte den Parkschein nach vorn und sah dann die beiden Jugverliebten an, die mindestens einen Meter Sicherheitsabstand hielten. „Edith. Schön, dass du mitgekommen bist“ lächelte er dann, während er zu Mokuba rüberging. Er ahnte, dass übertriebene Höflichkeiten bei Edith nur Unwohlsein hervorriefen und deshalb hielt auch er etwas Abstand, damit er sich erst mal an die ungewohnten Menschen gewöhnen konnte. Er erwartete aus der Richtung auch gar keine Antwort. „Häschen, klappt das alles bei dir?“

„Ich habe ihn schon angeschnallt“ antwortete der und schob den kleinen Schlafenden zu ihm herum. „Ich habe auch seinen Saft eingepackt und Wechselsachen. Und sein Sonnenhütchen.“ Welches er ihm in diesem Moment auf das blonde Haar legte. „Ist der Ausflug so genehmigt, Papahase?“

„Ganz wunderbar. Und bei euch? Habt ihr alles?“

„Ja, alles eingepackt“ lächelte Sareth ihren Schwarm an. Doch gerade als sie ihm näherkam, drehte der sich um und ging voraus.

„Da hinten geht’s auf den Glorienplatz.“

Jetzt seufzte sie doch etwas lauter, aber das hörte er nicht. Er war eben kein geübter Gentlemen wie Onkel Noah, der genau jetzt seinen Arm um sie legte.

„Alles okay, Schätzchen?“

„Ja, alles prima. Danke, dass Edith mitkommen darf.“

„Er ist nicht gerade ein Sunnyboy“ schmunzelte er, denn ein solcher würde nicht einfach schon mal vorlaufen. „Aber den biegst du dir noch zurecht.“

„Meinst du?“

„Klar, hast du seine Augen gesehen? Er ist total verschossen in dich. So was sehe ich sofort.“

„Und was siehst du bei mir?“

„Das behalte ich für mich“ lächelte er und küsste ihre Wange. „Aber ich kann verstehen, dass du was an ihm findest. Ich finde ihn auch sehr süß. Ehrlich, ein ganz süßer Bursche.“

„Das habe ich überhört.“ Natürlich war Mokuba nie weit fort und sah Noah sehr prüfend an. „Der ist doch viel zu jung für dich alten Sack.“

„Kommt, sonst läuft er uns noch weg“ und zog Sareth mit sich. Edith ging zum Glück nicht besonders schnell, sodass sie ihn leicht erreichten.

„Onkel Noah“ flüsterte Sareth ihm vertraulich hinauf. „Findest du es schlimm, wenn ich … bei ihm gehe?“

„Nein, immer ran an den Mann.“ Er entließ sie nach vorn und fröhlich hoppelte sie zu ihm. Jeder normale Mensch sah, dass sie gern seine Hand oder seinen Arm nehmen wollte, aber er bemerkte das so wenig, dass sie nur nebenherlaufen konnte. Von Romantik hatte er wirklich keinen Schimmer.

„Waren wir auch mal so?“ seufzte Mokuba, der mit dem Kinderwagen möglichst sanft über den Schotterplatz steuerte.

„Wir? Nein. Nie“ lachte Noah und legte seinen Arm um ihn. „Du hast dich noch offensichtlicher an mich rangeschmissen.“

„Würde ich jetzt auch noch, aber du …“

„Jetzt sag nichts falsches.“

„Dann sage ich gar nichts mehr. Du kannst schieben.“ Er ließ die Karre einfach los und übergab Noah den Chauffeurjob. Er selbst musste erst mal eine neue Zigarette zücken und anzünden.

„Hast du nicht eben schon geraucht?“

„Da musste ich zwei Drittel austreten. Jetzt noch mal richtig.“ Er steckte das Feuerzeug wieder weg, nahm die Zigarette in die andere Hand und hakte sich in Noahs Arm. „Schon ziemlich eifrig wie sie an ihm rumbaggert.“

„Tja, den hat sie sich ausgesucht“ stimmte Noah zu und blickte zu den beiden vor. Was sie zueinander sagten, war nicht zu hören, aber dass Sareth sich sehr zu ihm hingezogen fühlte, war mehr als nur offensichtlich.

„Meinst du das wird was mit den beiden?“

„Das wird man sehen“ beschied er neutral. „Was glaubst denn du?“

„Oberflächlich betrachtet, passen sie überhaupt nicht zusammen“ überlegte Mokuba und atmete seinen Tabak ein. „Aber wenn einen Drachen erst die Liebe ereilt, ist ihm doch eh alles andere egal. Ich glaube nicht, dass wir Sari das ausreden könnten, selbst wenn wir es versuchten. Ich mache mir eher Sorgen darum, was passiert, wenn sie nicht zusammenbleiben können.“

„Du meinst, weil sie irgendwann in die Zukunft zurückmuss“ ergänzte Noah schweren Herzens. „Ja, das macht mir auch Kopfzerbrechen.“

„Ob sie sich darüber überhaupt im Klaren ist? Ich meine, sie weiß doch, dass Edith schlecht mit ihr gehen kann.“

„Wie du schon sagtest, Häschen, dem Drachen ist das egal.“

„Ja, ich weiß. Aber ich hoffe, sie endet nicht wie Tato mit gebrochenem Herzen. Du weißt doch, dass sich diese Art von Menschen selten zwei Mal zu verlieben. Wenn Sari das zu weit treibt, verliebt sie sich vielleicht zu sehr in ihn.“

„Ich glaube, das hat sie schon“ seufzte Noah leise. „Sieh sie dir nur an. Bei ihm öffnet sie sich, blüht richtig auf. Ich bin nicht fürs Kuppeln, aber ihr den Kontakt schlecht zu reden, wäre wohl der falsche Weg. Wir sollten das einfach laufen lassen, denn unterbinden können wir es eh nicht. Wir können ihr nur den Rücken stärken, damit sie nicht etwas Dummes hinter unserem Rücken tut.“

„Positiv denken, mein Hase.“ Mokuba drückte seinen Arm und ging ganz dicht bei ihm. „Wenn es diese Verbindung wirklich geben soll, wird es sie auch geben. Und dann finden die beiden auch einen Weg.“ Doch er musste leise lachen als Sareth versuchte, seine Hand zu greifen, aber er diese schnell in die Tasche steckte und sich wohl dafür schämte, sie angerempelt zu haben. Er merkte offensichtlich nicht, was sie von ihm wollte. „Sobald er was checkt natürlich.“

„Ich weiß ja offiziell nicht viel, aber ich glaube, die beiden sind sich näher als wir denken“ mutmaßte Noahs geschulter Romantiksinn. „Sie würde nicht so offensiv sein, wenn sie sich sehr unsicher wäre.“

„Du meinst, da ist schon was gelaufen? Sari ist doch erst zwölf.“

„Fast 13.“

„Wie auch immer.“

„Es ist ganz normal in dem Alter mit Jungs anzufangen. Außerdem ist sie geistig reifer als andere. Und ich denke auch so reif, dass sie genau weiß, wie weit sie in ihrem Alter gehen kann.“

„Na, ob er das auch weiß?“

„Na ja, ich denke schon, dass er über das mit den Bienchen und Blümchen bescheid weiß. Und auch darüber, dass sie eine gute Erziehung genossen hat.“

„Nein, ich meine er kommt mir nicht so vor als würde er sonderlich scharf auf sie sein. In ‚diesem‘ Sinne meine ich. Sie scheint viel reifer zu sein als er. Er benimmt sich wie ein ahnungsloser Zehnjähriger, der lieber mit Autos spielt als mit Mädchen.“

„Ich glaube, er ist nur gehemmt, weil wir hier sind und ich finde, wir sollten ihm ne Chance geben. Schließlich wissen wir nicht mehr über ihn als dass er wohl aus dem Zirkel kommt und ein Meister in Windmagie ist. Aber was er für Erfahrungen im Umgang mit Menschen gemacht hat, wissen wir nicht. Also schauen wir doch erst mal, was er für ein Typ ist, bevor wir urteilen. Ich denke, wenn Sari ihn mag, muss er ein guter Kerl sein. Sie hat Geschmack bei Jungs.“

„Ja. Schon klar.“ Allein wie Mokuba das sagte, lief dem armen Noah eine Gänsehaut über den Arm. Diesen Tonfall kannte er gut. „Wie du schon gesagt hast, findest du ihn ja wohl ziemlich … wie sagtest du noch gleich? Süß?“

„Häschen, du weißt doch genau wie das gemeint war.“ Oh, da kam gleich ein Schlagloch. Wenn er da rüber fuhr, wachte Dante vielleicht auf … das wäre gerade ganz passend.

„Ich denke mir schon wie du das meintest. Nur verstehe ich es nicht. Was zieht dich zu jemandem hin, der so ungebildet redet und verlottert ist? Vorsicht Schlagloch.“

Mist, Mokuba hatte sein Ablenkungsmanöver verhindert und den Kinderwagen zur Seite gedrückt. Da blieb nur noch rausreden. „Moki, es zieht mich gar nichts zu ihm hin. Ich denke nur einfach, dass er vielleicht trotz allem ein gutes Herz hat. Mehr nicht.“

„Und jeder, der ein gutes Herz hat, ist also automatisch süß, ja?“

„Haaaach, bitte. Lass doch die Eifersucht.“

„Dann lass du die Seitenblicke.“ Und der Griff um seinen Arm konnte gar nicht fest genug sein. „Wenn du auf verlotterte Typen stehst, ändere ich gern meinen Stil. Nur jünger machen, kann ich mich leider nicht.“

„Du weißt doch, dass ich deinen Stil mag. Ich habe nur gesagt, dass ich Edith nett finde.“

„Nein, das Wort war süß.“

„Süß finde ich auch kleine gelbe Küken, da ist nichts zum eifersüchtig werden.“

„Nein, du hast keinen Sinn für Tierbabys. Süß heißt bei dir was anderes. Außerdem warst du derjenige, der ihn am Straßenrand entdeckt hat.“

„Du hast Recht, ich werde Sareth den Freund ausspannen.“

„Mann, jetzt sei doch mal ernst, Noah!“

„Nein, sei du ernst.“ Er sah ihn an, in seine pechschwarzen Augen welche im Sonnenlicht mystisch funkelten. Wie konnte nur jemand mit solch einem intensiven Blick wie Mokuba sich selbst so leicht verdrängt fühlen? Auch wenn Noah wusste, dass sein Schatz nicht absichtlich eifersüchtig wurde, kam dieses Misstrauen manchmal aus den merkwürdigsten Ecken. „Häschen, ich liebe dich. Ja, ich finde Edith hat etwas interessantes an sich, aber …“

„Aha. Danke.“

„Aber!“ Setzte er noch mal ernster an. „Du weißt, dass ich niemals fremdgehen würde. Das kränkt mich ja auch, wenn du mir so was unterstellst.“

„Das habe ich dir auch gar nicht unterstellt.“

„Worauf soll dann diese Diskussion hinauslaufen?“

Darauf musste Mokuba erst mal tief durchatmen und eine Sekunde nachdenken. Er wusste ja gar nicht, ob er überhaupt auf etwas hinauswollte. Es wurmte ihn nur einfach, wenn Noah zu positiv oder zu lange über jemand anderen redete. Dann bekam er das Gefühl, weggeschoben zu werden. Auch wenn er genau wusste, dass das niemals passieren würde. Nur dass er seinen Liebsten mit seiner Eifersucht sehr einengte. „Ich will auf gar nichts hinaus. Schließlich habe ich Edith ja auch eingeladen, mehr sogar als du. Ich habe nur nicht gewusst, dass du ihn süß findest.“

„Dafür hast du dich eben aber gut zurückgehalten.“ Zumindest bis sie unter sich waren. Die öffentlichen Szenen versuchte Mokuba abzustellen und das war ein echter Fortschritt.

„Ich will dich nur daran erinnern, dass du mit mir zusammen bist. Du brauchst außer mir niemanden. Du weißt, dass ich alles für dich tun würde. Das wollte ich nur klarstellen.“

„Verstehe.“ Er lehnte sich zu ihm herunter und flüsterte vertraulich in sein Ohr. „Wenn du mich das nächste Mal an deine Vorzüge erinnern möchtest, darfst du das viel lieber dann tun, wenn wir die Tür zumachen und du das ein wenig freizügiger formulieren kannst.“

„Ich verstehe. Leg dich hin, wir müssen reden. Dafür bin ich dir gut genug, ja?“

„Mokuba, bitte. Du weißt, dass ich nur dich liebe und es keinen Grund gibt, mir irgendwas zu unterstellen. Ich würde uns niemals infrage stellen.“

„Das war jetzt auch nur ein Witz. Ach, Noah.“ Er schmiss seine Zigarette zu Boden und trat kurz drauf, während er weiterlief und seinen Arm um Noahs Taille legte. „Tut mir leid, Hase. Ich zweifele ja gar nicht an dir. Es ist nur … manchmal überkommt es mich einfach. Du bist so wundervoll, du könntest jeden haben. Ich vertraue dir ja, aber du musst wissen … ich würde alles für dich tun. Du musst es nur sagen. Wenn du nichts sagst, kriege ich Angst, dass du Frust schiebst.“

„Du musst nicht eifersüchtig sein. Nicht auf so einen ungeschliffenen Teenager.“

„Ich war auch mal ein ungeschliffener Teenager und das hast du geliebt.“

„Mach dir nicht so viele Gedanken. Das ist überflüssig.“ Auch er legte den Arm um ihn und zog ihn an sich, küsste seine Schläfe. „Ich werde dich nicht austauschen. Nicht in meinem Leben und auch nicht in meinem Kopf. Du hast keinen Grund zu so plötzlichen Eifersuchtsanfällen.“

„Ich weiß. Tut mir auch leid. Das war dumm.“

„Wenn du hören willst, dass ich dich liebe und dich begehre, dann sag es einfach.“

„Liebst und begehrst du mich noch?“

„Mehr als du dir vorstellen kannst, mein Süßer“ lächelte er und küsste seine Nasenspitze. „Du warst jetzt aber schon ziemlich lange nicht mehr eifersüchtig. Wir machen Fortschritte.“

„Ja, nicht wahr? Bist du stolz auf mich?“ Er schämte sich noch etwas für seine abwegigen Gedanken, die eigentlich gar kein echtes Ziel verfolgten. Manchmal musste er nur einfach mal wieder zeigen, dass er noch da war und seinen Noah nicht teilen wollte. Mit niemandem.

„Und wie stolz ich bin, Häschen.“ Er kam seinen Lippen näher, aber gab ihm nur eine sanfte Berührung. Mit gesenkter Stimme setzte er aber leise hinzu: „Aber das mit der Erinnerungshilfe heute Nacht habe ich ganz ernst gemeint.“

„Ah ja, so ist das also“ schmunzelte Mokuba und küsste ihn kurz zurück. „Okay, als Entschuldigung darfst du dir was von mir wünschen. Was immer es sei.“

„Oh, ein Blankoscheck? Du bist aber mutig.“

„Ich vertraue dir eben, Hase.“ Und an dem Ding mit der Eifersucht arbeitete er weiterhin. War ja auch fies, ihn aus dem Nichts mit solchen Sachen zu überfallen. Da hatte er sich etwas Wunsch-Sex doch verdient.

Chapter 6 - 10

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Chapter 11 - 15

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Chapter 16 - 20

Chapter 16
 

Der größte Teil des Aquariumgeländes war abgesperrt und beamtete, eingeweihte Wachposten aufgestellt. Auch wenn aufgrund der für Menschen unsichtbaren Engelsgarde keine fremde Magie eindringen konnte, wollte man dennoch sicher sein, dass niemand unerlaubt dem Sterbenden nahe kam. Neben der Pharaonenfamilie durften nur wenige ausgesuchte Pfleger das Areal betreten, um die Tiere zu versorgen und die Technik zu warten. Jeder Ein- und Ausgang wurde persönlich kontrolliert und als die Wachen die Autos mit den Pharaonen sichteten, öffneten sie die Tore und winkten anstandslos durch.

Obwohl jeder aufgeregt war und besonders Seto am ganzen Körper zitterte, glich ihre Karawane einem Trauermarsch. Wenn selbst die Heilungsgöttin die Hoffnung aufgab, dann standen die Chancen denkbar schlecht. Es war ein Wunder, dass Sethos überhaupt so lange überlebt und sich gegen das Gift behauptet hatte, doch nun unterlag er in seinem letzten Kampf. Das Kraft des Apophis war selbst von Göttern gefürchtet und man musste dankbar sein für die Gelegenheit, jemandem nochmals mehr oder weniger lebendig zu begegnen, der gebissen wurde. Es war keine Schande, dass Sethos unterlag, aber dennoch eine persönliche Katastrophe für jeden, dem er etwas bedeutete. Die priesterlosen Pharaonen verloren ihren Schutz, die Götter verloren Rahs Sprecher, die Engel verloren ihren Patronen, die Drachen verloren einen Bruder und die Menschen einen treuen Beistand. Es war ein Verlust in jeder Hinsicht und dennoch würde er aus allen Welten verschwinden als hätte es ihn niemals gegeben. Er ließ nichts zurück, was an ihn erinnerte. Außer dem Gefühl der Leere.
 

Der Raum mit der gemütlichen, kleinen Tribüne war heller erleuchtet als an Besuchertagen, ebenso das große Haifischbecken, dessen Wasser rosa schimmerte. Die Kinder wollte man nicht aus dem Kindergarten holen und mit dem Tod konfrontieren. Dakar war aber bereits auf dem Wege um Tato abzulösen, damit der möglichst früh Abschied nehmen konnte. Er würde es sich als Sethos‘ Bruder nicht verzeihen, nicht noch mal bei ihm gewesen zu sein. Doch Mokuba und Tristan würde man erst im Kindergarten ablösen, wenn die Ersten zum Gehen bereit waren. Für Kinder wäre dieser Anblick auch eher traumatisierend, denn auf dem Sandboden lagen reglos drei Riffhaie, der vierte trieb mit dem Kopf nach unten und berührte nur mit seiner Schnauze den Grund. Bei näherem Hinsehen war der Boden übersät mit kleineren Fischen. Alles Leben in dem Becken war verendet an dem Blut, welches das Gift aus dem Körper schwemmte. Und ganz vorn an der Scheibe, dort wo Amun seine Stirn ans Glas drückte, dort lag Sethos. Seine Augen waren geschlossen und seine Wangen eingefallen, sein Mund stand einen Spalt offen. Die Haut seines Körper fahl und die sonst so kräftige Statur war nunmehr ein Schatten ihrer selbst. Das weiße Tuch, welches sie ihm um die Blöße geschlungen hatten, verlor langsam den Halt, da seine Muskeln schwanden und das Gift seinen Körper auszehrte. Seine Beine waren dünn und sein mächtiger Brustkorb zeigte nur noch dürre Rippen. Er lag mit dem halben Gesicht im Sand, seine knochigen Flügel locker an den Rücken gelegt. Aus seinem Mund, aus den Kiemen und aus dem verletzten Flügel stiegen kleine Blutpulse wie Rauch ins Wasser. Sein Herz schlug noch mit letzter Kraft.

Die Trauer drückte an die Wände des Raums. Während Amun vorn an die Scheibe gepresst harrte, saßen Sethan und Balthasar auf den Polstern des Besuchertreppchens und harrten ihrer Gedanken bis die anderen eintraten. Allen voran schritt Seto zu Amun, welcher sich erhob und ihn in den Arm schloss. Noch niemals hatte man den positiven und optimistischen Sonnengott so niedergeschlagen gesehen. Angesichts dieses Verlustes konnte selbst er kein fröhliches Gesicht aufziehen.

Auch die zwei anderen standen auf und begleiteten die Eingetroffenen zur Scheibe, wo sie hindurchblickten und sich hilflos fühlten. So vieles konnten sie zum Guten wenden, doch Sethos konnten sie nicht helfen.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Yami und legte seine Hand an das Panzerglas. „Wir können nicht ins Wasser, um ihn zu berühren, oder?“

„Besser nicht. Wir würden wahrscheinlich enden wie die Fische“ antwortete Balthasar. „Sie verwesen und wenn du durch die Tür hoch gehst, stinkt das Wasser erbärmlich.“

„Warum sterben die Fische jetzt erst?“ fragte Joey sich. Insgeheim suchte er noch immer nach einer Lösung. Es gab immer eine Lösung - man musste sie nur finden! Und das rechtzeitig! „Die Putzerfische haben doch sogar sein geronnenes Blut aufgepickt. Warum sterben jetzt alle Fische und vorher nicht?“

„Weil sein Körper das Gift jetzt nicht mehr neutralisieren kann. Er ist zu schwach“ antwortete Balthasar leise. „Ich kannte Sethos nicht besonders gut, aber ich … ist es anmaßend, wenn ich sage, dass ich ihn vermissen werde?“

„Amun, es tut mir so leid“ flehte Sareth mit leisem Stimmchen zu. Sie stand direkt neben ihm und doch wagte sie es nicht, ihn zu berühren oder seinen Blick zu provozieren. „Es tut mir so unendlich leid. Ich hätte ihm nicht reinpfuschen dürfen. Dann wäre das alles nicht passiert. Er hätte Apophis besiegt.“

„Er hat ihn besiegt, mein Schatz.“ Seine Stimme enthielt keinen Groll und keinen Vorwurf. Er gab ihr keine Schuld, er gab niemandem Schuld. Doch die Tatsache, dass er nicht beschützen konnte, was ihm am teuersten war, das würde er lange nicht verkraften. Man sah ihm an, dass er seit Tag und Nacht keinen Schlaf fand und keinen Appetit hatte. Er schien müde und abgekämpft und doch konnte er sich nicht dazu zwingen, an etwas anderes als einen Ausweg vor diesem unvermeidbaren Verlust zu denken. Er konnte nichts tun. Nichts. Er als höchster Gott war machtlos.

„Auch wenn es dich vielleicht wenig tröstet“ sprach Yugi und legte den Arm um Amuns Hüfte, „wir lieben ihn auch und sind für dich da.“

„Danke.“

Dann entstand ein langer Moment der Stille. Was sollte man auch groß sagen, wenn man hilflos zusehen musste wie ein mächtiges Wesen verendete und verschwand? Von Sethos würde nur sein verletzter Körper bleiben und auch dieser würde irgendwann zu Erde verfallen. Er hatte kein Herz, welches seine Seele erhielt. Es gab keinen Ort, an den er gehen konnte.

„Amun-Re“ sprach Seto fast lautlos. „Gibt es irgendetwas, was ich tun kann? Was es auch sei?“

„Nein, du kannst nichts tun“ antwortete er mit flacher Stimme.

„Wenn es etwas gäbe, würdest du es mir doch sagen. Wenn ich ihm Kraft geben könnte oder etwas Lebenszeit. Wenn ich seine Seele in meinem Körper aufnehmen könnte. Irgendetwas. Wenn jemand etwas tun kann, dann ich. Ich bin ihm am ähnlichsten. Meine Magie ist seiner ähnlich. Also wenn es etwas gibt, dann musst du es sagen.“

„Es gibt nichts, Eraseus. Du kannst nichts tun.“

„Es tut mir leid.“ Sareth brach in Tränen aus und versank in Yamis Arm, der sie trösten wollte. „Es ist alles meine Schuld. Hätte ich nicht …“

„Nein, niemand ist schuld außer mir selbst“ unterbrach Amun und sah sie verkniffen an. Es kostete ihn viel Beherrschung nicht auch zu schluchzen.

„Du konntest ja auch nicht anders“ erwiderte Yami. „Du musstest Sethos schicken. Sonst weiß der Geier was Apophis getan hätte. In diesem mächtigen Götterkörper hätte er …“

„Nein, meine Schuld beginnt viel früher. Und sie wiegt viel schwerer.“ Er blickte das blasse Geschöpf in dem rosa Wasser an und blickte doch in diesem Augenblick in sein eigenes innerstes Selbst. „Er wurde zu mir gesandt, damit ich ihn auf die Erde gebäre. Er sollte kein Priester sein, sondern der erste Pharao. Hätte ich ihn geboren, dann hätte seine Seele ein Herz freigegeben, hätte ihn an die Erde gebunden und er könnte nach dem Tode zu mir zurückkehren. Doch ich habe nicht nur der Welt den Frieden gestohlen und meinem Bruder den Sohn. Ich habe ihm auch das Recht auf ein unsterbliches Leben gestohlen. Und wenn er nun geht, dann bricht mein Herz verdient.“

„Bei allem Respekt, aber du redest Unsinn“ sprach Seto sehr ernst. Über diese Worte wich sogar für einen Augenblick die Trauer aus seinem Ausdruck. „Sethos hat dich geliebt und er wusste, was er für dich aufgab. Er tat es freiwillig und er war immer glücklich bei dir. Er hat sich für dich entschieden und gegen das Menschsein. Weil er es so wollte.“

„Ich hätte auf ihn einwirken müssen. Ich hätte ihn seiner rechtmäßigen Bestimmung zuführen müssen. Doch stattdessen habe ich meinen Bruder betrogen und der Welt meine Schuld aufgeladen. Ich setze mich über alles hinweg und anzunehmen, dass dies nicht irgendwann abgestraft wird, war so töricht. Ich bin ein Thor, nichts mehr. Wie kann ich mich Sonnengott nennen, wenn ich nichts als Verderben bringe?“

„Sethos wollte nicht von deiner Seite weichen. Nicht einen einzigen Tag“ hielt Seto mit starker Stimme dagegen. Denn er wusste ganz sicher, dass Sethos nichts und niemanden so sehr liebte wie seinen Gott. „Er wollte kein Leben auf der Erde, wenn es bedeutet hätte, sich von dir zu entfernen. Eine Geburt hätte ihn verändert und er wollte genau das Leben, welches er mit dir geführt hat. Vielleicht hat er sein Dasein nicht immer genossen, aber er wollte sich nicht durch eine Geburt verändern. Er wollte, dass zwischen euch alles so bleibt, wie es ist. Das war sein Wunsch, nicht deiner.“

„Er wollte sicher niemals den Hass seines Vaters und die ewigen Schuldgefühle. Und er wollte niemals das Gefühl, anders zu sein. Er wollte dazugehören. Zu den Menschen. Und ich habe ihm das versagt.“

„Du hast ihm seinen freien Willen geschenkt. Er hat sich für dich entschieden und damit gegen die Welt und gegen das Menschsein. Weil er dich liebt! Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen der Unsterblichkeit oder der Normalität oder dem Dazugehören auf der einen und Yugi auf der anderen Seite, dann würde ich alles aufgeben oder es ablehnen, etwas anderes zu erreichen. Lieber plage ich mich mit Schuldgefühlen und dem Anderssein und dem Hass von anderen als auch nur einen Tag zu viel von dem Mann getrennt zu sein, den ich liebe. Ich würde alles tun, um bei Yugi zu sein. Und Sethos hat genauso gefühlt. Nur deshalb hat er sich über Leben und Tod hinweggesetzt und mich auf die Erde zurückgebracht. Weil er wusste wie ich fühle. Und weil er wusste, dass er für dich genau dasselbe täte.“

„Du solltest lieber nicht so leichtfertig davon sprechen“ flüsterte er und wandte sich ab, sodass man seine Stimme kaum hörte. „Es hat einen Sinn, weshalb Tote tot bleiben sollen.“

In diesem Moment schrak Sethan hoch und entfernte sich einige Schritte von der Gruppe. Doch es war nichts dort im Wasser oder bei den anderen, was ihn alarmierte, sondern die Gestalt, welche die Tür öffnete und eintrat. Äußerlich war es Tato, der planmäßig eintraf und dennoch jemand ganz anderes. Normalerweise füllte diese dunkle, verruchte Aura die Umgebung so schwer, dass jedem Menschen der Atem stoppte, aber nun war diese Aura fast normal. Dennoch sah und spürte jeder, dass dort nicht ihr Tato stand, sondern derjenige, den Sethan die ganze Zeit jagte.

Seth, sein Vater.

Er trat gelassen in den Raum und nur seine unnatürlich blauen Augen verrieten seine Identität. Das war Tatos Körper aber nicht er selbst. Er war besessen von seinem eigenen Schöpfer.

Seth blickte intensiv und doch undeutbar auf die Gruppe bis er seinen Bruder fixierte und seine Lippen ein zufriedenes Lächeln zeigten.

„Das ist unfair!“ Sethan stellte sich in seinen Weg und damit frontal vor ihn. Es war gefährlich, sich ihm in den Weg zu stellen und doch tat er es ohne nachzudenken. So lange wartete er auf ihn und nun erschien er in dieser Form. „Du hast meine Macht missbraucht und Apophis geschickt! Du weißt genau, dass ich auf DICH warte! Und jetzt tauchst du hier auf und bist zu feige, mir direkt gegenüber zu stehen?!“

„Das hat mehr mit Intelligenz zu tun als mit Feigheit.“ Seine Stimme war ruhig, kein Zeichen von Wut oder Bitterkeit. Doch wer ihn auch nur ein wenig kannte, der wusste, dass seine Worte und seine Körpersprache trügten. Er konnte einen anderen inniglich küssen und ihm gleichzeitig die Zunge abbeißen. Sein Lächeln bedeutete nichts und ein gelassener Stand ebenso wenig.

„Komm aus diesem Körper raus!“ schrie Sethan ihn an. Ungewöhnlich, dass er so viele Emotionen zeigte, doch nun war er deutlich angespannt und wütend. „Stell dich mir wie ein Mann und verstecke dich nicht hinter meinem Onkel! KOMM DA RAUS!“

„Zwing mich doch.“ Er legte seinen mystischen Blick auf ihn und war sich seiner Sache sehr sicher. „Ich bin überzeugt, du wirst Sato nicht töten wollen, aber tust du es doch, kannst du mich jetzt ganz einfach fangen. Sei ein Mann und nutze deine Chance. Du musst dich nur überwinden und deinen Bruder töten. Es ist ganz einfach.“

Deshalb war er so ruhig. Er wusste genau, dass Sethan seinem Onkel Tato nichts antun wollte. Er müsste ihn töten, um an die Götterseele zu gelangen. Mit dieser Gewissheit war er ein planbares Risiko eingegangen. Sethan ballte die Fäuste, schnaufte und rang mit seinen Gefühlen. Er war in diese Zeit gereist um beide Zwillingsgötter gefangen zu nehmen und in seinen Befehl zu stellen. Rah hatte sich bereitwillig fangen lassen, doch seinen dunklen Bruder festzusetzen, war ein beinahe unmögliches Unterfangen. In diesem Moment bot sich eine einmalige Gelegenheit. Er konnte all dem jetzt sofort ein Ende setzen. Doch dies bedeutete, dass Tato kampflos sein Leben ließ.

„Ich wusste es“ hauchte Seth und ließ ihn stehen. Er schritt einfach an ihm vorbei und auf die anderen zu.

„Ey, was soll das?“ Und Joey konnte mal wieder nicht die Klappe halten. „Warum kannst du hier so rumlaufen? Wo ist deine Aura?“

Anstatt eine Antwort zu hören, hörte Joey nur den Knall des Windes in den Ohren, schlug an die gegenüberliegende Wand und stürzte auf den Boden. Sein Kopf war schwindelig und er fühlte etwas Warmes den Hals hinunterlaufen. Er hörte Narlas Stimme, bevor ihn das Bewusstsein verließ.

Seto wollte Narla zwar gern folgen und nach Joey sehen, doch er folgte dem stärkeren Instinkt, griff Yugi und stellte ihn hinter sich. Auch Yami krallte er sich, drückte beide zwischen sich und dem Panzerglas ein und verdeckte sie vor der Gefahr. Gegen seinen Gottvater konnte er sicher nie gewinnen, doch er wäre sicher stärker als Tatos Körper. Oder …?

„Warum Tato?“ fragte er. Berechtigt, denn … „In meinem Körper wärst du mächtiger. Warum er? Warum sprichst du nicht durch mich?“

„Weil ich dem Irrglauben aufgesessen bin, ich hätte einen Wert für dich.“

„Was soll das? Warum sagst du das? Ich dachte, wir hätten Frieden geschlossen.“

„Das glaubte ich auch.“ Nun hörte man die altbekannte Verbitterung in der tiefen Stimme. Enttäuschung, jahrelange Einsamkeit und das Misstrauen gegen alles. „Bis du mir erneut davonliefst.“

„Ich laufe nicht vor dir davon. Warum siehst du mich nicht an?“

„Du bist der Einzige, dessen Körper er nicht besetzen kann“ beantwortete Sethan diese Frage. Wenn er ihn schon nicht fangen konnte, so wollte er ihm wenigstens die Tour vermasseln.

„Aber du warst schon in Setos Körper“ meinte Mokeph. „Selbst als er unter dem Orichalchos-Fluch ein Kind war. Das war für dich nie ein Problem.“

„Doch nun hat Seto kein Herz mehr, mit welchem du in Verbindung treten kannst.“ Wenigstens indem er diese Machtlosigkeit des Mächtigen verriet, spürte Sethan eine gewisse Genugtuung. „Setos Herz ist durch Yugis Obhut vor jedem Zugriff geschützt. Selbst ein Gott kann diese pharaonische Kraft nicht überwinden. Und deswegen musst du mit Onkel Tatos Körper Vorlieb nehmen und dich durch meine Aura unterdrücken lassen. Ist es nicht so? Vater?“

Darauf antwortete er nicht. Er blickte Sethan nur an. Einfach nur ein Blick aus endlos blauen, endlos tiefen Augen.

„Weshalb bist du hier?“ mischte sich nun Amun-Re ein. Denn dass sein Bruder grundlos ein solches Risiko einging und sich in Sethans Wirkungskreis begab, nahm er nicht an. Er bewegte sich nur mit einem Motiv.

„Willst du raten?“ Dann kehrte ein Lächeln auf sein Gesicht zurück. Ein falsches Lächeln, denn seine Augen drückten nichts aus.

„Seinetwegen.“ Er tat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf Sethos frei. Ob der überhaupt wahrnahm, dass sein Vater gekommen war?

„Weiter“ bat der mit einem Nicken.

„Weiter weiß ich es nicht.“ Er faltete die Hände und atmete tiefer durch, sammelte sich. Er musste jetzt stark bleiben. „Da du mich nicht angegriffen hast, gehe ich davon aus, dass du ausnahmsweise mal nicht auf deiner ewigwährenden Mission bist, mich zu töten. Vielleicht bist du hier, um dich an meinem Schmerz zu weiden. Ich hoffe jedoch, du bist gekommen, um ihn endlich von seinen Schuldgefühlen freizusprechen. Ich weiß nicht, ob er uns hört, doch wenn er es tut, dann weiß ich, dass ihm deine Worte viel bedeuten würden. Ich weiß, du liebst ihn. Und du würdest ihn nicht in Unfrieden sterben lassen. Das hoffe ich. Und wenn Hoffnung nicht genügt, so bitte ich dich darum.“

„Ob er stirbt oder nicht hängt ganz von dir ab.“ Er legte die Arme übereinander und sah seinen Bruder bedächtig an. Amun-Re antwortete ihm nicht, denn wenn sein Bruder etwas zu sagen hatte, so würde er es nur tun, wenn man ihn nicht drängte. Und so wartete er fast eine ganze, lange, unendlich lange Minute der Stille ab bis er weiter sprach. „Ich bin hier, um dir einen Handel vorzuschlagen, Re.“

„Einen Handel.“ Das konnte positiv sein. Ebenso das Gegenteil. Mit dem dunklen Seth zu handeln, war ebenso gewinnbringend wie verderblich. „Du willst um das Leben deines Sohnes handeln?“

„Um seines oder um ein anderes. Suche dir eines aus.“ Er drehte aus seiner entspannten Pose die Handfläche nach oben und ließ über seinen Fingerspitzen ein längliches Gefäß erscheinen. Erst war es ein gräulicher Nebel doch dann verfestigte sich der Gegenstand und bildete ein Röhrchen. Über seinen Fingerspitzen schwebte eine kristallene Phiole. Sie war in sich gedreht, wie ein kleiner Wirbel aus Glas und Eis und so funkelnd wie frischer Schnee. Ein wenig wie ein Eiszapfen mutete das Gefäß an, zerbrechlich, ein kleines Wunder. Und tief in seinem Kern eine weiße Flüssigkeit, welche sich immerzu in Richtung des Wirbels drehte.

„Was ist das?“ Amun-Re schluckte. War es das, was er hoffte? Das, wonach sich selbst ein Handel lohnte?

„Ein Antidot“ antwortete der Seth triumphierend, ob seiner Überlegenheit. „Ich allein habe Apophis geschaffen und ich allein kann sein Gift unwirksam machen. Diese Phiole enthält das Leben, welches um welches du bangst.“

Jetzt schluckte Amun-Re noch deutlicher und seine Mundwinkel zuckten. Es gab keinen Grund, an der Echtheit dieser Flüssigkeit zu zweifeln. Doch sie zu bekommen, wäre weniger leicht. „Du bist hier, um ihn zu retten. Du würdest ihn nicht wirklich sterben lassen.“

„Willst du es ausprobieren?“ Er drehte die Phiole über seinen Fingern und hielt sie dann zwischen Zeige- und Mittelfinger fest. „Handle mit mir und ich gebe dir, was du dir wünschst. Handle nicht und nimm seinen Tod in Kauf. Es liegt an dir.“

„Du hast gewusst, dass es so kommen würde. Du hattest von Anfang an vor, mich in die Enge zu treiben.“

„Um ehrlich zu sein, bin ich davon ausgegangen, dass Sethos und Apophis sich nicht begegnen. Der Ort, an welchem Apophis erschien, war nicht der, welchen er wählte. Die Engel haben seinen Weg abgeleitet und ihn in eure Arme getrieben. Ich habe geahnt, dass Sethos ein gefährliches Hindernis für ihn sein würde, also bat ich Seth für diesen Fall dazu.“

„Du hast Seth das Götterwandeln beigebracht“ erwiderte Amun-Re, welcher nun sichtlich angespannt war. „Wenn du ihn unterrichtest, wozu braucht er dann noch Apophis? Was hast du mit dieser Verbindung vor?“

„Möchtest du dich über Seth und Apophis unterhalten?“ Die Eisphiole in seiner Hand glänzte und funkelte und er war sich darüber bewusst, dass er nahe am Ziel war. Die Dinge standen zu seinem Besten.

„Was willst du für das Antidot haben?“ Er wollte alles dafür geben. Doch er wusste nicht, ob er alles geben konnte.

„Ein Leben im Tausch.“

„Wessen Leben?“

„Ein Leben, welches ich mir aussuche. Ich werde es mir holen und ich erwarte dann, dass du nichts tust, um mich zu hindern oder es mir wieder zu nehmen.“

„Wessen Leben?“ wiederholte er. Menschenhandel war ihm verhasst. „Wen forderst du? Seth? Oder Ilani? Enaseus oder mich? Oder Sethan? Ein Engelsleben? Yrian? Oder einen meiner Götter? Oder jemanden, der mit uns nicht in Kontakt steht? Rede, verdammt!“

„Ein Leben“ wiederholte er ebenso, jedoch stimmlich ruhiger. „Wen ich mir auswähle, muss ich dir nicht sagen. Rette deinen nutzlosen Priester und gib mir dafür jemand anderen.“

„Ich kann dir nicht einfach ein anderes Leben überlassen. Schlimm genug, dass du dir die Verdammten nimmst. Ich werde dir niemals einen Menschen mit reinem Herzen überlassen.“

„Gut, dann gehe ich.“ Er nahm die Phiole in seine Faust und setzte damit einen Punkt, von dem er nicht wich.

„Wir hatten bereits den Deal, dass du Menschenleben für jeden Drachen bekommst. Und als Narla Drachen tötete, hast du deine Forderung nicht einmal geltend gemacht! Ich kann beeinflussen, dass niemand deinen Drachen nahe kommt. Aber ich kann dir nicht einfach ein unschuldiges Leben überlassen ohne mitwirken zu können. Nimm dir erst mal die Leben, die dir zustünden!“

„Ich will aber keine Leben, die du mir zuteilst.“

„Du bekommst Leben von mir. Das war der Handel! Wenn du nicht richtig verhandelst und ausformulierst, ist das nicht meine Schuld!“

„Und wenn du deinen Geliebten in den Tod schickst, ist das ebenso wenig meine Schuld. Re, mein Bruder.“

Während Seth gelassen und klar blieb, kochte in Amun-Re eine seltene Wut auf. „Du willst mich missbrauchen, indem du Eleseus rettest. Du willst daraus auch noch Profit schlagen, wenn du ihn sowieso heilst!“

„Wenn du dir da so sicher bist, dann lehne den Handel ab.“ Er lächelte ihn an und wusste um die Unsicherheit in seinem Bruder. Ob oder ob er nicht noch etwas für seinen ersten Sohn empfand, wusste er nur selbst. Und vielleicht nicht mal das.

„Eleseus würde das nicht wollen“ sprach er, doch man hörte, dass er sich noch niemals so unsicher gewesen war. Es war seine Pflicht als Sonnengott, das Wohl der Vielen über das des Einzelnen zu stellen. Doch war es nicht auch seine Pflicht als Liebender, seinen Geliebten über alle anderen zu stellen? Als Sonnengott stellte er Gebote auf, an welche er sich selbst ebenso hielt wie er es von anderen erwartete. Er entschied häufig gegen sein Herz und zum Wohle der Menschen. Doch sein Priester war der Schwachpunkt in seinem selbst.

„Ich würde mich für ihn opfern“ sagte Yami und trat hinter Setos schützendem Rücken vor. „Wenn er mein Leben fordert, übergebe ich es ihm. Ich würde für Sethos sterben.“

„Ich ebenso“ schloss sich auch Nika sofort an. „Sethos ist jemand, auf den weder Amun noch die Welt verzichten können. Amun, wenn er mein Leben fordert, übergebe ich es ihm.“

„Dem muss ich mich anschließen“ sagte auch Mokeph. „Ich wäre traurig, meine Frau und meine Kinder zu verlassen. Doch ich würde für meine Familie und für meine Freunde sterben. Und für Sethos allemal. Wenn er mein Leben fordert, übergebe ich es ihm.“

„Ich auch.“ Auch Sareth trat zu Amun-Re und sah ihn entschieden an. „Ich bedeute dieser Welt gar nichts. Außerdem bin ich nicht unschuldig an dieser Sache. Ich würde für Sethos sterben. Wenn er mein Leben fordert, übergebe ich es ihm.“

„Dasselbe gilt für mich. Und ich bin mir sicher, für Joey ebenso.“ Narla hielt den bewusstlosen Joey in den Armen, aber auch sie versicherte ihren Beistand. „Wir würden für Sethos eintreten. Ganz egal, was das bedeutet. Wenn er unser Leben fordert, dann übergeben wir es ihm.“

Dem schlossen sich auch millionen andere an. Neben Sethan erschien ein goldener Rauch und darin stehend die schimmernde Statur eines jungen Mannes. Auch wenn er nicht vollständig sichtbar wurde, war Yrian dennoch an seiner weichen, angenehmen Stimme zu erkennen. „Ich spreche für alle Engel in der hierigen und der anderen Welt. Jeder von uns, jeder einzelne, würde ohne Zögern für unseren Patronen eintreten. Denn niemand ist es mehr wert als Eleseus Sethos, der Schützer unseres Gottes, von Pharaonen, Werten, Menschen und Engeln. Wenn er ein Engelsleben fordert, werden wir es ihm übergeben.“

„Wie emotional“ kommentierte Seth diese schwülstigen Liebesbekundungen. Er öffnete die Faust und ließ einen neuen Blick auf das kunstvolle, wertvolle Gegengift zu. Es lag bei Amun-Re allein. Ging er das Risiko ein, dass der Sonnenpriester von seinem Gottvater ohnehin errettet wurde, weil dieser ihn trotz allem liebte? Oder ging er das Risiko ein, dass sein Geliebter dem Tode erlag und auf ewig verblasste?

„Wir würden alle für Sethos eintreten“ sprach Yugi und nahm Seto an der Hand. „Du brauchst Sethos mehr als irgendjemand anderen, Amun. Nika hat Recht, die Menschen und die Götter können auf jeden verzichten. Aber du kannst nicht auf Sethos verzichten. Niemand kann auf ihn verzichten, weil er eine zentrale Rolle im Weltgefüge einnimmt. Selbst wir Pharaonen sind ersetzlich, aber ein Wesen wie ihn gibt es kein zweites Mal. Ich will nur für mich sprechen, aber wenn der Urseth mein Leben fordert, übergebe ich es ihm.“

„Und wenn Yugi es erlaubt“ reihte sich auch Seto ein. „Ich würde es mir niemals verzeihen, mein Leben höher zu werten als seines. Wenn Yugi es zulässt, übergebe ich auch mein Leben, sollte er es fordern.“

„Hast du nicht eben noch gesagt, du würdest alles tun, um bei Yugi zu bleiben? Und nun würdest du dich so einfach opfern?“ fragte Amun-Re, der noch immer mit sich rang. „Eleseus würde sich nicht für dich opfern. Für niemanden würde er sich opfern.“

„Für niemanden außer dich“ ergänzte Yami und griff seinen Arm, sah ihm direkt ins Gesicht. „Er würde sich für dich opfern und damit zum Wohle von uns allen. Geh den Handel ein.“

„Und wenn er Eleseus ohnehin retten will?“

„Willst du das riskieren?“

„Er würde es sich niemals verzeihen, wenn jemand für ihn stirbt.“

„JEDER würde freiwillig für IHN sterben.“

„Es gibt viele Menschen, die das nicht tun würden.“

„Die würde der Seth auch ohne Handel bekommen. Er will die Menschen, die sich für andere aufopfern und für andere eintreten. Menschen, die seinen Verführungen nicht erliegen. Selbst wenn es jemand ist, der Sethos nicht kennt! Vielleicht eine Medizinfrau aus den Tiefen des Urwaldes. Oder ein afrikanisches Straßenkind mit reinem Herzen. Oder eine Meerjungfrau, wenn’s die überhaupt gibt. Niemand sagt, dass es jemand von uns ist, obwohl jeder - J E D E R - von uns für Sethos sterben würde. Es gibt millionen von Menschen, die sich für Sethos hergeben würden. Menschen, die uns nicht kennen und die wir nicht kennen. Aber Menschen, die verstehen, wie wichtig und wie aufrichtig dein Priester ist. Er opfert sich für dich und somit für alles Leben auf dieser Erde. Und ich glaube fest daran, dass die Menschen ihm das danken würden. Viele würden es nicht tun. Aber viele würden es tun. Du darfst ihn nicht sterben lassen, weil du zweifelst. Zweifle nicht an den Menschen, das ist nicht deine Art. Glaube daran, dass die Menschheit so fühlt wie wir. Ein einziges Menschenleben für alle die, welche durch Sethos gerettet wurden und werden. Wenn du Sethos‘ Leben aufwiegst gegen irgendein beliebiges auf dieser Welt oder in der Götterwelt, dann würde seines immer auf der senkenden Schale liegen. Setze eines, nur ein einziges für ihn ein.“

„Du hast deinen Priester verstoßen, Atemu. Er ist wieder frei. Was, wenn er ihn fordert? Würdest du ihm Seths Leben geben?“

„Dann soll es so sein“ nickte Yami überzeugt. „Ich wäre am Boden zerstört, sollte er Seths Leben fordern. Aber mein Sethi, der echte, wahre Seth, den ich liebe, auch er würde sich für Sethos opfern. Davon bin ich überzeugt.“

„Und Finnvid? Er ist dein Geliebter und er macht dich glücklich? Würdest du ihm sein Leben geben?“

„Jedes“ schwor Yami mit fester Stimme. „Ich würde ohne zögern jedes Leben für das von Eleseus Sethos eintauschen. Ohne Ausnahme.“

„Er würde es sich niemals verzeihen“ flüsterte Amun-Re den Tränen nahe.

„Amun-Re!“ schrie Yami und schüttelte ihn, damit er zur Vernunft kam. „Sethos stirbt, wenn du nichts tust! Wir wollen ihn retten und du willst es auch! Geh den Handel ein!“

„Tu es“ sprach dann auch Sethan und wandte sich zu dem Sonnengott um. „Ich bin mir sicher, dass er mein Leben nicht will. Und wir brauchen Eleseus. Wenn er stirbt, war alles umsonst. Allein das rechtfertigt jedes verlorene Leben.“

Der Sonnengott senkte das Gesicht und atmete tief in sich hinein. Er wollte nicht irgendein Leben opfern. Nicht das eines Menschen, eines Engels oder eines Gottes. Doch die anderen hatten Recht, sein Sohn Atemu allen voran. Wenn er das Leben seines Priesters in die Waagschale legte und auf die andere Seite das eines beliebigen anderen Wesens - Eleseus Sethos würde stets schwerer sein. Und so fand er seine Entscheidung.

Er hob sein Haupt, strich sich das Haar aus dem Gesicht und trat auf seinen Bruder zu bis er nur eine Armlänge von ihm entfernt stand. „In Ordnung.“ Er streckte ihm die Hand entgegen und erwiderte seinen rätselhaften Blick. „Ich gestatte, dass du ein beliebiges Leben erwählst und ich werde nichts tun, um dich daran zu hindern oder es zurückzuholen. Und im Gegenzug erhalte ich von dir das Antidot, welches das Leben meines Priesters rettet.“

„Wie ich es erwartet habe.“ Er hatte somit, was er wollte und gab auch seinem Bruder, was der sich ertrotzt hatte. Er übergab die feine Phiole mit dem in sich drehenden, weißen Gegengift in Amun-Res Hände und genoss den Moment des vollkommenen Triumphes. Denn er wäre nicht der Herr aller Trüge, hätte er nicht noch ein Ass im Ärmel.

Er wartete bis sein Bruder den Blick brach und sich zum Aquarium aufmachte bis er seine Stimme nochmals anhob. „Und Re?“ Nun zierte ein echtes Lächeln seine Lippen, denn seine Saphire blitzten erfreut. „Gib mir noch etwas dazu und ich sage dir, wie man das Antidot anwendet.“

Wie vom Donner gerührt stockte allen der Atem. Das war ein Handel mit Hintertür.

Ganz langsam drehte Amun-Re sich zu ihm zurück und schloss die Faust um das glitzernde Eisgefäß, welches soeben von der Rettung zur Gefahr geworden war. Denn sein Zwillingsbruder hatte ihm keinen Hinweis zur Verabreichung gegeben.

„Wie man es anwendet“ wiederholte er bestürzt. Wie konnte er sich nur von solch einem billigen Trick täuschen lassen?

„Falsch angewendet kann es einen sehr schmerzvollen Tod verursachen. Jahre unendlicher Qual. Der letzte, der es erhielt, war ein abtrünniger Dämon.“

„Syron“ hauchte er. Ja, von dem hatte er vieles berichtet bekommen.

„Was war mit Syron?“ fragte Sethan skeptisch.

„Er hat die Leben zweier Männer verschont, welche sich im Austausch für ihre Frau und Schwester anboten“ antwortete er gedankenverhangen. „Soweit ich weiß, war es Neith, welche diese Strafe über ihren Dämon verhängte und ihm ein Gift verabreichte. Ich wusste nicht, dass es das Antidot war.“

„Und du hast gehört, was mit ihm geschah?“ wollte Seth triumphierend hören. „Seine Knochen brachen von selbst und seine Organe verfaulten bei lebendigem Leibe. All seine Körperöffnungen eiterten und er vegetierte in einem Fieberdelirium mit Mahren, welche sich kaum von seinen wachen Momenten unterschieden bis er letztlich an seiner eigenen Zunge erstickte. Ein falsch verabreichtes Antidot kann das Leben deines Priester aber zumindest verlängern.“ Auch wenn Amun-Re seinen Priester eher einen frühen Tod sterben ließ als ihn so verenden zu sehen.

„Und du wirst mir nicht sagen, welche Verabreichungsform die ist, welche zur Heilung führt? Ich weiß, dass Syron das Mittel in die Ohren geträufelt bekam, während er schlief.“

„Die Dareichungsform unterscheidet sich je nach Zubereitung. Du kannst dein Glück gern einfach versuchen.“

„Macht es dir Spaß, mich zu triezen, ja?“

„Oh ja. Lang nicht solche Freuden gekannt. Um dich selbst zu zitieren: Wenn du nicht richtig verhandelst und ausformulierst, ist das nicht meine Schuld.“ Ja, er genoss es sichtlich, zuzusehen wie sein Bruder sich wandte und litt und betteln musste, um erlöst zu werden.

„Was für Darreichungsformen gibt es denn?“ versuchte Mokeph zu denken. „Wir können es ins Blut spritzen, ins Wasser geben, als Schluck-Medizin, als Salbe … er könnte es auch inhalieren …“

„Raten hilft uns wohl nicht viel.“ Amun-Re kannte seinen Bruder zumindest so weit, dass er ahnte, worauf das hinauslief. Auf noch eine Forderung. „Du willst noch einen Handel.“

„Gut geraten.“ Er verschränkte die Arme und lehnte sich gelassen zurück. Tatos Körper wirkte damit noch größer und kräftiger, wenn er so stolz dastand. „Die Medizin hast du nun, doch ohne Wissen ist sie nutzlos.“

„Was forderst du?“

„Etwas, was dir sicher leichter zu geben fällt. Schade, vielleicht hätte ich meine Forderungen andersherum stellen sollen.“

„Rede nicht so überheblich daher. Sag einfach, was du forderst.“

„Ich fordere, dass ihr mir fernbleibt.“ Er senkte seine Stimme und verengte seine Augen. Ein Zeichen dafür, dass es ihm sehr ernst war. „Ich will für einen Tag als ich selbst auf der Erde wandeln und ich fordere, dass ihr mich nicht belästigt und unbehelligt in mein Reich zurückkehren lasst.“

„Findest du das nicht etwas sehr unfair?“ hielt Amun-Re dagegen. „Du willst Sethans Kraft nutzen, um in deinem eigenen Körper auf die Erde zu kommen und erwartest, dass er dich ungeschoren zurückgehen lässt?“

„Was willst du überhaupt in der Menschenwelt?“ wollte Sethan selbst wissen.

„Das werde ich dir sicher nicht erzählen.“

„Ich kann dir nicht versprechen, dass Sethan nichts tun wird“ versuchte Amun-Re sich an einem Kompromiss. „Aber zumindest die Pharaonen und ihre Priester kann ich ersuchen, deinen Weg zu meiden.“

„Das ist mir zu wenig.“ Er beugte sich etwas vor und sah Sethan an. „Entweder gibst du mir dein Wort für euch alle oder du hast genau einen Versuch, deinen Priester zu heilen.“

„Du verlangst sehr viel, Bruder.“

„Es ist ja auch nicht so als ob du nichts dafür bekämest, Re.“

Beide blickten sich tief in die Augen. Seth verlangte wirklich viel. Erst ein Leben und dann auch noch einen Tag als Mensch. Das klang sehr nach einem ausgereiften Plan. Ihn gewähren zu lassen, war gefährlich für alle. Doch es bedeutete Rettung für einen einzigen. Für den einen einzigen.

„Sethan?“ wandte Amun-Re sich damit an ihn. Er drückte die Phiole an sein Herz und öffnete die andere Hand in einer bittenden Geste. „Kannst du dein Wort geben, ihn nach einem Tag als Mensch wieder gehen zu lassen?“

„Du weißt, dass ich das nicht kann. Die Gelegenheit wäre zu einmalig. Es tut mir leid.“

„Und wenn ich dich bitte?“ Er hielt ihm die offene Hand entgegen wie ein Bettler. „Tu es wenn nicht für Eleseus, dann für mich. Ich habe dich vom ersten Moment unterstützt und dir nie misstraut. Ich habe niemals eine Gegengabe verlangt, aber dieses eine Mal … ich bitte dich. Bitte erwidere meinen Beistand nur dieses eine Mal mit Großmut.“

Sethan seufzte und trat unbewusst von einem Bein aufs andere. Dieses Versprechen zu geben, fiel ihm nicht leicht. Er musste den Seth gefangen nehmen. Koste was es wolle. Doch ohne Sethos würde sein Plan ohnehin nicht funktionieren. Es war eine Zwickmühle. Er hatte gewusst, dass es schwer werden würde, wenn man sich zwischen die Zwillingsgötter stellte. Doch dass es solche Ausmaße nehmen und solche Rückschläge kosten würde, hatte er nicht erwartet. Und die Chance, Sethos auf gut Glück zu retten, war denkbar gering. „Ohne Sethos ist ohnehin alles im Eimer“ sprach er zu sich selbst, bevor er Seths Blick erwiderte. „In Ordnung, Vater. Einen Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenaufgang.“

„Auf einem Erdteil meiner Wahl“ setzte der kluge Seth hinzu. Denn es gab durchaus Erdteile, wo das eine vom anderen nur eine Stunde entfernt lag.

„Eine volle Erdumdrehung, 24 Stunden auf einem Erdteil deiner Wahl.“ Er nickte, wenn auch mit knirschenden Zähnen. „Und jetzt sage uns, wie wir das Gegengift verabreichen. Oder hast du auch hier wieder einen Haken vorgesehen?“

„Nein, ich habe bekommen, was ich erwartet habe.“ Er löste seine Haltung und blickte ins Aquarium, wo sein erster Sohn mehr tot als lebendig seinem Ende entgegentrieb. Ob er ihn auch ohne Handel gerettet hätte? Vielleicht wusste er es selbst nicht. „Es reicht, wenn du die Phiole ins Wasser wirfst.“

„Ich vertraue dir“ erwiderte Amun-Re und traf seinen Saphirblick, welcher binnen der letzten Momente jeden Ausdruck verloren hatte. „Ich vertraue darauf, dass du mich nicht betrügst.“

„Ich halte mein Wort, aber auf meine Ehrlichkeit solltest du nicht vertrauen.“ Mit diesen Worten verließ er den besetzten Körper und gab den Wirt wieder frei.

Nach Luft ringend sank Tato auf die Knie und wurde von der schnell herbeispringenden Nika aufgefangen, bevor er das Bewusstsein verlor. Einen Gott zu beheimaten, noch dazu einen so mächtigen und so lange, dem hielt auch der stärkste Drache nicht stand.

Amun-Re hingegen lief sofort durch die Tür auf der rechten Seite. Heraus drang ein Gestank von Verwesung und altem Fisch. Er erklomm die Treppe bis er oben im Geräteraum ankam, von wo aus er direkt zur Wasseroberfläche gelangte. Die anderen sahen nur wie die Phiole herabsank, knackte und Risse ausbildete und kurz über dem Sandboden zerplatzte. Die weiße Flüssigkeit verteilte sich mit dem Wasserstrom.

Eine einfache Handlung, welche einen hohen Preis kostete.
 

„Atemu! Yugi! Schaut euch das an!“ Stunden waren vergangen, der Abend war fast zur Nacht geworden, da durchdrang Amun-Res aufgeregte Stimme den Raum.

Die beiden Gerufenen eilten sogleich herbei und folgten dem Zeig seines zitternden Fingers. Und tatsächlich war hinter der Scheibe eine Bewegung zu erkennen. Sethos‘ Augenlider bewegten sich. Dies war die erste Regung seit sie ihn ins Wasser gelegt hatten. Das Gegengift war echt und tat seine Wirkung!

„Was meint ihr? Kommt er zu sich?“ Balthasar hockte sich dazu, so hofften sie gemeinsam. Nachdem die anderen zur Nacht den Heimweg angetreten hatten, waren außer ihm und Sethan nur noch die Pharaonen, Sareth und Seto anwesend. Nun ja, Pechvogel Seto gerade nicht, weil dieser in ausgerechnet diesem Moment für eine Zigarette vor die Tür gegangen war. Und natürlich geschah nach ereignislosen Stunden genau dann etwas.

„Ich hole Oma!“ rief Sareth und stürzte zur Seitentür hinaus. Seto würde wahnsinnig werden vor Freude!

„Es wirkt“ flüsterte Amun-Re und presste seine Hände an die Scheibe. „Das Leben kehrt in ihn zurück. Mein Bruder hat mich nicht betrogen.“

„Du hast die richtige Entscheidung getroffen“ pflichtete Yugi bei und blickte zu Sethan auf, welcher sich als einziger nicht hinhockte. „Oder, Sethan?“

Er schwieg einen Moment, bevor er schlicht antwortete: „Ich freue mich, wenn es ihm besser geht.“ Er klang wenig erfreut, doch sicher nicht, weil er sich nicht für Sethos freute. Er hatte große Kompromisse eingehen müssen und diese Heilung teuer erkauft. Und das musste er erst verarbeiten.

Dann endlich ging ein Ruck durch das bange Warten. Sethos verzog das Gesicht. Er biss die Zähne aufeinander, kniff die Augen zusammen und spuckte dann etwas Blut ins Wasser. Seine Flügel zuckten zusammen und er krümmte den Bauch. Seine Finger bohrten sich in den sandigen Untergrund. Er schien Schmerzen zu haben, Krämpfe offensichtlich im Bauch oder an der Brust.

„Halte durch“ redete Amun-Re an die Scheibe. Er litt mit seinem Priester. Dass er zu sich kam, war gut. Doch das bedeutete auch, dass er nun die Schmerzen spürte. „Es wird bald besser, Darling. Halte noch etwas aus.“

„Meine Fresse! Da ist man EIN MAL kurz weg!“ Seto eilte von seiner Enkelin getrieben herbei und quetschte sich sogleich zwischen Balthasar und Yugi. Er sah den krampfgeschüttelten, ausgemergelten Körper und zog fast unweigerlich dasselbe Gesicht wie Sethos.

„Seto?“ sorgte Yugi sich sogleich. „Was ist?“

„Das fühlt sich furchtbar an.“

„Kannst du ihn spüren?“ fragte Amun-Re entrückt und starrte Seto an.

„Ja … natürlich.“ War das so verwunderlich? „Nicht?“

„Papa konnte ihn nicht spüren“ erklärte Sareth erstaunt. „Und ich auch nicht. Nicht mal Narla findet Zugang zu ihm.“

„Ach …“ Jetzt wunderte auch er sich und sah genauso erstaunt ins Wasser. „Ich konnte ihn immer schon spüren. Ich dachte, das wäre normal.“

„Eigentlich ist seine Aura vor allen weltlichen Energien verschlossen“ erklärte Sethan ernst. „Eigentlich kann man geistig nur mit ihm kommunizieren, wenn er es aktiv zulässt. Aber ich glaube nicht, dass er in diesem Moment zu irgendeiner geistigen Öffnung fähig ist.“

„Ich wusste nicht, dass so etwas zwischen euch besteht“ gab Amun-Re zu und sah seinen Priester mitleidig an. „Ich habe geglaubt, das gehe nur von ihm aus …“

„Vielleicht wusste er es selbst nicht“ vermutete Balthasar. „Sethos ist ja kein Fan von vielen Worten.“

„Aber wenn dein Geist mit ihm verbunden bist“ kam dem Sonnengott eine Idee. „Hast du die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen? Also, könnt ihr euch auch mental austauschen?“

„Ich weiß nicht … ich kann es versuchen.“

„Versuche es, Eraseus. Bitte. Ich will wissen, was er fühlt.“

„Okay“ hauchte er und legte die linke Hand an die kühle Panzerscheibe. Seine blauen Augen verloren den Fokus, als würde er durch die Dinge hindurchblicken. Seine Hand begann zu zucken und sein Atem wurde tiefer, langsamer. Er war angespannt und versuchte gleichsam, sich zu entspannen, sich nicht in einen fremden Geist ziehen zu lassen, welcher so viel größer war als seiner.

Seine Bemühungen schienen erfolgreich. Sethos öffnete den Mund und sein zuckender Körper beruhigte sich ein wenig. Zwar zitterte er, doch er wurde ruhiger. Ganz allmählich kam sein kranker Körper langgestreckt und beruhigt auf dem Sand zu liegen und seine verkrampften Kiemen entspannten sich. Man sah wie die Öffnungen an seinen Hüften gleichmäßiger pumpten und auch sein Gesicht immer entspannter wurde.

„Funktioniert es?“ flüsterte Yami ganz leise, um Setos Konzentration nicht zu brechen.

„Er hat Schmerzen. Ihm fehlt die Orientierung.“ Setos Stimme klang abwesend, sein Geist war noch immer zum Teil bei Sethos, doch er löste sich und kam zurück. Er blickte Amun-Re an, welcher ihn und Sethos abwechselnd beobachtete.

„Und?“

„Er ist zu sich gekommen, aber sein erster Gedanke war, dass er sich noch im Kampf befindet. Er wollte aufstehen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.“

„Aber du konntest ihn beruhigen?“

„Ich habe ihm gesagt, dass er sich in Sicherheit befindet und niemandem Gefahr droht. Er versteht mich wohl noch nicht ganz, sein Geist ist verwirrt und seine Gedanken verlangsamt. Aber er hat mich insofern verstanden, dass er nicht fliehen muss, dass wir in Ordnung sind und er sich entspannen kann.“

„Hast du ihm gesagt, dass er verletzt ist?“ wollte Amun-Re weiter wissen.

„Er kann die Schmerzen nicht richtig einordnen. Ich habe ihm nur gesagt, dass er verwundet ist und sich ruhig verhalten soll. Er scheint mir zu glauben und versucht, sich zu sammeln.“

„Und weiß er, dass wir hier sind? Dass wir bei ihm sind?“

„Das weiß ich nicht. Ich kann es ihm aber sagen.“ Er legte seine Hand erneut an die Scheibe und blickte Sethos ins Gesicht.

Es vergingen einige Momente, doch dann endlich öffnete dieser seine Augen einen Spalt. Kaum ein paar Millimeter, doch genug um das Blau seiner Ozeansaphire zu erkennen. Trotz allem war sein Blick klar und intensiv. Wenn auch müde, sehr sehr sehr müde.

Er blickte Amun-Re an. Der rutschte tiefer, lag fast auf dem Boden, doch war mit ihm auf einer Höhe. Aufmunternd lächelte er ihn an und berührte mit den Fingerspitzen das kühle Glas. „Ich liebe dich“ flüsterte er. Noch niemals war er so erleichtert wie in diesem Moment. Ohne ihn … ein Leben ohne ihn … niemals wieder wollte er ohne ihn sein. Auch ein Gott brauchte jemanden, der ihm verbunden war. Und in diesem Augenblick stellte er schmerzenden Herzens fest, dass er ohne ihn nichts wäre. Er hätte nicht mehr derselbe Gott sein können ohne diesen Priester. Ohne dieses wundervolle Wesen. Mit ihm wäre auch sein Lächeln gestorben.

„Er hat dich verstanden“ sprach Seto leise hinab. „Er hört dich kaum, aber er versteht deine Gefühle.“

„Ich weiß.“ Er wischte sich eine kleine Träne fort und lächelte unentwegt das müde Gesicht hinter dem Glas an. „Ich liebe dich, Darling. Bitte werde gesund, damit ich dich wieder in die Arme nehmen kann.“

Auch Sethos versuchte sich an einer Bewegung. Selbst wenn es nur eine kleine wurde. Er hob die Spitze seines Zeigefingers und drehte sie zu ihm. Auch wenn er kaum die Scheibe erreichen konnte, er wandte sich seinem Gott zu.

„Er sagt dir, dass er dich liebt“ übermittelte Seto. Auch wenn er sicher war, dass Amun-Re diese Geste auch ohne Dolmetscher verstand.

Doch das musste es mit ersten Zärtlichkeiten gewesen sein. Sethos hatte nicht genügend Kraft, um wach zu bleiben. Er öffnete erschöpft den Mund und schlief wieder ein. Doch dieses Mal hob und senkte sich sein Bauch, er atmete tiefer und nachhaltiger. Sein Körper brauchte nun viel Zeit, um zu Kräften zu kommen.
 


 

Chapter 17
 

Zum Mittagessen waren dann auch fast alle zurück gekehrt. Im Aquarium blieben nur Balthasar und Amun-Re. Letzterer natürlich, weil er seinem Priester nun erstrecht nicht mehr von der Seite wich. Ersterer deshalb, weil er seinem Bruder nicht unnötig begegnen wollte. Er war noch immer sauer und verbrachte nicht mehr Zeit mit Tato und Phoenix als unbedingt nötig. Eine Aussprache würde Tato dann anstreben, wenn sich die Wogen etwas geglättet hatten und der Zeitpunkt gekommen wäre.

Der war vorerst erleichtert. Nicht nur, weil das Oberhaupt der Drachensippe auf gutem Wege zur Genesung schien, sondern auch weil Sethan endlich mal wieder in die Gaststätte gekommen war. Im Aquarium hatte er tagelang keine Sonne gesehen. Er war müde und ruhiger als gewohnt. Also gab er dem Drängen endlich nach und würde sich im Kreise der anderen etwas ablenken, ordentlich essen und ausgiebig schlafen.

Doch mit dem Schlafen musste er wohl noch etwas warten, denn er teilte sein Zimmer noch immer mit Yami und da dieser sich heute mit Finn verabredet hatte, nun ja. Eigentlich wollten die beiden gemeinsam schwimmen gehen, doch aufgrund diverser Bedürfnisse blieben sie eben auf dem Zimmer und Sethan wollte auch gar nicht wissen geschweige denn mitbekommen, was dort oben vor sich ging.

„Sethan, mein Schatz.“ Yugi stellte ihm einen frischgepressten Orangensaft hin und umarmte ihn von hinten. Sein Enkel hatte schon die Augen geschlossen und es schien, er würde im Sitzen einschlafen. „Du kannst dich auch in unser Bett legen. Ich sorge dafür, dass dich niemand stört.“

„Und wenn ich verschlafe, habt ihr heute Abend kein Bett und die Kleinen können nicht in ihre Zimmer. Nein, lass mal.“ Er drehte sich zu Yugi herum und lächelte ihn an. Es war dasselbe Lächeln wie immer, wenn er eine Sache verharmlosen wollte und eigentlich sagte er damit nur: Lass mich in Ruhe.

„Wenn du verschläfst, wecken wir dich auch nicht. Mach dir um uns keine Sorgen. Du musst dich ja auch erholen, Schatz.“ Er strich ihm über sein langes, blondes Haar und küsste seine warme Stirn.

„Danke, Yugi. Lass gut sein. Atemu muss ja irgendwann mal wieder rauskommen.“

„Da würde ich mich nicht drauf verlassen“ meinte Mokuba und grinste sich einen. Wenn Yami erst mit seinem Lover Spaß hatte, konnte das unter Umständen Tage dauern. Vorausgesetzt Finn legte die erforderliche Ausdauer an den Tag.

„Ich bin aber auch müde“ schloss Seto sich an. Seit er gestern zurückgekehrt war, hatte er kaum eine Minute zur Entspannung gefunden. „Ich schlage vor, wir essen und machen dann ein Mittagsschläfchen. Sethan.“

„Seto, ich …“

„Nein, keine Diskussion.“

„Ich bin froh, dass du wieder da bist. Tut mir leid, ich muss das einfach mal sagen“ sagte Tea und schenkte Seto einen warmen Blick. „Wir hatten Angst, dass du dich veränderst oder vielleicht gar nicht zurückkommst. Aber du scheinst wie immer zu sein.“

„Es tritt meist genau das ein, was man nicht erwartet“ antwortete er mit nachdenklicher Stimme und blickte sein Wasserglas an, in welchem sich die Eiswürfel mit Blubberbläschen schmückten. „Ich weiß nicht, ob ich mich verändert habe. Und wenn ja, was das bedeutet. Und wenn nicht … was das bedeutet.“

„Du kommst mir ruhiger vor“ sprach Yugi und setzte sich neben ihn. „Nicht mit dem, was du sagst oder in deinen Gesten. Ich habe das Gefühl, dass du innerlich etwas mehr gefestigt bist. Ist das so?“

„Gefestigt ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Vielleicht eher weniger steif. Flexibler. Das trifft eher meine Gefühlslage. Ich nehme mir die Sachen wohl noch immer zu sehr zu Herzen, aber es fühlt sich nicht mehr so an als zerstörten sie mich. Merkwürdig, oder?“

„Nein, das ist nicht merkwürdig“ meinte Sethan und sah seinen Großvater an. „Du hast die Verantwortung für dein Herz abgegeben. Vielleicht hättest du dich mehr verändert, wenn du einen anderen Weg gewählt hättest. Doch Opa Yugi hat dich so angenommen wie du bist und du fühlst dich von ihm wahrhaftig geliebt. Du hast also objektiv gesehen gar keinen Grund dazu, dich verändern zu müssen.“

„Du meinst, ich kann mich nun nicht mehr verändern? Ich werde immer so bleiben wie ich bin?“ Das wäre dramatisch, denn es gab so vieles, was er an sich noch ändern wollte. So viele Ängste, die er ablegen wollte und so vieles, was er lernen wollte. Er wollte sich verändern … oder zumindest nicht so kaputt bleiben wie er manchmal war.

„Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, du kannst dich sehr wohl verändern. Nur mit dem Unterschied, dass du es nicht für die Magie tun musst, sondern für ganz andere Gründe.“

„Woher weißt du so etwas?“ fragte Mokuba ernst. „Wer bringt dir das alles bei? Durch die Zeit reisen, Dinge deuten. Woher kannst du das?“

„Das liegt in der Natur dessen, was ich bin“ antwortete er und schien dabei etwas traurig zu sein. „Ich erlange Wissen nicht absichtlich. Ich sehe etwas und weiß sofort, wie es funktioniert. Ich höre ein Problem und finde sofort den wahrscheinlichsten Lösungsweg. Schachspielen ist eine Strafe für mich.“

„Wie schrecklich“ entfuhr es Seto.

„Warum? Ich finde das enorm“ sprach Mokuba dagegen. „Niemand kann dich hinters Licht führen und du bist nie im Ungewissen. Du schnippst und kannst mit anderen Leuten durch die Zeit reisen. Das ist Luxus Supreme. Ich wünschte, ich könnte das auch.“

„Das ist ganz furchtbar“ war die Meinung seines großen Bruders. „Dein Leben wäre völlig unspannend, du kennst jedes Geheimnis und du würdest dich für alles verantwortlich fühlen.“

„Das schlimmste ist, dass ich nicht alles beeinflussen kann“ ergänzte Sethan mit matter Stimme. „Ich kenne die Lösung, bin aber nicht in der Lage, sie herbeizuführen. Es wie einen Krimi zu lesen und den Mörder zu kennen, aber nicht in der Lage zu sein, das Opfer zu warnen. Das zermürbt mich.“

Ein solch überraschendes Geständnis, ein solch ungewohnter Einblick in sein Seelenleben, ließ seine Zuhörer verstummen. Sethan sprach nicht viel, erstrecht nicht über sich oder über das, was er war. Er sprach auch nicht über seine Taten, seine Hoffnungen oder seine Wünsche. Der Deal mit dem dunklen Seth musste ein herber Rückschlag für ihn sein, dass es ihn dazu trieb, etwas von sich preiszugeben. Es zermürbte ihn, dass er nicht vorankam.

„Egal, was passiert ist oder was noch passieren wird“ fand Yugi die Worte. Er griff nach seinem Arm und sah ihm tief in die Augen. „Wir lieben dich, Schatz, und wir stehen zu dir. Und wir sind stolz auf dich. Sehr, sehr stolz. Selbst wenn du dich entscheidest, dein Unternehmen für gescheitert zu erklären, sind wir stolz auf deinen Mut und deine Durchsetzungskraft.“

„Ich will doch gar nicht aufgeben.“ Da war es wieder. Sein ‚Lass mich in Ruhe‘-Lächeln.

„Jeder hat Zweifel und Angst zu versagen. Das ist kein Grund, sich zu schämen.“ Er stand auf, umarmte ihn und küsste seine warme Stirn. „Ich wollte dir nicht unterstellen, dass du scheiterst. Ich will nur sagen, dass wir dich lieben. Ganz egal, was kommen mag. So wie du bist. Und wenn du Unterstützung brauchst oder einfach jemanden, bei dem du dich anlehnen kannst, dann sind wir da. Wir sind deine Familie und wir lieben dich einfach um deiner selbst willen. In Ordnung?“

„In Ordnung. Entschuldige, dass ich so was gesagt habe. Ich bin wohl nur etwas müde.“

„Nein, ich finde es eigentlich gut“ bestärkte er ihn. „Es ist ziemlich schwer, an dich heranzukommen. Umso mehr freue ich mich, wenn du dich etwas öffnest. Und das geht Oma Seto und Onkel Moki bestimmt ebenso.“

„Bestätigt“ nickte Mokuba und Seto sah seinen Enkel liebevoll an.

„Hört auf. Das ist mir unangenehm.“ Auch wenn er entgegen seines Vortäuschens sichtlich berührt war, dass man sich sofort um ihm kümmerte. Er brauchte nur unbedacht etwas fallen lassen und wurde bereits in die Arme geschlossen.

Das fühlte sich gut an - stand jedoch seinem Vorhaben entgegen. Er wollte gar nicht, dass man ihn so eng in die Familie schloss. Er kannte sein Schicksal und er wusste, wenn er es erfüllte, würde er seiner Familie viele Tränen bringen. Also stellte er sich gegen seine Gefühle und entschied sich für die Vernunft. Er wusste, dass seine Familie ihn liebte, doch es wäre vernünftiger, wenn sie es nicht täte. Er wollte nicht zulassen, dass sie ihn zu sehr liebten. Denn dann konnten sie ihn nicht gehen lassen, wenn es erst so weit war.

„Was denkst du?“ fragte Seto und weckte ihn aus seinem Tagtraum.

„Nichts“ lächelte er müde.

„Du machst ein trauriges Gesicht. Ich sehe doch die Sorgenfalten auf deiner Stirn.“

„Was für ein Glück, dass du mich nicht lesen kannst“ Er griff seinen Orangensaft. „Du würdest auch nur sehen, dass ich etwas Schlaf brauche.“

„Aber erst wird anständig gegessen“ beschloss Yugi und gab Hannes eine Geste, die ihn fragte, wann es etwas zu essen gäbe. Der zeigte eine volle Hand hoch. „Noch fünf Minuten. So lange könnt ihr noch wach bleiben, oder? Hannes und ich haben uns heute wirklich viel Mühe gegeben.“

„Wenn du meinst“ murmelte Seto und senkte die Augen. Das allein verriet wie dankbar er war, doch er wollte es nicht so offen zeigen.

Er blickte erst auf als die Damenriege am Nebentisch zu kichern anfingen. Nicht allzu laut, doch Seto weckte das plötzliche Geräusch. Er hatte auch schnell ausgemacht, was die Frauen so erheiterte. Einen wie Marik hatten sie nämlich noch nicht oft gesehen. Mit seinem hellen Haar, der dunklen Haut und den violetten Augen stach er ja auch sehr aus der Masse heraus. Eigentlich schade für ihn, dass er den Großteil seines Lebens in einem unterirdischen Grab verbrachte. Er hatte Schlag bei den Mädchen und fände sicher leicht ein paar Freuden, welche über Geheimnishüterei hinausgingen.

„Heeeyyyy! Marik!“ freute Mokuba sich und tappelte ihm auch schon entgegen.

„Hallo!“ grüßte auch der gut gelaunt, stellte seinen Kleidersack neben die Tür und schloss Mokuba in den Arm. „Geht’s euch gut?“

„Klar. Wie geht’s dir?“ Er nahm den Seesack wieder auf und geleitete ihn zu den anderen, wo er zuerst Yugi begrüßte.

Er nahm dessen Hand und küsste sie in einer kurzen Verneigung. Doch dann schloss auch Yugi ihn in den Arm und gab ihm einen Wangenkuss. „Schön, dich wiederzusehen. Hattest du eine gute Reise?“

„Da Noah mir einen Privatjet geschickt hat, ja natürlich“ antwortete er und grüßte Seto mit einem Handschlag. „Eraseus. Schön, dich gesund wiederzusehen.“

„Ebenso.“ Auch er umarmte und drückte ihn kurz. „Du siehst gut aus.“

„Danke. Ist etwas ungewohnt, mal wieder Stadtkleidung zu tragen“ gab er zu und strich sein kurzes Shirt glatt. Und auch blaue Jeans trug er im Grab nicht zu häufig.

„Ihr kennt euch wahrscheinlich noch nicht“ meinte Yugi und wies auf Sethan. „Marik, das ist Sethan. Ninis Sohn.“

„Ich weiß. Ich habe schon einiges von dir gehört“ lächelte er und hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Marik Ishtar. Vielleicht kennen wir uns ja aus der Zukunft.“

„Bedauerlicherweise ja.“ Sethans Blick verfinsterte sich und er erwiderte auch die Begrüßungsgeste nicht. Er blieb einfach stur sitzen und funkelte ihn an.

„Bedauerlich?“ schaute er überrascht. „Oh je. Werde ich etwas tun, was dich verstimmt?“

„Das hast du gerade, Grabwächter“ zischte er und erhob sich so plötzlich, dass er den Stuhl umstieß. „Ich stehe weit über den Pharaonen und dennoch hältst du es für richtig, mich als Letzten zu begrüßen, obwohl du genau weißt, wer ich bin?“

„Ich …“ Marik war genauso überfahren wie die anderen. Solch ein rüdes Kennenlernen hatte er nicht eingeplant.

„Außerdem habe ich dir nicht gestattet, mich zu duzen! Du solltest auf die Knie fallen und nicht mir die Hand hinhalten wie jedem Dahergelaufenen!“

„Ich … tut mir leid.“ Also kniete er sich schnell nieder und senkte den Kopf. Sethan hatte ja Recht, aber Marik war es mittlerweile gewohnt, den Pharaonen freundschaftlich zu begegnen. Dass Sethan so auf die Etikette bestand, hatte er nicht vermutet. „Bitte entschuldigt meine Unhöflichkeit, Gottkönig Sethan. Bitte erlaubt“ bat er und hob seine offene Hand. „Bitte erlaubt mir, Eure Hand zu küssen.“

„Nicht mal die Füße. Sieh zu, dass du mir aus dem Weg gehst, solange du hier bist.“ Er drehte sich um und ging. „Ich gehe schlafen.“ Und verschwand mit schnellen Schrittes die Treppe hinauf.

Und hinterließ pure Verwirrung.

„Was denn?“ giftete Mokuba zur Seite. Natürlich guckten die anderen Gäste aufgescheucht herüber. „Macht’s Spaß andere Gespräche zu begaffen?“

Schnell wandten alle ihre Blicke ab und widmeten sich wieder ihrem Essen, den Getränken oder anderen Sachen.

„Steh auf“ bat Yugi und half ihm auf die Beine. „Alles in Ordnung?“

„Herrje, das habe ich nicht gewusst“ antwortete er und richtete seinen irritierten Blick zur Treppe. „Das war wirklich dumm von mir.“

„Ach was, du hast gar keine Schuld“ stritt Yugi ab. „Eigentlich ist Sethan gar nicht so aufbrausend. Ich weiß nicht, was das gerade war.“

„Vielleicht habe ich ihm in der Zukunft irgendetwas getan“ vermutete er und kratzte sich am Kopf. „Ich hätte ihn aber wirklich zuerst begrüßen müssen. Da hat er schon Recht.“

„Er hat aber trotzdem kein Recht, dich so anzufahren“ meinte Mokuba.

„Aber das … das war doch schon ich, oder?“ Er checkte seine Kleidung und strich sich das Haar zurück. „Oder hat mein Yami irgendwas getan, was ich nicht mitbekommen habe?“

„Nein, das warst schon du“ erwiderte Seto und verschränkte nachdenklich die Arme. Warum nur tickte Sethan plötzlich so aus? Das passte überhaupt nicht zu ihm. Er wirkte überhaupt nicht launisch - und Seto wusste genau, wie man sich fühlte, wenn die Stimmung plötzlich umschwang und alle verwirrte.

„Hätte mich trotzdem nicht gewundert“ erklärte Marik den dreien. „Malik und ich haben uns vor ein paar Tagen gestritten und seitdem redet er nicht mit mir. So eine kleine Rache traue ich ihm schon zu.“

„Nein, du warst du selbst. Das hätten wir gemerkt und Sethan auch.“

„Ich entschuldige mich für ihn“ bat Yugi und richtete den Stuhl wieder auf. „Eigentlich ist Sethan gar nicht so. Ich werde mal mit ihm sprechen.“

„Nein, lass. Er hatte doch Recht. Ich muss mehr auf meine Stellung vor ihm achten. Das ist sein gutes Recht.“

„Dennoch sieht ihm so etwas nicht ähnlich. Er ist eigentlich ein freundlicher, stiller Junge und nimmt Standesunterschiede nicht so ernst. Ich sehe mal nach ihm.“

„Bitte setz dich“ bat Seto, während Yugi sich auf den Weg nach oben machte.

„Wo sind denn die anderen alle?“

„Die sind überall verstreut“ erzählte Mokuba. „Noah ist natürlich mal wieder arbeiten. Eigentlich sind nur wenige zuhause. Yami und Finn sind oben und Tato und Spatz auch. Der Rest ist irgendwie gone with the wind.“
 

Yugi war Sethan gleich nachgelaufen und fand ihn am Ende des Flures. Dort saß er am Fenster und stützte die Stirn in die Hand. In sein Zimmer konnte er ja nicht und um rauszukommen, musste er durch die Gaststätte oder aus dem Fenster springen.

Langsam ging er auf ihn zu, setzte sich neben ihn und seufzte tief, bevor er einen Arm um ihn legte. „Was ist los, hm?“

„Nichts“ antwortete er kurzatmig.

„Nach nichts sah das aber nicht aus. Du bist doch sonst ein eher ruhiger Mensch. Marik war nicht absichtlich respektlos.“

„Er vergisst, dass er nur ein Diener ist“ sprach Sethan und stierte den Boden an. An seinen Schläfen pochten die Adern und seine Mundwinkel zuckten. Er schien wirklich erbost zu sein.

„Das ist doch aber kein Grund. Marik ist unser Freund. Er gehört quasi zur Familie.“

„Ich mag ihn nur einfach nicht. Das ist alles.“

„Du kennst ihn doch gar nicht.“

„Ich kenne ihn aus der Zukunft. Das reicht mir.“

„Hat er denn da irgendwas getan, was dich so sauer macht?“ Darauf erhielt er keine Antwort. Ein bisschen kam es Yugi vor als würde er mit dem sturen Seto sprechen. Aus dem war manchmal auch nur schwer eine Antwort herauszupressen. Und wenn dann waren sie einsilbig. „Sethan, was ist los mit dir? So habe ich dich ja noch nie erlebt.“

„Wie denn auch? Ihr kennt mich doch gar nicht. Niemand kennt mich.“

„Ich kenne dich insofern, dass ich weiß, dass das da unten nicht du selbst warst.“

„Doch, das bin ich. Genau das bin ich.“ Er stand auf und blickte Yugi wütend aus seinen mystischen Auge an. „Darf ich nicht auch mal böse werden, Opa? Ist das verboten?“

„Nein, natürlich nicht. Aber das zeigt mir, dass du Sorgen hast.“

„Warum meint ihr immer gleich alle, dass ich Sorgen habe? Nur weil ich mal schlecht drauf bin? Ich habe seit Tagen nicht geschlafen, muss mit eigenwilligen Göttern verhandeln und mir dann auch noch gefallen lassen, dass man mich wie einen dummen Jungen behandelt? Ich bin das Schicksal der Erde, da wird mir doch wohl ein Mindestmaß an Respekt und Distanz zustehen! Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt!“

„Sethan“ sprach Yugi mit sanfter Stimme und sah ihn liebevoll an. „Du hast in allem Recht, was du sagst. Wenn du etwas von uns brauchst dann bitte, ich bitte dich aus ganzem Herzen, bitte sage uns etwas. Lass uns an dir teilhaben. Ich kann nur etwas für dich tun, wenn ich weiß, was du brauchst. Wenn du dich nur ein ganz kleines bisschen uns gegenüber öffnen würdest … wir wollen dir doch nichts böses.“

„Wenn du etwas für mich tun willst, dann sorge einfach dafür, dass mir dieser Grabwächter vom Leibe bleibt. Ja?“ Er hielt Yugi noch einen Moment fest in seinem Blick. Dann drehte er sich herum, ging den Flur hinauf und öffnete die Tür zu seinem Zimmer. Die machte er auch nicht wieder zu, sodass Yugi aus dem Inneren noch eine Tür zuschlagen hörte. Sethan war nun also doch auf sein Zimmer gegangen.

Schweren Herzens und ebenso besorgt ging Yugi ihm nach und fand Yami mit Finn erwartungsgemäß im Bett. Über die plötzliche Invasion waren beide etwas verwundert und so saß Yami neben Finn, der sich notdürftig mit einem Laken bedeckte.

„Hey Yugi“ grüßte Yami und zeigte kurzatmig, weil ziemlich zerwuschelt auf die geschlossene Tür. „Was war denn das?“

„Wenn ich das wüsste“ seufzte er und lehnte sich an den Rahmen. „Sorry für die Störung. Finn.“

„Schon gut“ meinte der und durchkämmte mit den Fingern sein schwitzig rotes Haar, welches Yami in ein wildes Wirrwarr verwandelt hatte.

„Ist ihm was über die Leber gelaufen?“ wollte Yami weiter wissen. „Wir können auch zu Finn gehen, wenn wir ihn stören.“

„Lieb von dir, aber ausnahmsweise bist du mal nicht schuld. Ich wollte euch auch nur kurz sagen, dass Marik eben angekommen ist.“

„Ah, meine Schriftrollen sind da!“ freute er sich und hopste aus dem Bett. „Finn, du bist fertig, oder?“

„Atemu!“

„Ach, ist doch nur Yugi“ lachte der hob seine Hose vom Boden auf. „Runde drei eröffnen wir heute Abend, okay?“

„Wo nimmst du nur die Kondition her?“ Der arme Finn sah völlig fertig aus. Die Knutschflecken an Yamis Körper und die Kratzspuren auf Finns Schultern wiesen auf ein wildes Intermezzo hin. Doch im Gegensatz zu ihm bekam der alte Pharao so schnell nicht genug. „Yugi, sag mir doch mal, ob das normal ist bei ihm.“

„Das Wort normal sollte man in Verbindung mit ihm meiden“ schmunzelte er. Er sah sich den halbbedeckten Finn einen Augenblick an und dachte sich, dass er da auch schwach werden könnte. Sex mit ihm war sicher heiß und aufregend. Kein Wunder, dass Yami sich in ihn verguckt hatte. Die beiden passten gut zusammen und Yami brauchte immer jemanden, der zwar viel Quatsch mitmachte, aber ihn vor Übermut schützte. Hoffentlich hielt das mit den beiden lange. Yami sah glücklich aus und seine Augen leuchteten, wenn er seinen Geliebten ansah. Finn war das Beste, was ihm passieren konnte.

„Wir kommen gleich runter“ versprach Yami und schmiss seinem Lover die Box mit Tüchern aufs Bett. „Gleich nachdem wir geduscht haben. Nicht wahr, Finni?“

„Klingt nach Runde drei“ befürchtete er und traf Yamis funkelnden Blick.

„Hmmm, weiß ich nicht … warum habe ich mir eigentlich überhaupt die Hose wieder angezogen?“ grinste er und zwinkerte Yugi zu. Natürlich bedeutete das noch mindestens einen Gongschlag.

„Ist gut. Wir warten unten mit dem Essen auf euch.“ Yugi schloss die Tür hinter sich und entschied, Sethan erst mal in Ruhe zu lassen. Wenn er sich abgeregt hatte und wieder aus dem Zimmer kam, würde er es nochmals versuchen. Wenn er so abblockte, kam er ja auch nicht voran.

„Papa?“ Er hörte Tatos Stimme hinter sich und sah ihn aus dem Zimmer kommen. Er trug nur eine halb geschlossene Jeans. Ein Indiz, dass auch er sich mit seinem kleinen Geliebten zurückgezogen hatte.

„Na, Tatolino?“ schmunzelte Yugi. „So leicht bekleidet am helllichten Tage?“

„Ich bin auch nur ein Mann“ brummte er und lehnte die Tür hinter sich an. „Was war das hier für ein Krach? Hast du dich mit Sethan gestritten?“

„Nicht so richtig.“ Er wartete bis Tato ihn erreicht hatte und sich nebenbei eine Zigarette anzündete. Darüber musste Yugi versteckt grinsen, denn eigentlich versuchte er noch immer, sich das Qualmen abzugewöhnen. Nur leider stichelte Phoenix jedes Mal nach, sodass er begann, heimlich zu rauchen. Jedenfalls heimlich vor Phoenix. „Pass nur auf, dass Spatz die Schachtel in deiner Hosentasche nicht findet.“

„Ich weiß ja, dass er meine Klamotten durchsucht, bevor er sie wäscht. Das bin ich noch von dir gewohnt. So habe ich meine Kippen damals auch vor dir versteckt“ tat er das ab und lehnte sich mit verschränkten Armen und Kippe im Mund ans Treppengeländer. „Also, was ist los?“ Dann drehte er seinen Kopf in Richtung Stufen, blieb einen Moment so und stieß weiße Luft aus seiner Nase. „Hier riecht es nach Sand und altem Holz. Und Duschgel von Kaiba Niveau. Niveau benutzt doch von uns eigentlich niemand … außer Marik.“

„Gute Nase trotz Zigarette. Marik ist eben angekommen.“

„Ach so. Hast du Yami bescheid gesagt?“

„Natürlich. Sagst du ihm auch gleich hallo?“

„Yami oder Marik?“

„Spitzfindig wie dein Vater.“

„Werde ich wohl“ murmelte er und atmete langsam den Qualm aus. „Und was war jetzt zwischen dir und Sethan?“

„Zwischen uns beiden eigentlich nichts. Sag mal, du kennst ihn doch besser als ich.“ Er trat näher zu Tato heran. Nur für den Fall, dass fremde Ohren in der Nähe waren und sein Flüstern mithörten. „Weißt du etwas davon, dass er und der Marik aus der Zukunft sich gestritten haben? Oder ob irgendwas zwischen ihnen vorgefallen ist?“

„Er kann Marik nicht leiden“ antwortete er mit gesenkter Stimme. „Wenn möglich, geht er ihm aus dem Wege.“

„Und warum? Gibt es dafür einen Grund?“

„Ich weiß es nicht genau. In unserer Zeit ist Marik ja wesentlich älter und hat auch schon die Familienführung an Zehara abgetreten. Wenn Sethan etwas mit den Ishtars zu bereden hat, wendet er sich an sie. Wie gesagt, er geht Marik aus dem Wege.“

„Und … wer ist Zehara?“

„Zehara Ishtar ist die Tochter von Malik.“

„Malik?“ Na, wenn das keine Überraschung war. „Ausgerechnet der hat Nachwuchs?“

„Man soll es kaum glauben, aber er hat tatsächlich eine Frau gefunden, die ihn ertrug“ erklärte Tato und zerblies die Asche seiner Zigarette in so feinen Staub, dass sie mit dem Luftzug fortgetragen wurde. Aufgrund fehlendem Aschenbecher. War eben ein großer Vorteil, wenn man den Wind kontrollierte. „Sie hieß Imame und stammte von eingeborenen Wüstennomaden. Sie war mit einem ihrer Verwandten verheiratet, einem Cousin oder Onkel. Vielleicht sogar einem Bruder. Die Familienverhältnisse waren da nie geklärt. Weil ihr Stamm sich seit Jahrhunderten von der Zivilisation fernhielt, war Inzest natürlich ein großes Problem und sie brachte drei behinderte Söhne zur Welt. Ich kenne die Geschichte auch nur aus ihrer Erzählung, aber zwei der Jungen starben nach wenigen Wochen und der dritte war wohl so schlimm entstellt, dass man ihn und seine Mutter für verflucht hielt. Man war eben abergläubisch. Sie wurde von ihrem Stamm verstoßen und in der Wüste zurückgelassen. Dort hatte sie allein natürlich wenig Überlebenschance und als sie keine Muttermilch mehr hatte, verdurstete ihr Sohn innerhalb kurzer Zeit. Marik fand sie in der Nähe der Grabruine und hatte natürlich Mitleid mit ihr. Er nahm sie mit, eines ergab das andere und so fand zwar nicht er die Frau fürs Leben, aber eben sein Yami. Und ihr Pharaonen habt gern eingewilligt, dass Imame in die Familie Ishtar einheiratet. Yami hat sogar ein altes Trauungsritual abgehalten. Er hat sie als körperlich und geistig rein anerkannt und ihre Mitgift in Form von selbstgewebten Gewändern akzeptiert. Und sie hat ihren Eheschwur in alten, ägyptischen Worten auswendig gelernt, um ihre Dankbarkeit zu zeigen.“

„Wie romantisch“ lächelte Yugi. Sein Yami als Trauender, glaubte man das?

„Leider starb Imame kurz nach Zeharas Geburt an einem Schlangenbiss“ erzählte Tato seine Geschichte weiter. „Die Diener fanden sie zu spät und das Gegenmittel wurde zu spät verabreicht. Ich habe sie selbst kennengelernt und kann sagen, sie war eine sehr zurückgezogene, fast devote Frau. Bei ihren Erfahrungen kein Wunder. Doch trotz allem empfand ich ihre Freundlichkeit nicht als gespielt und sie hatte großen Respekt vor unserer Familie und meinte ihren Treueschwur wahrlich ernst. Malik und sie liebten sich und waren unglaublich stolz auf ihre gemeinsame Tochter. Besonders Imame, da Zehara weder entstellt noch krank war. Sie wusste also, dass sie nicht verflucht war und das nahm ihr eine große Last vom Herzen. Zehara sieht ihrer Mutter sehr ähnlich, aber hat das zähe, raue Wesen von Malik geerbt. Mit ihr ist nicht gut Kirschen essen, aber sie ist eine gerechte und treue Wächterin.“

„Gut zu wissen, dass die Linie der Ishtars weitergeführt wird“ meinte Yugi. „Auch wenn ich ja mehr auf Marik gesetzt hätte.“

„Na ja, Marik ist ewig Single geblieben. Ich glaube, er ist zwar etwas traurig darüber, aber gleichzeitig auch sehr erleichtert, dass Malik an seiner statt für einen Erben gesorgt hat. So spielt das Leben.“

„Glaubst du, dass Sethan deshalb nicht mit Marik zurechtkommt? Weil nicht er, sondern Malik die Linie fortführt? Ich meine, eigentlich ist Malik ja keine richtige, eigene Person. Er ist ja mehr so etwas wie …“

„Wie ein Seelensplitter, der sich durch einen Millenniumsgegenstand verselbstständigt hat“ führte Tato mit Yugis Pause fort. „Ich weiß, Malik ist der einzige Yami, der aus seinem Hikari geboren wurde und nicht umgekehrt. Aber ich glaube nicht, dass es daran liegt. So diskriminierend ist Sethan nicht und er akzeptiert Zehara als vollwertiges Oberhaupt. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was da bei ihm aushakt. Wenn er Marik begegnet, wird er ganz angespannt und wenn man ihn anspricht, geht er hoch wie eine Bombe. Ich weiß nicht, was Marik an sich hat, was Sethan so ausrasten lässt.“

„Habt ihr Marik mal gefragt?“

„Natürlich, aber er weiß es auch nicht. Er behandelt Sethan sehr respektvoll. Als er noch klein war und wir bei den Ishtars zu Besuch blieben, hat Marik sogar mit ihm gespielt. Er hat ihm beigebracht, seinen Namen zu schreiben. Er hat ihm das Reiten beigebracht und die Kunst der Meditation. Auch alte Gesänge und Gebete. Sethan war früher als Kind viel und gerne im Grab zu Besuch. Er verbrachte fast alle Schulferien in Ägypten. Aber dann hat er irgendwann angefangen, sich von uns abzukapseln. Mit Marik hatte er damals noch eine Weile Kontakt. Er war für ihn ähnlich wie ein Vater oder ein großer Bruder. Doch irgendwann hörte das auch auf und als Marik mit ihm das Gespräch gesucht hat, ist er auf Ablehnung gestoßen. Seitdem reagiert Sethan sehr empfindlich darauf, wenn man ihn nach seinen Gefühlen und Gedanken befragt. Er spricht nicht gern über sein Innenleben. Manchmal bricht es aus ihm heraus, aber genauso schnell ist es wieder vorbei. Und so aggressiv reagiert er nur auf Marik. Wir können es uns auch nicht erklären. Und Sethan vielleicht auch nicht.“

„Und damit gebt ihr euch zufrieden?“

„Du glaubst nicht, was wir alles versucht haben.“ Er löste seine Pose und nahm die Zigarette aus dem Mund. „Du erlebst Sethan doch. Wenn man ihm zu nahe kommt, macht er einen Rückzieher. Früher als Kind war das niemals so. Er war ein Junge wie jeder andere. Vergnügt, neugierig, aktiv, ein bisschen frech. Wie Jungs eben sind. Aber in der Pubertät, hat er sich zurückgezogen. Sobald ihm klar wurde, wer sein Vater ist, wurde er zum Einzelgänger. Ich habe es bei ihm als Freund versucht, als Onkel, als Bruder. Mama genauso und selbst Sareth. Wir haben denselben Schöpfer, aber er distanziert sich von uns. Von uns allen. Ich weiß, dass er uns liebt und er weiß, dass wir ihn lieben. Aber er hat irgendwann zugemacht. Mehr kann ich dir auch nicht sagen.“

„Das macht mich traurig“ seufzte er und strich nachdenklich über das Geländer. „Es muss doch einen Weg geben, wie wir an ihn rankommen.“

„Hey! Ihr steht hier ja immer noch rum!“ Yami hüpfte mit nassen Haaren und frischer Kleidung aus seinem Zimmer und sah die beiden dort stehen. Besonders Tato so sexy ganz oben ohne. „Na, Tato?“ raunte er schmunzelnd.

„Grm“ machte der misstrauisch. Yamis gute Laune sollte man meiden.

„Das ging ja schnell. Hast du schon fertig ‚geduscht‘?“ gestikulierte Yugi mit deutlicher Frage.

„Ein bisschen schrubb schrubb und die Welt sieht rosiger aus. Zumindest für meinen Lover“ grinste er und klopfte Tato auf die Schulter. „Na, Großer? Du siehst auch aus als hättest du gut ‚geduscht‘.“

„Du musst es ja wissen, Yami.“

„Dicker?“ Phoenix steckte suchend den Kopf zur Tür heraus und fragte sich, wo sein Schatzi so lange blieb.

Tato jedoch wurde sehr nervös. Wohin mit der fast aufgerauchten Zigarette? Ihm fiel nichts besseres ein als sie Yami in die Hand zu drücken und dann ein unschuldiges Gesicht zu machen. „Hallo Kleiner“ grüßte er und winkte hastig.

Phoenix konnte ohne Brille kaum sehen und so blinzelte er und erkannte doch zumindest die Umrisse. „Hallo.“

„Hallo!“ riefen auch Yugi und Yami im Chor.

„Spatz, geh doch wieder rein. Ich komme gleich nach.“

„Hier riecht es verbrannt. Hast du geraucht?“

„Nein, ich habe mich nur mit Papa unterhalten.“ Es war richtig süß anzusehen wie Tato sich ertappt fühlte. Die beiden Pharaonen mussten ein offenes Grinsen unter Schmerzen verbergen.

Phoenix kramte irgendwo hinter sich und zog dann überraschend seine Brille hervor. Er setzte sie zwar nicht auf, aber blickte notdürftig hindurch. Den Fehler in diesem Bild fand er aber schnell. „Ati, rauchst du?“

„Ja … ist ne dumme Angewohnheit geworden“ log er sofort und drehte die Zigarette in der Hand. „Nach dem Duschen habe ich irgendwie das Bedürfnis eine zu rauchen. Aber wirklich nur nach dem Duschen.“

„Aha.“ Phoenix guckte zwar so als wäre er davon nicht ganz überzeugt, aber nahm dann doch die Brille wieder runter.

„Geh doch wieder rein, Kleiner, bevor du dich erkältest. Ich bin sofort bei dir.“

„Na gut.“ Er zog den Kopf zurück und lehnte die Tür wieder an.

Und Tato seufzte tief durch. Das war knapp gewesen. Gerade noch entwischt.

„Du bist mir was schuldig, Tatolein.“ Und kam vom Regen in die Traufe. Yami etwas schuldig zu sein, war nicht wesentlich besser.
 


 

Chapter 18
 

Am nächsten Tag kam Seto vom Büro nach hause und erfuhr von Nini, dass Papa jetzt auch im Büro arbeitete. Eine interessante Info. Ließ jedoch viel Interpretationsspielraum. Jedenfalls war er um das Wissen reicher, dass Yugi sich in dem neuen, kleinen Hausbüro befand, welches noch bis vor kurzem ein Abstellraum von Hannes gewesen war. Nur was Papa Yugi dort machte, das fragte er sich dann noch immer.

Also ging er nachsehen. Zwei verhältnismäßig kleine Schreibtische - verhältnismäßig klein für Seto und Noah jedenfalls - standen sich gegenüber, seitwärts vor dem Fenster zur Straße. In der Mitte als grober Sichtschutz eine Zimmerpalme. An den Wänden keine Bilder und hinter der Tür eine kleine Couch mit einem winzigen Glastischchen. Ein Mini-Büro, das noch nicht ganz fertig war. Und in der schmalen Sitzecke fand er eine Ansammlung von Menschen.

Yami und Finn hatten sich das Sofa genommen. Mokeph und Nika nutzten die beiden Bürostühle und Yugi teilte sich mit Marik den Fußboden. Damit war der kleine Tisch vollständig umrundet. Die kleine Glastischplatte sah man kaum, so vollgepackt mit Schriftrollen. Einige waren geöffnet, andere noch geschlossen. Etwas abseits standen zwei alte, schwere Holzkisten. Wunderschön mit Gold beschlagen und roter Farbe verziert. Eine davon geöffnet, doch innen lagen weniger Schriftrollen als auf dem Tisch. Zusätzlich hatte jeder einen Notizblock und ein paar bunte Stifte. Sah irgendwie wie die Gruppenarbeit damals in der Schule aus.

„Sieht ja aus wie Projektwoche inner Schule“ brummte er und kam langsamen Schrittes zu der arbeitenden Gruppe.

„Hey! Unser Miesepeter!“ freute Yami sich und streckte die Arme aus. „Komm her und gib deinem Lieblingspharao einen fetten Knutscher!“

„Nichts anderes hatte ich vor.“ Er kniete sich herab, kniete sich weeeiiiit herab und küsste seinen Yugi, seinen echten Lieblingspharao.

„Hi Liebling.“ Er gab ihm noch einen Kuss und streichelte sein langes, gezopftes Haar. „Wie war dein erster Arbeitstag?“

„War nur Übergabe. Ist ja Sonntag.“ Das sollte zum Wiedereinstieg auch genügen. Heute hatten ihn seine beiden Kollegen erst mal auf den aktuellen Stand der Dinge gebracht und erst morgen würde er dann wieder ‚richtig‘ arbeiten. „N’Abend“ grüßte er dann auch kurz die anderen. „Was macht ihr da?“

„Wonach sieht’s denn aus?“ wies Yugi auf den vollgepackten Tisch.

„Sage ich doch. Wie Projektwoche inner Schule.“

„So ähnlich ist das auch“ erklärte Yami. „Wir sehen die Schriftrollen durch, die Marik mitgebracht hat.“

„Ach, für Nikolas.“ Stimmt, da war ihm etwas zu Ohren gekommen. Yami hatte Marik und die Aufzeichnungen herbestellt, um Informationen zu sammeln. In der Hoffnung, dass es für Nika doch noch einen einfacheren Weg gab als eine erneute Hormontherapie und Operationen. Er nahm wahllos eine Rolle zur Hand und überflog die uralten Schriftzeichen, welche sehr filigran auf das dicke Papyrus gepinselt waren. „Das sind aber keine Originale.“

„Nein, das sind die Abschriften“ erklärte Marik. „Die Originale sollen das Grab nicht verlassen, aber du weißt, dass wir von fast allen Schriften Kopien besitzen. Das hier ist nur der Teil, den wir noch nicht auf Mikrofilm übertragen haben. Einen großen Teil habe ich digital mitgebracht.“

„Wir haben gerade erst angefangen“ erzählte Mokeph und legte seine Rolle beiseite. „Die Informationen sind nicht wirklich eindeutig. Vieles wissen wir heute besser und vieles ist zu ungenau beschrieben als dass wir es sofort deuten könnten.“

„Allein der Wortlaut ist ungewohnt. Die sind echt uralt. Selbst die Abschriften sind historisch“ ergänzte Yugi.

„Und was habt ihr jetzt vor?“

„Wir durchsuchen die Schriften nach Stichworten und sortieren eventuelle Informationen aus. Den brauchbaren Teil behandeln wir dann nochmals eingehender.“

„Und was macht ihr beide?“ blickte er zu Finn und Nika. Die beiden konnten weder Hieroglyphen lesen noch welche die so uralt waren.

„Wir suchen die da“ zeigte Finn zur Seite. Dort stand ein Flipchart und einige wenige Schriftzeichen mit Edding aufgemalt. „Wir können es zwar nicht lesen und allzu produktiv ist das sicher auch nicht, aber wenigstens beim Suchen nach bestimmten Symbolen können wir ein bisschen helfen.“

„Tja“ zuckte Nika mit ihren breiten Schultern. Sie würde sicher gern mehr tun, aber letztlich war sie wenig nutze.

„Ich finde das schon sehr viel“ tröstete Seto und legte die Rolle zurück. „Ich würde auch nicht viel mehr machen als das Schriftbild abzuscannen. Alles zu lesen würde ja ewig dauern.“

„Finn hat schon einige gefunden“ erzählte Yami mit sichtlichem Stolz.

„Ja, wir sind alle furchtbar stolz auf Finn“ schmunzelte Marik.

„Was grinst du denn so?“

„Nikolas hat vier Symbole mehr gefunden als ich“ erklärte Finn. Nur für den Fall, dass Yami das schon wieder - ja wohl schon wieder - vergessen hatte.

„Ich glaube an dich, mein Sahnetörtchen. Du holst Nika schon noch ein.“

„Bitte?“

„Nikolas“ warf sie nochmals nachdrücklich ein.

„Ah, manno!“ schimpfte Yami, raufte sich das Haar und sah sie deprimiert an. „Ich habe mich jetzt aber an Nika gewöhnt. Kann ich nicht weiter Nika sagen?“

„Wenn er sich im Moment nicht wie Nika fühlt, musst du das auch akzeptieren“ meinte Seto, klappte die langen Beine zusammen und setzte sich zwischen Yugi und Marik auf den Boden. Dass er Marik dabei einen halben Meter wegdrängelte, ignorierte er einfach. „Er wird schon irgendwann wieder weiblich werden.“

„Da bin ich mir im Moment nicht so sicher“ seufzte die schweren Mutes. „Selbst wenn ich die Kraft fände, das alles noch mal durchzumachen, weiß ich nicht, ob ich das noch mal will. Die Prozedur an sich kommt mir im Moment genauso schlimm vor wie die Männlichkeit. Allein die ständigen Hormonspritzen - als hätte man Diabetis. Und … und der Sex ist … nun ja … auch im Moment eher nicht vorhanden. Ich weiß, dass Tristan auch darunter leidet und das … das macht es nicht gerade leichter.“

„Du musst dich nur an das erinnern, was du willst.“ Seto sah sie verständnisvoll an und legte wohl eher unbewusst seinen Arm um Yugis Taille. „Auf ein Ziel zu streben, ist niemals einfach. Es ist immer schwer. Umso schwerer je höher das Ziel. Aber wenn du es geschafft hast, dann genießt du nicht nur deinen Erfolg, sondern auch deinen Stolz. Denn du hast es dir verdient. Etwas zu erkämpfen lässt dich höher schätzen, was du besitzt. Und deshalb wirst du es so oder so schaffen. Sobald du die Kraft hast, den ersten Schritt zu machen. Und Tristan wird dir folgen. Weil er dich begleitet, auf jedem Weg.“

Nika senkte den Blick und nahm sich seine Worte zu Herzen. Er lag richtig und er wusste sehr genau, was es bedeutete, sich etwas zu erkämpfen. Besonders seelische Ziele. Immer und immer und immer wieder aufs Neue. Und leider auch wie es sich anfühlte, seinen Partner mit den eigenen Problemen zu belasten. Dennoch fehlte ihr derzeit die Kraft, um auf ihr Ziel zu streben.

„Schöne Ansprache“ lächelte Yami und löste die sinnschwangere Stimmung. „Aber vielleicht finden wir ja auch einen leichteren Weg.“

„Und weißt du, was am meisten zählt?“ bestärkte Yugi die tränennahe Nika. „Tristan und Feli lieben dich. Für sie macht es keinen Unterschied, wie dein Körper beschaffen ist. Und das ist doch mehr wert als alles andere.“

„Das zu sagen, ist leicht für dich. Du hast keine Ahnung wie es ist, dein Spiegelbild nicht ansehen zu können. Ich habe das Gefühl, die Leute starren mich an und merken, dass ich falsch bin.“

„Ich weiß gut wie das ist, sich nicht ansehen zu können. Ich bin auch unzufrieden mit mir.“ Da horchten sogar die anderen auf. So gerade heraus hatte Yugi das noch nie gesagt. Jedenfalls nicht zu ihnen. „Du entsprichst wenigstens dem gängigen Schönheitsideal. Ich nicht. Mich halten die Leute wegen meiner Größe und meines weichen Gesichts immer noch für einen Teenager. Wenn du mit jemandem darüber reden willst, wie unzufrieden man mit dem eigenen Körper sein kann, dann tu’s mit mir. Mir geht es schon das ganze Leben so und im Gegensatz zu dir, kann ich nichts daran ändern lassen. Weder mit Hormonen noch mit Operationen.“

„Ihr redet beide großen Unsinn!“ schimpfte Seto und blickte beleidigt zwischen beiden hin und her. „Ihr seid beide wunderschön. Nikolas ist ein fantastisch aussehender Mann und Yugi hat auch einen tollen Körper. Das Problem besteht allein in eurem Kopf! Seid ihr eigentlich wahnsinnig, euch so fertig zu machen? Seid lieber dankbar, dass ihr eine treue Familie habt und bei Gesundheit seid!“

„Amen, Seto!“ rief Yami und hob die Arme. „Endlich haust du mal auf den Tisch!“

„Und wie!“ WUMMS! Und da hatte er doch glatt mit der Faust auf den Tisch gehauen, sodass ein paar Schriftrollen herunter kullerten. Nur Glück, dass die Glasplatte das aushielt.

„Was ist denn hier los?“ Der große Tato kam herein und sah nur wie sein Vater den Tisch vermöbelte.

„Seto redet Tacheles“ erklärte Yami. „Willst du auch mitmachen? Ist das der Geruch von Cheesburgern?“

„Vier Stück. Wie bestellt.“ Er trug zwei Papiertragetaschen mit dem großen, gelben M im Logo herein. Die eine öffnete er und warf Yami einen braunen Papierbeutel herüber, aus dem es wunderbar ungesund duftete.

„Und meine Chickennuggets?“

„Auch vorhanden.“ Er kramte und weil er mittlerweile am Tisch angekommen war, reichte er ihm eine zweite Papiertüte rüber.

„Und wo sind die Getränke?“

„Spätzchen kommt gleich. Hier. Ein doppelter ohne Tomaten und ein McChicken.“ Er drückte Mokeph ebenfalls einen Papierbeutel in die Hand und griff sich schon den nächsten um alle Gaben an die hungrigen Mäuler zu verteilen. „Für Nikolas zwei Hamburger mit extra Gürkchen und große Pommes. Papa ein Hamburger und ein Chicken Wrap und Finn ein Tasty Bacon, große Pommes und ChickenNuggets.“

„Wie praktisch doch ein gutes Gedächtnis sein kann“ meinte Yami und hatte vor allen anderen schon den Mund voll. „Unwoschi scheschts …“

„Erst schlucken, dann sprechen. Wie beim Sex, Yami“ bat Tato und reichte auch Marik sein Paket herunter. „Ich habe dir einen mit Fisch geholt, einen Chicken Wrap, Cheeseburger und Pommes. Wenn du was anderes willst, können wir tauschen.“

„Ich bin nicht so wählerisch. Danke schön.“ Er öffnete seinen Beutel und roch erst mal den guten Duft heraus. Er genoss dieses ungesunde Zeug. „Haaaaaach, das Laster der Zivilisation.“

„Ja, in der Wüste gibt’s weder Systemgastronomie noch Pizzadienste“ schmunzelte Yugi. Fast Food war für Marik also ein echtes Erlebnis.

„Was für ein Glück“ meinte der und packte seinen Wrap aus. „Wenn’s das bei uns gäbe, wäre ich wahrscheinlich doppelt so breit. Ich liebe Fast Food.“

„Du musst dich echt bei Yugi bedanken“ riet Mokeph. „Normalerweise boykottiert er Schnellrestaurants.“

„Nur weil ihr sonst nichts anderes mehr esst“ erwiderte der und entwickelte seinen Hamburger. Kam selten vor, aber anlässlich von Mariks Besuch aß sogar er mit.

„Und was ist mit mir?“ fragte Seto und sah hungrig an Tato hinauf.

„Als ich losgefahren bin, wusste ich nicht, dass du auch noch kommst.“

„Na super.“ Er hatte auch Hunger und jetzt musste er den anderen beim Essen zusehen. Und die konnten ihm kaum etwas abgeben, weil überall Tier drin war. Wie gemein.

„Du kannst meine Pommes haben“ bot Finn großherzig an und reichte sie ihm über den Tisch. „Fleisch isst du ja nicht, oder?“

„Laschma“ schmatzte Yami. „Dado vaascht ihn do nua.“

„ASATO!“

„Ach Mama“ grinste er und hockte sich zu ihm. „Du hast doch einen Mann, der immer an dich denkt. Da.“ Er ließ die letzte Tüte auf seinen Schoß fallen und stand wieder auf. Er ging um Marik herum und aufs Sofa zu.

Dort erdolchte er Finn mit einem wildblauen Blick, der mit dieser zudringlichen Geste erst mal nichts anzufangen wusste. Doch Yami griff ihn am Ärmel, schob Nika auf dem rollenden Bürostuhl zur Seite und zog seinen verwirrten Geliebten mit sich auf den Boden. Darauf nahm Tato wortlos auf dem Sofa Platz und packte sein Futter aus. Die anderen hatten sich daran gewöhnt, doch für Finn waren diese Machtspielchen noch ungewohnt. Drachen machten sich grundsätzlich auf den besten Plätzen breit. Am liebsten auf Sesseln. Und wenn es keine Sessel gab, dann stand ihnen ein anderes, gemütliches Polstermöbel zu. Auf dem Boden saßen Drachen nur, wenn ihr Partner sich dafür entschied und sie ihm Gesellschaft leisten wollten. Doch hätte Yugi auf dem Sofa gesessen oder wäre nicht anwesend, hätte auch jemand für Seto weichen müssen. Und so zog Yami gewohnheitsmäßig um, ohne groß Theater zu machen. Er musste mit Tato keine Rangkämpfe ausfechten. Und dass der gerade einen Strohhalm in die Zimmerpalme steckte, bemerkte auch nur Finn, aber traute sich nicht, ihn danach zu fragen.

„Oh! Donuts und Muffins!“ Das erfreute Setos Herz und schneller als Yugui gucken konnte, hatte er schon den halben Donut mit Schokolade im Mund.

„Tato?“ blickte der dafür seinen Sohn scharf an. „Hatte ich nicht etwas von Salat gesagt?“

„Ja, hattest du.“

Seto stellte um des Friedens Willen die Plastikschale mit grünem Salat auf den Tisch. Doch zuerst aß er den Nachtisch. Den Süßkram hatte Tato dann folglich eigenmächtig hinzugekauft. Wenn Yugi nicht wäre, würde Seto sich entweder gar nicht oder nur von Süßigkeiten ernähren.

„Asato! Manno!“ Phoenix kam rein und hatte es nicht ganz so leicht. Er trug gleich drei Paletten mit jeweils vier Bechern und musste sehr aufpassen, um nichts zu verschütten oder nass zu werden.

„Kommst du auch endlich mal“ meinte der nur und biss in seinen Burger. „Duein Whuap wör gall.“

„Warum muss ich die Getränke schleppen? Du hast doch viel größere Hände!“

Marik griff nach oben und nahm dem armen Jungen die ersten Becher ab. Das war ja auch gemein, ihn so voll zu packen. Und Seto nahm die anderen Paletten und stellte sie auf dem Tisch ab, wo Yugi und Nika die Rollen beiseite schoben.

„Asato! Ich rede mit dir! Warum muss ich die Becher tragen?“

„Getränke sind Weibersache“ schmatzte er völlig ungerührt, bevor er den nächsten Happen abbiss.

„OH! HALLO?! Die sind total unhandlich und du trägst nur faul die beiden Tüten!“

„Hättescht ja schweima laufen gönn. Dann hascht du deine Pommesch glei wieda abdrehniert.“

„Du kannst so fies sein“ kommentierte Mokeph.

Tato grinste und schluckte ungeachtet von Phoenix‘ bösem Blick den halben Burger herunter. „Deswegen liebt er mich ja so.“

„Pass lieber auf, dass ich dir nicht vor lauter Liebe den Milchshake über den Kopf gieße.“

„Das würdest du nicht tun“ forderte er seinen Kleinen heraus.

„Willst du wetten?“

„Brauche ich nicht. Du bist zu lieb für so was.“

„Und du bist ein Pascha.“

„Ja ja. Komm her.“ Er rutschte weiter und klopfte neben sich aufs Polster. „Ich habe dir den besten Platz freigehalten.“

Phoenix seufzte schwer und kletterte über Marik, um zu Tato aufs Sofa zu kommen. Wahrscheinlich fragte er sich in den letzten Tagen, was er sich nur bei diesem Typen gedacht hatte. Wenn Tato gute Laune hatte, war er schwer zu ertragen. Eigentlich nur mit Humor, einem dicken Fell und einem starken Geduldsfaden. Doch wenn er dann wie selbstverständlich seinen Arm um ihn legte und von seinen Pommes anbot, dann konnte er dem Drachen nicht böse sein. Denn eigentlich war er ja auch ein Lieber und Süßer.

„Das sind alles unsere?“ fragte Marik, bevor er sich versehentlich am falschen Becher bediente.

„Die vier da sind Milchshakes.“ Das roch Seto sofort, griff einen heraus und stellte ihn Yugi ungesehen hin. „Mit Erdbeere.“

„Und der Rest ist Cola“ ergänzte Tato. „Außer die mit ohne Strohhalm, da ist Fanta drin. Und der kleine Becher vom Bioladen ist ein Smoothie für Nini. Don’t touch.“

„Wo sind denn die Kinder?“ fragte Seto zwischen Muffins und Milchshake. „Ich habe nur Nini getroffen.“

„Heute ist doch Straßenfest. Die anderen sind da alle hin.“

„Und Nini als einzige nicht?“

„Nein, sie hatte ein bisschen Bauchschmerzen vorhin, also habe ich sie zuhause gelassen.“

„Von Bauchschmerzen hat sie mir gar nichts erzählt.“ Seto legte sein Essen hin und musste das jetzt erst mal klären. Seine kleine Prinzessin hatte Bauchschmerzen und er war nicht informiert worden? „Warum hast du mich nicht angerufen?“

„Ich kann dich doch nicht jedes Mal anrufen, wenn mal jemand ein Wehwehchen hat.“ Er küsste ihn auf die Wange und nahm seinen Milchshake. „Ich vermute, sie hat nur zu viel Brause getrunken. Ein Küsschen, eine Wärmflasche und jetzt spielt sie schon wieder ganz fröhlich. Guckst du?“ Er wies nach hinten und als Seto sich zurücklehnte, konnte er sie sogar auf dem Spielplatz schaukeln sehen. Ihre üblichen Gefährten waren zwar nicht da, aber zwei Nachbarsmädchen leisteten ihr Gesellschaft. Nini war niemals lange allein.

„Ist es nicht sehr gefährlich, sie draußen allein zu lassen? Gerade wo Feli knapp einer Kindesentführung entkommen ist und wir noch immer nicht wissen, ob die Typen noch mal wiederkommen?“

„Loki ist draußen und passt auf deine Tochter auf“ versicherte Finn. „Sie hat ein sehr feines Gespür für Gefahr. Sie riecht es, wenn jemand mit Absichten in ihre Nähe kommt. Egal ob die Absichten gut oder böse oder magisch oder normal sind. Was das angeht, lege ich meine Hand für sie ins Feuer.“

„Bei Feuermagiern kein großes Ding“ grinste Yami.

„Außerdem spielt Nini sehr gern mit Loki“ erzählte Yugi seinem Liebling. „Nur das mit dem Stöckchenholen, das kriegen die beiden irgendwie nicht gebacken.“

„Tatsächlich? Warum?“

„Weil Nini nicht so richtig versteht, dass Loki kein Hund ist.“

„Darüber hinaus habe ich einen Schutzzauber um das Haus, die Terrasse und den Spielplatz gelegt“ beruhigte Tato und schlürfte nebenbei seine Fanta. „Wenn sich in diesem Umkreis jemand näher als einen Meter einem unserer Kinder nähert, wird er automatisch gelähmt. Da kann nichts passieren.“

„Ist das nicht etwas overdone?“ fragte Seto skeptisch. „Wenn Nini draußen an einem Gast vorbeiläuft und ihn anrempelt, wird doch ein Unschuldiger gelähmt.“

„Das ist keine Lähmung, welche dauerhaft oder bewusstseinsraubend wirkt. Es äußert sich wie eine Art Niesen. Man ist einfach kurz unfähig, sich zu bewegen. Die Betroffenen merken es gar nicht, denn wenn sie diesen Zustand nicht mit Nini in Verbindung bringen, löst sich der Zauber sofort wieder. Und falls doch, dann klingeln unsere Alarmglocken.“

„Aha.“ Er nahm das so hin, aber rührte noch einen ganzen Moment nachdenklich in seinem Milchshake, bevor er dann doch fragte. „Woher kennst du solch intelligente Zauber?“

„Von dir“ lächelte er lieb. „Du hast es mir nur noch nicht beigebracht.“

„Ach so. Du bist ja älter als ich“ erklärte er sich selbst. Tato war allein durch sein Alter erfahrener. Seto hatte nun vielleicht eine Kraft erlangt, die er selbst noch nicht kannte, aber das bedeutete nicht, dass er auch jeden Zauber kannte. Auch er musste noch viel lernen und das konnte er erst, wenn Sethos gesund genug war, um ihn anzuleiten. „Ward ihr bei Sethos heute?“ fragte er und legte das zusammengeknüllte Papier seines Muffins auf die Spitze eines Milchshakes.

„Ja, zur Mittagszeit“ antwortete Mokeph. „Es geht ihm viel besser. Er ist heute sogar ein Stück geschwommen.“

„Ich weiß. Ich war heute Morgen und eben dort“ antwortete Seto und packte den nächsten Donut aus. „Sagt mal, ist Sethan eigentlich mit zum Straßenfest gegangen?“

„Schön wär’s“ seufzte Yugi und entfernte kommantarlos den Müll, den Seto auf die Getränke gelegt hatte. In den letzten Tagen legte Seto ständig Dinge an die merkwürdigsten Orte. „Als wir heute Mittag zu Sethos gefahren sind, ist er geschmeidig nach hause gefahren. Und jetzt sitzt er in seinem Zimmer.“

„Er ist wahrscheinlich immer noch sauer auf mich.“ Marik legte seinen Fishburger hin, der ihm nun nicht mehr schmeckte. Dass Sethan seine Anwesenheit so kategorisch mied, verletzte ihn.

„Nimm dir das nicht zu Herzen“ versuchte Tato ihn aufzuheitern. „Er ist eben ein bisschen schwierig.“

„Von dem, was ihr mir vorher erzählt habt, aber nicht“ argumentierte er dagegen. „Ihr sagtet doch, er ist ein ruhiger, freundlicher Mensch, der nie laut wird.“

„Außer bei dir“ ergänzte Mokeph.

„Ja, außer bei mir“ bestätigte er und schob sein Essen weg. „Es tut mir ja leid, dass ich nicht auf die Etikette geachtet habe, aber wenn er mich meidet, habe ich ja nicht mal Gelegenheit, mich zu entschuldigen. Und ich würde mich gern entschuldigen.“

„So schlimm war’s doch aber auch nicht“ meinte Seto, der seine klebrigen Finger abschleckte. „Seine Reaktion war übertrieben.“

„Das sagt ja der Richtige“ meinte Yami. „Ihr Drachen seid doch die Meister im Übertreiben.“

„Sind wir nicht!“

„Hast du ne Ahnung! Wenn ich Finn nicht vom Sofa gezogen hätte, hätte dein Sohn Hackfleisch aus ihm gemacht! Wobei …“ Er schmunzelte Finn an als der gerade genüsslich in seinen Burger beißen wollte. „Finni wäre die perfekte Fleischeinlage für ein Sandwich.“

„Ähm …“ Er ließ sein Essen sinken und musste sich irgendwas schlagfertiges einfallen lassen. Doch so leicht war das nicht, wenn der Pharao ihn so notgeil anfunkelte. „Nenn mich bitte nicht Finni. Das macht nur Loki, wenn sie mich ärgern will.“

„Wer sagt denn, dass ich dich nicht auch gern etwas ärgere, Finni?“ Er schmiegte sich an seine Seite und streckte sich bis zum Ohr hoch. „Du bist so süß, wenn ich dir zu viel werde.“

„Yami, lass den armen Finn am Leben“ lachte Yugi. Denn sein Opfer machte gerade einen etwas hilflosen Eindruck. Richtig mitleidserweckend.

„Ich habe ihm das Leben vor einem dominanten Drachen gerettet. Dafür sollte ich doch wohl etwas sexuelle Dankbarkeit bekommen, oder?“

„Um noch mal darauf zurückzukommen“ warf Tato etwas ruhiger ein. Ob er Finn zu Hackfleisch gemacht hätte, würden sie ja nun nicht mehr geklärt bekommen. „Sethan ist kein Drache wie wir. Er übertreibt eigentlich selten bis niemals.“

„Umso mehr ein Grund, dass wir uns darum kümmern“ argumentierte Yugi.

„Aber wie soll man sich um jemanden kümmern, der das restriktiv ablehnt?“ fragte Seto und lutschte an seinem halben Muffin. Anscheinend hatte er gar keinen Hunger. Er genoss nur.

„Genauso wie wir dich geknackt haben“ lächelte Yugi seinen Liebsten an. „Einfach immer da sein, nicht nachgeben und keinen Druck ausüben. Und hoffen, dass er irgendwann darauf anspringt.“

„Und was haben wir im letzten halben Jahr gemacht?“ fragte er ernst zurück. Sie waren bereits die ganze Zeit an Sethan dran und versuchten eine engere Bindung aufzubauen. Doch er zog sich zurück, sobald man ihm zu nahe kam. Dann floh er in unverbindlichen Smalltalk, lächelte freundlich und entschuldigte sich bei der nächsten Gelegenheit.

„Yugi hat Recht“ meinte auch Yami. „Dein Enkel ist schwerer zu knacken als du. Er ist irgendwie genau wie …“

„Wie wer?“ schaute Seto zu ihm herüber.

„Wie der Seth“ fuhr er vorsichtig fort. „Vielleicht liegt es daran, dass er nicht wie ihr oder wir geschaffen wurde, sondern gezeugt. Wenn auch auf eine recht ungewöhnliche Weise, aber Seth hat ihn körperlich gezeugt. Deshalb stecken in ihm keine Drachensinne und keine irdische Magie. Und sein Verhalten erinnert mich sehr an seinen Vater. Auch Amun ist an seinen Bruder nie wirklich herangekommen. Sie haben sich geliebt und waren ihr ganzes Leben zusammen. Und doch hat Amun niemals wirklich gewusst, was in seinem Bruder vorgeht. Bei Sethan ist es dasselbe. Wir sind so viel mit ihm zusammen und wir sind uns unserer Liebe zueinander gewiss. Und doch wissen wir nicht, was in in ihm vorgeht.“

„Aber Atemu, Nini ist seine Mutter“ gab Mokeph zu bedenken. „Ich glaube nicht, dass er irgendetwas unbedachtes tun würde. Auch nicht im Affekt. Wir dürfen ihm nicht das Gefühl geben, Angst vor ihm zu haben.“

„Du meinst davor, dass er im Affekt jemanden erschlagen könnte?“

„Zum Beispiel. Ich glaube aber nicht, dass er zu so etwas fähig wäre.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher“ sprach Tato mit gesenkter, vertraulicher Stimme. Und dabei warf er einen vielsagenden Blick zu Marik.

„Du glaubst, er könnte mich erschlagen?“ fragte der bestürzt.

„Ich habe Sethan niemals so launisch erlebt wie bei dir. Du hast irgendetwas an dir, was ihn aus dem Konzept bringt.“

„Aber er würde Marik nicht absichtlich wehtun oder sogar töten“ argumentierte Phoenix streng dagegen. „Vielleicht ist er in in unserer Zeit nicht gut auf ihn zu sprechen, aber dann geht er solchen Situationen aus dem Weg. Er würde niemanden töten. Niemals.“

„Ja, vielleicht hast du Recht.“ Er legte seinem kleinen Geliebten die Hand auf den Kopf und griff sich mit der anderen einen Milchshake. „War nicht so gemeint.“

„Denk nach, bevor du jemandem so was unterstellst, Dicker.“

„Also wenn jemand unberechenbar ist, dann ja eher du“ sagte Yami dem Milchshakeschlürfer auf den Kopf zu.

„Ich?“ guckte der verwundert zurück. „Ich bin berechenbarer als mir lieb ist.“

„Wenn ich da so an den Sato-Teil denke, finde ich dich imponderabler als alle anderen.“

„Was bin ich, Atemu? Imponderabel?“

„Natürlich. Seto hat zwar die Angst- und die Schmerz-Gestalt, aber auch die kann man mit etwas Erfahrung einschätzen. Sato aber …“

„Nein, das meinte er nicht“ lachte Yugi. „Du hast gerade ein lustiges Fremdwort benutzt.“

„Imponderabel? Warum? Kennt ihr das Wort nicht?“

„Also, ich weiß schon, was das heißt“ meinte Seto und legte den Papierball zurück auf einen der Becher.

„Also, ich nicht“ meldete Mokeph an.

„Das bedeutet nichts anderes als unberechenbar“ half Marik. „Ergibt sich aber auch aus dem Zusammenhang.“

„Habe ich von Sari gelernt“ erklärte Yami. „Die ist ein wandelndes Fremdwörterbuch.“

„Also, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich jetzt unbeliebt mache“ sprach Nika vorsichtig. „Aber ich fand Sato faszinierend.“

„Kriegst bei Gelegenheit einen Sato-Fanbutton“ schmatzte Tato.

„Und du?“ fragte sie vorsichtig. „Du bist kein Sato-Fan, oder?“

„Ich bin nur Fan von mir selber“ antwortete er ungerührt und pulte die Tomate aus seinem doppelten Burger. „Sato ist mir zu hart, zu rücksichtslos. Und wenn er die Überhand gewinnt, muss ich mich hinterher immer bei irgendwem entschuldigen. Aber Asato ist auch nicht besser. Der ist mir zu lieb, zu abhängig von anderen. Dafür hat er aber ein Talent dazu, um die Ecke zu denken. Sato hingegen löst Probleme auf die direkte und schnelle Art. Wäre schön, wenn sich beide mal einigen könnten. Will jemand Tomate?“

„Du kommst mir in den letzten Tagen aber recht ausgeglichen vor, mein Schatz“ lächelte Yugi ihm sanft zu. „Ist das so?“

„Trotz all dem Trouble schon. Ja.“ Er stapelte seine Tomate auf Setos Papierball, klappte seinen tomatenfreien Burger wieder zu und drückte das Ganze platt. Mokeph wollte gerade fragen, was das sollte, aber da sprach er schon seinen nachdenklichen Satz weiter. „Wahrscheinlich musste ich erst abstürzen, bevor ich aufstehen konnte. Und damit ich erkenne, dass ich noch etwas habe, wofür es sich zu leben lohnt. Etwas, was mein Leben ausfüllt. Ich war ein Idiot, mich so gehen zu lassen.“

„Du hast getrauert. Das kann dir niemand zum Vorwurf machen“ meinte Yugi.

„Ich habe meiner Tochter einiges verbaut und meiner Familie große Sorgen bereitet. Außerdem war ich weder für Nini noch für Sethan so da, wie ich es als Priester hätte sein müssen. Aber das ist jetzt vorbei und ich strenge mich an, um es wieder gut zu machen. Irgendwann muss es ja mal vorangehen. Ich denke, das ist auch das, was Risa mir sagen würde.“

„Das freut uns“ nickte Yugi stolz. „Wir wussten, dass du irgendwann zu dir zurückfindest.“

„Hat fast zehn Jahre gedauert“ seufzte er und sah seinen kälter werdenden Hamburger nachdenklich in Angriff. „Ich habe mich hängen lassen und in Selbstmitleid gebadet. Das darf nicht noch mal passieren.“

„Wird es sicher nicht“ grinste Yami und klaute sich die aussortierte Tomate von dem Getränke-Papierball-Turm. „Dafür sorgt unser Spätzchen schon, dass du bei dir nichts hängen lässt.“

„Häh?“ machte der Spatz. Spätestens jetzt konnte er nicht mehr folgen.

Und Tato grinste nur vielsagend. Er hatte das sehr wohl verstanden.

„Na ja“ erklärte Yami noch mal extra. „So wie ich das mitverfolgt habe, hast du ihn schon zwei Mal zum Stehen gebracht.“

Tato aber hob seinen Arm und zeigte selbstzufrieden vier Finger.

„Vier?“ staunte Yami. „Ihr seid doch noch gar nicht so lange zusammen.“

„Eben.“ Und das Grinsen kriegte der Drache auch nicht aus dem Gesicht. „Aber du hast uns vorhin in der Waschanlage nicht mitbekommen.“

„IHR REDET ÜBER SEX?!“ Herzlich Willkommen, Phoenix. Jetzt bist du auch dabei.

„Ihr macht es in der Waschanlage?“ freute Yami sich. „In welcher denn?“

„Die neben dem McDonalds. Eine Supreme-Wäsche dauert fünf Minuten. Das reicht vollkommen.“

„Asato!“ schimpfte Phoenix, dessen Kopf gleich platzte. „Ein Gentlemen genießt und schweigt!“

„Ich habe nie behauptet, ein Gentlemen zu sein.“

„Asato!“

„Finn, wir müssen dein Auto mal wieder waschen.“

„Ähm.“ Jetzt kriegte der Pharao auch noch unsaubere Ideen. „Atemu, ich besitze kein Auto.“

„Seto!“

„WHUA!!“ schreckte der hoch und warf glatt seinen dritten Muffin auf den Tisch. „Du sollst mich nicht anschreien!“

„Kauf Finn ein Auto!“

„Finn kann sich selbst ein Auto kaufen.“

„Sei nicht so ein Geizkragen“ schmollte er und kuschelte sich an Finns Seite. „Dann frage ich eben Mokuba.“

„Mokuba verdient kein Geld. Der kann Finn kein Auto kaufen.“

„Aber er weiß Noahs Kreditkartennummern auswendig.“

„Ähm … Atemu …“

„Pscht, Ati unterhält sich“ grinste er zu Finn. „Ich sorge schon dafür, dass du ein Auto kriegst, das wir waschen können.“

„Aber ich …“

„Ich finde schon jemanden“ betonte er und kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Aus irgendeinem Grunde sind die Limits meiner Kreditkarten nämlich runtergesetzt worden.“

„Die sind nicht runtergesetzt, die sind gesperrt“ versuchte Seto genervt zu erklären.

„Und warum bitte hast du meine Kreditkarten gesperrt?“

„Das war ich nicht, das war Noah. Weil DU deine Karten verloren hast.“

„Aber die habe ich doch schon wiedergefunden. Sie waren bei Finn in der Küche.“

„Dann musst du aber auch bescheid sagen! Dann hätte Noah sie nicht sperren müssen.“

„Was hat denn Noah bitte mit meinen Kreditkarten zu schaffen?“

„Yugi, sag ihm, er soll damit aufhören.“

„Lass dich nicht ärgern, Liebling“ lachte der und schenkte ihm einen Kuss auf die Wange. Erst wurde er angeschrien und dann auch noch mit Sachen genervt, in denen er seine Finger nicht drin hatte. Armer Seto. Schweres Leben. „Und Yami“ flüsterte er versteckt zu ihm rüber. „Nimm meinen Wagen. Der ist ganz staubig.“
 


 

Chapter 19
 

Während die anderen fleißig die alten Schriften durchsuchten, war Balthasar gerade auf dem Rückweg vom Joggen. Ewig und ständig nur im Aquarium herumsitzen, war nicht gut fürs Gemüt. Auch wenn Amun-Re ein angenehmer und lustiger Zeitgenosse war, fehlte ihm die Action der Großstadt und der Leistungssport. Zuhause ging er mit seinen Freunden weg, führte seine Freundin aus und hatte vier mal die Woche Fußballtraining. Und hier blieb ihm nur das Joggen, denn solang er nicht nach Blekinge zurückkehrte, konnte er auch nicht ins Fitnessstudio. Jedoch daran zu denken, seinen verlogenen Bruder und dessen noch verlogenerem Stecher zu treffen, dabei verging ihm sämtliche Lust.

Auf den letzten Metern den Hügel hinauf legte er einen Spurt hin. Es tat gut, wenn die Waden schmerzten, die Lungen brannten und der Schweiß sein Shirt tränkte. Es forderte den Körper und erleichterte den Geist. Erst an der Spitze beendete er seinen Run, schaltete den MP3-Player aus und atmete tief durch. Die Sonne brannte auf ihn herab und es wehte kein Wind. Seine salzige Haut glühte und sein Atem stieß sich gequält aus der Brust. Und dennoch gingen ihm die Gedanken nichts aus dem Kopf. Die Welt war ungerecht. Seit vielen Jahren bemühte er sich um ein gutes Verhältnis zu seinem Bruder. Er holte sich Körbe ab, ließ sich beleidigen und akzeptierte, dass er wegen dessen Krankheit immer zurückstecken musste. Alle sorgten sich um ihn, sorgten für ihn, halfen und bemutterten ihn. Und Balthasar war immer der Große, der Starke, der Gute, der auf ihn aufpassen musste. Asato hatte ihm den Vater ersetzt und beschworen, dass er sie beide gleichsam liebte. Er hatte sich sogar dafür eingesetzt, dass Spatz einen Schritt auf ihn zuging und ihn weniger ablehnte. Und wofür? Nur, damit er von allen beiden ausgeschlossen wurde. Er wurde zum Narren gehalten. Schon sein ganzes Leben. Er duckte und nahm sich seines Bruders zuliebe immer zurück. Ertrug allen Spott, ja verteidigte ihn sogar. Und wofür? Dafür dass er ihm den einzigen Mann stahl, den er jemals als Vater respektiert hatte. Es war Asato niemals um ihn gegangen - es ging ihm wie immer nur um seinen armen, kleinen, kranken, schwachen und ach so süßen Bruder! Bruder traf es nicht mal! Geschwister war der richtige Ausdruck! Das Geschwister, welches ihm schon im Mutterleib seine Existenzberechtigung gestohlen hatte! Ohne das Geschwister wäre er ein vollständiger, unabhängiger Magier! Nur weil er den wenigen Platz unterm Herzen seiner Mutter teilen musste, brauchte er nun für jeden Funken Magie ein Medium!

„Scheiße!“ Die Tränen stiegen ihm in die Augen, doch er verbot sie sich. Deshalb brannten sie in seinen Augen wie die Sonne auf seinem Rücken. Doch der Brand in seiner Seele war der einzige, welcher Wunden hinterließ. Immer schon drehte sich alles nur um seinen Bruder. Immer schon. Seit sie auf der Welt waren. Er hatte sich schon immer alles genommen!

„Schöner Spurt.“ Er hatte diese Stimme selten gehört und doch wusste er sofort, wer ihn da ansprach. Er blieb gebückt und sah weiter die Kiesel zu seinen Schuhspitzen an, doch zu wissen, dass er in der Nähe war, stoppte seinen Atem. Alle Gedanken waren mit einem Schlag aus dem Kopf verschwunden.

Er schluckte seine Unsicherheit hinunter und erhob sich langsam. Was sollte er nun tun? Selbst wenn er rannte, würde er nicht entkommen. Den Stab hatte er im Aquarium gelassen und es war rundum auch niemand, dessen Körper er in Besitz nehmen konnte. Und in Seth zu fahren, würde ganz sicher danebengehen.

Auch wenn er seinen Vater fürchtete, bewunderte er ihn doch gleichsam. Er war eine stolze Gestalt wie er vor ihm stand und dem schnöden Kiesweg eine Aura von Heiligkeit verlieh. Das dunkelblaue Gewand in seiner Schlichtheit war prächtig anzusehen. Ebenso prächtig wie der brennende Wüstenhimmel in seinen Augen. Sein männlicher Bart und seine kantigen Züge. Seine stolze Haltung. Der Mann, von dem er die Hälfte in sich trug. Der Mann, den er am meisten ersehnte und den er am meisten fürchtete.

„Was willst du?“ Letztlich war es egal, ob er wegrannte oder ihn angriff - Seth würde ihn so oder so erwischen. Nur ängstlich zugrunde gehen, dafür war er zu stolz. Deshalb flippte er die Kopfhörer aus den Ohren und sah ihn trotzig an.

„Du musst mich nicht so bedroht ansehen, Balthasar. Ich bin nicht hier, um Hand an irgendjemanden oder irgendetwas zu legen.“ Er sprach mit ruhiger Stimme und hielt seine Arme von der langen Kutte verdeckt vor dem Bauch. Doch sein schulterlanges Haar glänzte magisch im heißen Sommerlicht und umrahmte sein edles, dunkelfarbiges Gesicht.

„Und was willst du dann von mir, Seth, wenn du nichts weiter vorhast?“

„Ich bin aus zwei bis drei Gründen erst jetzt zu dir gekommen. Normalerweise rechtfertige ich mich nicht, jedoch bist du mein Sohn, oder du wirst es sein, und deshalb will ich offen mit dir sprechen.“

„Ach, plötzlich bin ich dein Sohn, ja?“

„Nun ja, du wirst es sein. Daran können weder du noch ich jetzt noch etwas ändern“ sprach er mit einem leicht bemitleidenden Lächeln. „Ich komme jetzt erst zu dir, weil ich zuvor mein Umfeld ordnen musste, um mich nun dir zu widmen.“

„Und unter ‚Umfeld ordnen‘ verstehst du wahrscheinlich ein paar Leute umbringen, ja? Oder doch eher ein paar Kleinstädte niederbrennen?“

„Verständlich, dass du das so siehst, da du meinen Standpunkt nicht verstehst. Andererseits ging es mir in den letzten Wochen gesundheitlich schlecht, sodass ich nicht die Kraft hatte, mit dir zu sprechen.“

„Scheiße, wenn man ne Kraft nutzt, die einem nicht zusteht, was?“

„Und zuletzt der vielleicht wichtigste Grund“ sprach er ohne Groll fort. „Ich denke, du hast dich genug von Asato als deiner Vaterfigur gelöst, sodass dein Gehör nun offen für mich ist.“

„Was zwischen mir und Asato ist, hat nichts, aber auch überhaupt gar nichts mit dir zu tun. Dass du es weißt!“

„Du musst nicht schimpfen. Ich verstehe deine Gedanken und Gefühle auch so.“ Er klang erstaunlich versöhnlich, ja gar verständnisvoll. „Ich habe nicht viel Kenntnis darüber, inwiefern wir uns in deiner Zukunft kannten, aber ich bin …“

„Ist ‚gar nicht‘ ne ausreichende Auskunft?“ giftete er zurück. Natürlich freute er sich, dass sein Vater endlich Interesse an ihm zeigte. Jedoch wusste er auch weshalb das so war. „Du hast dich einen Dreck um mich geschert und letztlich willst du auch gar nicht mich, sondern meinen Körper. Was erwartest du denn, was ich jetzt tun soll? Luftsprünge machen? Dir um den Hals fallen? Mich freuen, dass mein eigener Vater mich killen wird?“

„Es ist eine schlechte Entschuldigung, doch ich hatte selbst nie einen Vater“ sprach er mit zärtlicher Stimme und blickte ihm mild in das schwitzende Gesicht. „Mein Vater sah mich als Schande seiner Familie. Er ignorierte mich und seine fehlende Wertschätzung konnte auch all die Liebe meiner Mutter nicht auffüllen. Es war ähnlich wie bei dir. Eine Mutter, die ihren Sohn über alles liebt. Und einen Vater, den man nur aus der Ferne sowohl fürchtet wie auch ersehnt.“ Er löste seine Pose und strich sich das Haar hinters Ohr. „Es ist wahr, dass ich dich gezeugt habe, um später einen Körper zu haben, in welchem ich weiterleben kann. Ich will dir auch nicht verschweigen, dass dies auch weiter so ist, denn ein kräftiger, magischer Körper wie deiner ist der einzige, welcher meine Macht aushalten kann. Doch wenn du denkst, ich würde dich nur deines Körpers wegen begehren, so bist du einer Fehleinschätzung aufgesessen. Ich habe niemals behauptet, ich würde nicht für deine Seele sorgen. Ihr seht mich als grausam an, vielleicht scheint es tatsächlich so, doch mir fehlt Kaltschnäuzigkeit, um meinen Sohn der Verdammnis preiszugeben. Du bist mein Sohn, genau wie Narla meine Tochter ist. Keines meiner Kinder würde ich jemals leichtfertig für mich selbst opfern.“

„Und Spatz?“ fragte er vermeintlich treffsicher und ballte die Fäuste bei dem Gedanken an seinen Bruder. „Phoenix, dein drittes Kind. Ihn vergisst du anscheinend.“

„Ich denke, das kann ich ruhigen Gewissens“ erwiderte er sanft. „Narla ist bei Drachenjägern und dann bei Drachen aufgewachsen. Sie brauchte mich, um in ein normales Leben zu finden. Und Phoenix hat doch schon immer alles gehabt. Und nun besitzt er Asato.“ Womit er viel treffsicherer einen wunden Punkt in Balthasar fand. „Phoenix braucht mich nicht. Er hat sich einen anderen gesucht als mich. Für ihn war ich niemals wichtig. Anders als für dich.“

„Und ihn du liebst nicht? Obwohl er dein Kind ist?“

„Ich hasse ihn nicht und er ist mir auch nicht gleichgültig. Jedoch sollte man doch zuerst denjenigen lieben, der es mehr braucht. Denkst du nicht?“

„Und du denkst, ich brauche deine Liebe, ja?“

„Das denke ich nicht. Dessen bin ich mir bewusst. Denn du bist mir von meinen drei Kindern am ähnlichsten.“ Es entstand einen Moment Stille. Auch schon weil Balthasar nicht nur über das nachdenken musste, was er hörte, sondern auch weil er sein Herz beruhigen wollte. Er wusste, sein Vater war dem Wahnsinn verfallen und der Feind seiner Welt. Er verkörperte alles, was einen Bösewicht ausmachte. Und doch begehrte er seine Nähe, wollte seinen Zuspruch, sehnte sich nach seiner Anerkennung. Das, was er selbst nicht aussprechen wollte, sprach sein Vater aus. Narla hatte ihre eigene, kleine Familie und war glücklich und ausgefüllt. Sowohl in dieser als auch in seiner Zeit. Und Phoenix hatte sich Asato ausgesucht, der ihn glücklich machen würde in jeder Hinsicht. Nur Balthasar blieb als einziger auf der Strecke. Wurde belogen und hintergangen und ausgegrenzt. Und dann kam sein Vater und sprach genau das aus, was er sich selbst nicht traute.

„Ich weiß, dass du mir misstraust. Und auch dass du meine Moral nicht teilst“ sprach der stolzeste aller Feuermagier mit warmer Stimme. „Dass ich dich jahrelang allein ließ, bedauere ich. Und das obwohl ich es wahrscheinlich auch in dieser Zeit nicht ändern kann. Die Menschen, mit denen ich mich umgebe, sind keine sichere Umgebung für meine Kinder, geschweige denn für einen Säugling. Außerdem fiele es mir schwer, dich von deiner Mutter zu trennen, welche dich über alles liebt und welche du über alles liebst. Dich als Kleinkind zu mir zu holen, wäre zu gefährlich für dich. Du sollst frei aufwachsen und unbeschwert. Bis auf den fehlenden Vater. Doch nun bist du selbstständig in deiner Meinung und in deinen Taten. Ich muss dich nicht mehr beschützen, sondern kann mit dir auf Augenhöhe sprechen. Und deshalb bin ich heute hier.“

„Um mir das zu sagen?“ Er ärgerte sich darüber, doch Seth lächelte über seine zittrige Stimme. Er freute und fürchtete sich gleichermaßen. Es war genau wie damals als er zu ihm kam und ihn mitnehmen wollte. Damals wäre er auch mit ihm gegangen, doch seine geliebte Kimera hatte ihn gebeten zu bleiben. Doch sie war nun nicht hier. Er war hier ganz allein. Und ob er sie jemals wiedersehen würde, war fraglich. Phoenix und Asato durften zusammensein. Aber ob er sein Mädchen vermisste oder sie überhaupt jemals noch mal im Arm halten konnte, kümmerte niemanden!

„Ich bin hier um mich dir anzubieten“ brachte Seth ihm sanftmütig nahe. „Ich sehe wie zerrissen du dich fühlst. Einen Vater zu haben, den man eigentlich hassen müsste. Sowohl moralisch als auch aus eigenen Motiven. Und auf der anderen Seite die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben und der Ungerechtigkeit, die man sich gefallen lassen soll.“

„Du erwartest nicht, dass ich dir jetzt folge wie ein kleines Kind?“

„Nein, du bist nicht mehr klein. Du bist ein stolzer, junger Mann. Du kannst für dich selbst denken und entscheiden“ lächelte er mit warmen Augen. „Ich erwarte rein gar nichts von dir. Doch ich kann dir viel bieten.“

„Und was? Was sollte das sein, wo ich doch gar nichts von dir will?“ Er freute sich und doch konnte er nicht über seinen moralischen Schatten springen. „Du tauchst hier auf und erwartest, dass ich mich unbändig freue? Denkst du, ich kann meine Probleme nicht selbst lösen? Ich brauche dich nicht! Ich habe dich niemals gebraucht! Und das werde ich auch nie! Deine Versprechungen kannst du dir in den Arsch schieben!“

„Dein Argwohn ist verständlich. Ich würde nicht anders reagieren. Dennoch will ich dir sagen, was ich dir sagen will. Allein um meiner selbst willen. Ich biete dir an, dich mit mir zu nehmen. Nicht, um deinen Körper zu stehlen oder dich von meinen für dich perfide wirkenden Ansichten zu überzeugen.“

„Und weshalb dann?“

„Um dich kennen zu lernen. Und um mich kennenlernen zu lassen.“ Er trat ein paar Schritte näher bis sie kaum einen Meter voneinander entfernt standen und sich ihre Blicke trafen. Balthasar fehlte noch ein ganzer Kopf, um wirklich Seths Augenhöhe zu erreichen. „Ich fordere rein gar nichts von dir. Ich erwarte auch nicht, dass du mich liebst. Doch wenn du meine Nähe suchst, werde ich sie dir geben. Ich kann dich aus dieser Starre lösen, in welcher du dich befindest. Du kannst zu mir kommen und hierher zurückkehren, wann immer dir danach ist. Aber meine Einladung, die wollte ich dir überbringen. Mehr nicht.“

„Mehr nicht.“

„Nein, mehr nicht“ versprach er und streckte seine Hand aus. Sanft für er über das verschwitzte Gesicht seines Sohnes.

Der musste an sich halten, um nicht schwach zu werden. Er wollte mit ihm zusammensein, ihn kennenlernen, endlich einen Vater haben. Endlich jemanden, dem er wichtig war. Jetzt, wo sich sowohl Phoenix als auch Asato von ihm abgewandt, ihn ausgeschlossen hatten … stand ihm da nicht auch ein wenig Zuwendung und Anerkennung zu? Oder war das nur ein schwacher Moment, den sein Vater geschickt ausnutzte?

„Ich nutze nur den Moment, in welchem du für mich offen bist“ erwiderte er auf diesen Gedanken. Er legte seine Handfläche an Balthasars Wange, welche ebenso heiß war. „Ich will dir nichts einreden und dich nicht gefangen nehmen. Ich biete dir nur an, auch die andere Seite anzusehen.“

„Ansehen … wirklich nur ansehen?“ Er merkte kaum wie er seine eigene Hand hob und sie auf die seines Vaters legte. Wie lange sehnte er sich danach, ein mal ebenso viel Aufmerksamkeit zu bekommen wie sie sonst sein Bruder bekam. Sein Bruder bekam immer alles, er brauchte nur einmal leidlich dreinschauen. Und er selbst? Er war immer stark und fiel niemandem zur Last. Mit dem Ergebnis, dass man ihn außen vor stellte. Vernünftig musste er sein. Und Rücksicht nehmen. Alle erwarteten, dass er den großen Bruder mimte. Bis auf seinen Vater, der nur auf diesen Moment wartete, da Balthasar ihn unparteiisch anhörte.

Doch er wollte nicht schwach werden und so trat er einen Schritt zurück und entzog sich der väterlichen, heißen Hand. Alles sprach dagegen, ihm zu vertrauen. Er tötete Menschen und in der Zukunft hatte er selbst gesehen wie sein eigener Vater Seuchen und Feuerstürme über die Welt jagte, um den Großteil aller Ungläubigen auszulöschen. Ja, er verbündete sich sogar mit dem zwielichtigen Apophis und wer wusste, was er dem dunklen Seth als Lohn für seine Hilfe versprochen hatte. Nichts gab Anlass dazu, ihm zu trauen.

„Außer diesem kleinen Funken in dir, welcher mir trotz allem vertraut“ antwortete Seth auf diesen unausgesprochenen Gedanken.

„Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht vertrauen. Ich weiß, dass du mich nur gezeugt hast, um meinen Körper zu übernehmen. Und Dante sollte nur dazu dienen, Atemus neuer Körper zu sein. Sag mir nur einen einzigen Grund, warum ich dir trauen sollte?“

„Weil ich kein kinderfressendes Monstrum bin“ antwortete er und der auffrischende Wind lenkte die Aufmerksamkeit auf das Lichtspiel in seinem langen Haar. Wie konnte ein so böser Mann nur so dermaßen imposant sein?

„Du willst meine Seele verdrängen und meinen Körper übernehmen. Das ist nicht gerade etwas, was mich zu dir einlädt.“

„Ich bin ein Mörder, doch ich morde keine Unschuldigen.“ Seine sanfte Stimme floss in Balthsars Ohren. „Ja, ich töte Menschen für die Errichtung einer neuen Zukunft. Doch niemand stirbt umsonst, keine Seele geht verloren. Glaubst du wirklich, dass ich dir, der du mir so ähnlich bist, nicht einen besonderen Platz einräume?“

„Und was genau willst du von mir, Seth?“

„Ich will so viel von dir, wie ich dir im Gegenzug zu geben vermag.“

„Das ist eine ziemlich genaue Antwort. Super.“

„Du hast Recht. Ich an deiner Stelle würde mir nach all dem, was du gesehen und gehört hast, auch nicht trauen.“ Ein Lächeln umspielte seine Mine und in seinen Augen war keinerlei Boshaftigkeit zu erkennen. Als wäre er nicht derjenige, welcher die moderne Menschheit in die Apokalypse führte. „Ich gebe dir mein Wort, dass nichts gegen deinen Willen geschehen wird.“

„Sagte der Hypnotiseur und Gedankenleser.“

„Ich verführe dich nicht mit Magie. Das würdest du spüren“ beruhigte er sanft. „Ich kann dir hier und jetzt nicht alles erklären, doch ich lade dich ein, dir das junge Ankh Athu anzusehen, welches dieser Tage seine ersten Grundmauern zieht. Ich will dich weder für mich anwerben, noch dich listig verführen. Alles, was ich will, ist dir die andere Seite dessen zu zeigen, was du zu kennen glaubst. Und dir die Ehren zuteil werden lassen, welche dir zustehen.“

„Die da wären?“

„Mit Stolz den Namen Pasrahcal zu tragen“ sagte er und ließ seine Worte einige Sekunden wirken, bevor er ihn fragte: „Hat dir jemals jemand gesagt, dass du auch ohne Medium ein vollwertiger Magier sein kannst?“

„Ich fühle mich nicht minderwertig, falls du das meinst!“ Doch in seinem Kopf war ein anderes Bild. Wenn er gekämpft hatte, brach sein Bruder hinterher meist zusammen. Alle scharten sich dann um ihn, um den Kleinen, den Kranken, den Schwachen, der so mutig gekämpft und alles ertragen hatte. Und Balthsar? ER war derjenige, der kämpfte! ER war derjenige, der die Schmerzen während des Kampfes ertrug! ER war derjenige, der im Kampf aufmerksam sein musste und die Verantwortung trug! Und WER bekam die Anerkennung? Phoenix, allein der süße Spatz!

Alles wäre anders, wenn er verdammt noch mal kein Medium bräuchte!

„Ich entspreche vielleicht nicht deinem Weltbild des perfekten Vaters“ sprach Seth mit fester Stimme weiter. „Aber ich kenne das Gefühl der fehlenden Wertschätzung. Denn die meisten verwechseln Wertschätzung mit Mitleid. Dies ist ein Grund, weshalb ich meine magischen Grenzen überwinden und der Mächtigste von allen sein will. Und auch wenn du es verneinst, so weißt du genau, dass es dir ähnlich geht. Man hat dir beigebracht, deine Magie so zu akzeptieren wie sie ist. Und doch stellst du dir vor, wie es wäre, kein Medium zu brauchen. Dann erst würden sie sehen, wer wirklich etwas leistet. Ist es nicht so?“

„Du blickst in meine Gedanken und meine Gefühle. Es ist leicht, mir Zweifel einzureden.“

„Die Zweifel redest du dir nur selbst ein.“ Er ließ noch einen Augenblick Pause und blickte in den Baum am Wegesrand. Dort saß seine Falkendame und beobachtete Balthasar sehr genau. Mit ihren klaren, allsehenden Augen. Wenn er doch nur mit ihr sprechen könnte wie Sareth es konnte. Er würde sie so vieles fragen wollen. Und sie könnte ihm Dinge erzählen, die kein anderer von Seth jemals gesehen hätte.

„Auch wenn du Recht hast“ antwortete er mit zitternder Stimme und entwand sich der verlockend zärtlichen Hand. „Ich werde niemals sein wie du. Ich werde niemals ein Mörder werden. Als ich Asato aus dem Fenster gestoßen habe, habe ich erahnen können, was es für ein Gefühl ist, mit dieser Schuld leben zu müssen. Und das will ich nicht. Ich werde niemals, NIEMALS, einen Menschen morden oder ihm unnötig Schaden zufügen. Ich werde niemals …“

„Und genau deshalb brauche ich dich“ unterbrach Seths warme Stimme. „Du bist der Teil von mir, welcher niemals vom Wege abgekommen ist und es auch niemals wird. Und ich will der Letzte sein, welcher dich beschmutzt. Wie gesagt, bin ich nur hier, um dir meine Einladung zu überbringen. Wenn du bereit bist, dir meine Zukunft abseits von Blut und Terror anzusehen und das zu erkennen, was darüber hinaus entstehen kann, so bist du mir willkommen.“

„Dann willst du mich nicht jetzt sofort mitnehmen?“

„Das würdest du doch gar nicht wollen“ erwiderte er und streckte seinen Arm hinauf. Sofort startete Lela von ihrem Ausguck, segelte fast lautlos zu ihm herab und landete nach einer kleinen Umrundung sicher auf seinem Unterarm. „Wenn du dazu bereit bist, dich mir anzuvertrauen, dann stehen meine Tore für dich weit offen und meine liebste Lela wird dich zu mir führen.“ Er küsste ihren geplusterten Kopf und empfing dafür ein glückliches Gurren. „Denke darüber nach, Balthasar, und tue nur das, was du selbst willst. Und lass dir niemals von jemandem einreden, du müsstest dich verbiegen.“

„Gurruu?“

„Nein, wir gehen jetzt, mein Lieb.“ Seth ließ die Fälkin auf seine Schulter klettern und nickte seinem Sohn anerkennend zu. „Überlege es dir, Balthasar. Phaena Kiqed.“
 


 


 

Chapter 20
 

Erst als die Sonne und die Kinder und viele andere bereits schliefen, fand Seto Zeit, um seinen morgigen Arbeitstag vorzubereiten. Obwohl Noah und Joey ihm eine ausführliche Übergabe gegeben hatten, fühlte Seto sich dennoch als müsse er noch etwas nachholen. Ihn interessierten nicht nur die vorausgesagten Börsenkurse, sondern auch die der letzten Zeit. Auch wenn Noah ihm sagte, dass die Marktlage aus Sicht der KC recht entspannt aussah, war es dennoch Setos eigener Job, das im Auge zu behalten. Für den Laien oder Hobbybörsianer waren so ein paar Prozentpunkte hinter dem Komma nur ein paar Dollar. Aber bei der Masse, die Seto an der Börse besaß, waren diese Hundertstel bereits ein sechs bis siebenstelliger Betrag. Und letztlich fand er auch keine Ruhe zum Schlafen.

Bis spät in die Abendstunden hatten sie Schriftrollen gewälzt und morgen würde man sich um die digitalen Schriften kümmern, welche wesentlich zahlreicher waren. Außerdem sorgte er sich um Sethan und sein absonderliches Verhalten. Sethos war zwar auf dem Wege der Besserung, doch der Handel, den Amun-Re mit seinem Bruder gemacht hatte, sagte Probleme voraus. Zudem hatte Seth, ihr Seth, sich lange nicht mehr bewegt außer dass er mit Apophis paktierte. Seto wusste nicht, ob er seinem Yami nun gewachsen wäre. Er und auch Yugi wollten seine eventuell gewachsenen Kräfte nicht auf die Probe stellen. Auch wenn Tato sicher gern ein kleines Gefecht im Schattenreich abhalten würde, hätte Seto zu große Angst, ihn zu verletzen. Sethos war der einzige, an dem er sich messen konnte und durfte. Und ob er Yamis Verhältnis mit Finnvid guthieß, wusste er auch nicht. In seinem Gefühl gehörte er zu Seth und zu keinem anderen Mann. Jeder schien es zu akzeptieren und auch er versuchte, sich in Verständnis und Akzeptanz zu üben. Dennoch konnte er nicht hinsehen, wenn Yami genüsslich die Augen schloss und einen fremden Mann küsste. Und ihm sagte, dass er ihn liebte. Seto schwieg sich aus, er wollte und durfte es nicht kaputtmachen. Er hatte nicht zu bestimmen, wem Yami sein Herz schenkte. Dennoch fühlte er sich selbst dadurch etwas verraten. Sicher hatte Seth sich verändert und sicher hatte Yami das Recht auf Liebe. Doch wenn Seto sich nun auch veränderte … würde Yugi sich dann auch …? Und zu alledem hatte Nini auch noch Bauchschmerzen gehabt. Sorgen in Hülle und Fülle und das in allen Formen und Farben. Wie konnte er da Schlaf finden? Da konnte er ebenso gut Währungszeichen von Asien nach Europa nach Amerika schieben. Das machte keinen Unterschied außer auf dem Bankkonto.

Mit einem Seufzen nahm er einen Schluck seines kaltgewordenen Tees und klickte in ins Mailpostfach. Noah und Joey hatten es während seiner Abwesenheit bearbeitet, doch seit heute Mittag auch nicht mehr. Die meisten Absender und Betreffs kannte er und brauchte sie eigentlich nicht mal lesen, um zu wissen, was drin stand. Nur zwei der Mails erregten Aufmerksamkeit.

>Ich dachte, mein Spamfilter wäre zuverlässiger.< Also musste er wohl auch noch das Virenprogramm nachziehen. Er klickte sich in die Steuerung seiner Sicherheit und stutzte nun wirklich. >Warum ist der Absender als zuverlässig eingestuft?< Das sollte bei einer Absenderadresse wie ‚info-service@searchinghearts.com‘ eigentlich verhindert sein. Am Programm konnte es nicht liegen, so etwas ging nur manuell kaputt zu machen. Wer also zum Geier hatte so einen Absender als zuverlässig eingestuft? Er öffnete die Historie und brach über der Tastatur zusammen. >Natürlich. Der Köter.< Joey hatte den Absender genehmigt. >Jetzt surft der auch noch in Kontaktbörsen über meine Adresse. Das gibt Rache.< Wenn Joey ihn schon mit Liebes-Spam ärgerte, dann durfte er ihm doch wohl auch an die Kandarre fahren. Wenigstens etwas Ablenkung von den kleinen und großen Sorgen.

Joeys Passwort zu knacken, dürfte nicht allzu schwierig werden. Das war ja nur ne Partnerbörse und nicht das FBI. Wobei zweiteres auch kein Hindernis wäre, aber auch nicht halb so lustig.

Er ging ins interne KC-Netzwerk, verfolgte die heutigen Aktivitäten von Joeys IP-Adresse und fand sich schnell auf der Anmeldeseite von SearchingHearts wieder. >Na warte, du räudiger … Nutzername voreingestellt, wie blöd muss man sein?< Der Nick ‚WonderboyInBlond‘ war vorgemerkt. Das konnte nur Joey sein. >Und jetzt suche, Programm. Suche.< Seto startete sein Passwortprogramm und beobachtete den Ladebalken. So ein blödes Passwort hatte sein Sicherheitsprogramm schnell geknackt. Er konnte nicht mal seinen Becher austrinken, da blinkte bereits ein grünes Häkchen neben dem Eingabefeld. >JoeyIsTheBest1a … was für ein kreatives Passwort.< „Na fein.“ Er loggte sich also ein und kam auf Joeys Profil. >Na, wenigstens hat er kein Foto eingestellt.< Das wäre ein gefundenes Fressen für die Presse. Stattdessen ein kleiner Steckbrief.

Geschlecht: Männlich >Wer’s glaubt.<

Alter: 29 >Hundejahre?<

Größe: 1,78m >Winzling.<

Gewicht: 75 Kilo >Dachte, er wäre fetter.<

Haarfarbe: Blond >Offensichtlich.<

Besonderheiten: Reinbraune Augen, weiße Zähne, sportlicher Körperbau >Das Wort Reinbraun gibt es doch gar nicht.<

Beruf: Leitender Angestellter, Selbstständig. >Was denn nun? Angestellt oder selbstständig? Idiot.<

Familienstand: Ledig, 1 Kind >LEDIG? Ob Narla das weiß?<

Hobbys: Ausgehen, Konsolen-Spiele, Lesen, Sprachen (Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch, etc.) >Seit wann kann der lesen und was heißt hier etc.?<

Profiltext: Ich bin ein humorvoller, spontaner und aufgeschlossener Mensch. Mit mir kann man wilden Spaß haben, aber auch romantische Abende verbringen. Vor allem bin ich sehr treu und stehe zu den Menschen, die mir wichtig sind. >Deshalb steht da auch ‚ledig‘, was?< Ich bin kinder- und tierlieb. Ein Haustier habe ich zwar nicht, aber eine fast einjährige Tochter, die ich über alles liebe und welche auch bei mir lebt. >Ich habe zwar kein Tier, aber dafür ein Kind … was für ein Ersatz …< Ich bin aufgeweckt, leicht für Neues zu interessieren und generell ein lustiger Geselle. >Zum kranklachen.< Ich hoffe, über diese Seite neue Freunde oder auch eine neue Partnerschaft zu finden. Wenn auch ihr männlich seid und auf der Suche nach jemandem zum kennenlernen, seid ihr bei mir an der richtigen Adresse. Ich freue mich auf eure Mails! >No comment.<

Das gab ihm nun doch zu denken. Warum stellte Joey Partneranzeigen ein, um ausdrücklich männliche Bekanntschaften zu machen? Davon abgesehen, dass er weder homo noch ledig war. Und wenn er neugierig auf männlichen Sex war, gab es doch genug Möglichkeiten. Yami würde sofort zusagen. >Was bitte denkt er sich dabei? Ist der doof? Morgen nehme ich ihn in die … Moment mal!< Der Adressat seiner Spam-Mails war aber gar nicht ‚WonderboyInBlond‘, sondern ‚MeltingMan‘ … >Das ist nicht das Profil, zu welchem ich Mails bekomme. Hat Joey zwei Accounts?< Wobei ihm der Nick ‚MeltingMan‘ auch gar nicht stand. >Mir schwant Böses. Moment mal …<

Er loggte sich aus, trug den Nick ‚MeltingMan‘ ein und holte sich das Passwort. ‚SetoMeansJoeyIsTheBest1a‘ >Oh no …< Er klickte sich auf die Profilseite von ‚MeltingMan‘ und wurde zunehmend blass im Gesicht.

Geschlecht: Männlich

Alter: 28

Größe: 2,09m

Gewicht: 114 Kilo

Haarfarbe: Braun

Besonderheiten: Saphirblaue Augen und ein intensiver Blick, muskulös, hoch intelligent, gebildet, sehr kinderlieb, Zahlenmensch

Beruf: Selbstständig

Familienstand: Ledig, 2 Kinder

Hobbys: Arbeiten, Lesen, Essen, Kuscheln, Musizieren, Meckern

Profiltext: Ich bin ein schüchterner Mensch, dem Sicherheit in finanzieller, aber vor allem emotionaler Hinsicht wichtig sind. Meine distanzierte Art wird manchmal als arrogant verstanden, doch wenn ihr mich erst kennenlernt, werdet ihr sehen, dass ich ein überaus treuer und pazifistischer Mensch bin. Ich bin ein kleiner Morgenmuffel (okay, „klein“ ist gelogen) und brauche erst mal eine Kuscheleinheit und einen schwarzen Kaffee, bevor sich mein Hirn einschaltet. Ich bin zugegeben manchmal etwas cholerisch und pedantisch („etwas“ ist auch gelogen), aber ich bin auch sehr fürsorglich und zärtlich. Meine beiden Kinder (2 und 5 Jahre) leben bei mir und sind der Mittelpunkt meines Lebens. Als einfachen Menschen würde ich mich nicht bezeichnen und mein Partner sollte viel Geduld und Verständnis für meine Macken mitbringen. Doch dafür sehe ich sehr gut aus und habe mehr Geld als Heu. Wenn ihr es riskieren und mich kennenlernen wollt, freue ich mich auf jede Email. PS: Ich bin schwul, auch wenn ich das abstreite.

„AAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHHH!“ Das gab’s doch gar nicht! Joey hatte ein Partnergesuch für Seto eingestellt! Und nun kamen sogar Zuschriften! „Ich bringe ihn um. Ich schwöre es, dieses Mal bringe ich ihn wirklich um! Ich tu’s! Gleich morgen früh! Und bei Narla gehe ich auch petzen! Du wirst schon sehen, was du davon hast!“

!!! Sie haben eine Chat-Einladung !!!

„Na super, jetzt auch noch chatten oder wie? Joey, echt! Ich hau dich!“

!!! GoldenBoy wartet auf Ihre Antwort !!!

„GoldenBoy. Was für ein toller Name. Der kann mich mal! Ich sehe gut aus und habe Geld! Klar, dass der sich meldet. PS Ich bin NICHT SCHWUL! JOEY, ICH BRINGE DICH UM!“

!!! GoldenBoy wartet auf Ihre Antwort !!!

„Ja ja, ist ja gut. Wie lehne ich jetzt ab?“

Er klickte auf die Einladung und es geschah genau das, was er nicht wollte. Er war mitten im Chatprogramm. >Scheiße, wenn ich mich ärgere, geht die Konzentration flirten … äh flöten. Kacke.<

Also schrieb er dem armen Interessenten lieber gleich, bevor der sich falsche Hoffnungen machte:

MeltingMan: Das ist ein Fake-Profil. Such dir einen anderen.

GoldenBoy: Hallo Liebling.

>?????????????????????????????????????????????????????????<

„GoldenBoy?“ >Den gucke ich mir erst mal an. Ich lasse mich doch nicht verarschen!< Es war nur ein Klick und er fand das Profil seines neuesten Verehrers.

Geschlecht: Männlich

Alter: 28

Größe: 1,47m

Gewicht: 51 Kilo

Haarfarbe: Goldblond

Besonderheiten: Sportlich, muskulös, freundlich, spontan

Beruf: Sportler

Familienstand: Ledig

Hobbys: Lesen, Kochen, Leute bemuttern

Profiltext: TBD

!!! GoldenBoy wartet auf Ihre Antwort !!!

>Wollen die mich verarschen? Was haben die getrieben, während ich weg war?<

MeltingMan: Was soll das? Das ist nicht lustig!

GoldenBoy: Hast du dir mein Profil angesehen?

MeltingMan: Steht ja nicht viel überraschendes drin.

GoldenBoy: Ich bin erst seit ein paar Minuten angemeldet. Ich hatte noch keine Zeit, viel reinzuschreiben.

MeltingMan: Yugi! Was soll das?

GoldenBoy: Sorry. Ich bin nicht Yugi.

MeltingMan: Du weißt genau, dass Joey mich hier reingestellt hat. Ist der bekloppt, meine Emailadresse anzugeben? Wenn das rauskommt, haben wir die Presse am Hals.

GoldenBoy: Warum? Bist du so berühmt? ;o)

MeltingMan: Hör auf damit! Wieso schläfst du nicht?

GoldenBoy: Weil ich mit dir chatte, mein Engel.

MeltingMan: Geh schlafen!

!!! GoldenBoy hat sich abgemeldet !!!

„Geht doch.“ Ein schweres Seufzen entfuhr ihm als er sich mit angehenden Kopfschmerzen zurücklehnte. Waren denn jetzt alle verrückt geworden? Erst stellte Joey für ihn ein Profil in der Partnersuche ein und dann spielte Yugi das Spiel auch noch mit. So ein … >Ein Spiel< fuhr es ihm durch den Kopf. >Das ist ein Spiel. Ich wette, das ist wenn überhaupt nur zur Hälfte auf Joeys Mist gewachsen. Yugi hat auch nicht weniger Scheiße im Kopf.<

!!! Ihr Favorit GoldenBoy hat sich angemeldet !!!

!!! Sie haben eine Chat-Einladung !!!

!!! GoldenBoy wartet auf Ihre Antwort !!!

>Was auch immer das für einen Sinn hat.< „Na gut, Einladung annehmen.“ >Mal sehen, was er damit bezweckt.<

GoldenBoy: Guten Abend

MeltingMan: N’Abend

GoldenBoy: Sorry, mein Notebook wurde von einer wilden Katze zugeklappt. Schön, dass du noch hier bist.

MeltingMan: Wo ich bin, weißt du ja nun. Und wo bist du?

GoldenBoy: In einem großen, einsamen Bett ;o)

„Haaaach, Yugi.“ Darauf lief das also hinaus. Yugi wollte ein Spiel der besonderen Art. Nannte sich dann wohl Cybersex.

MeltingMan: Sorry, für so was fehlt mir im Moment echt der Kopf.

GoldenBoy: Tut mir leid, das sollte ein Witz sein.

MeltingMan: Sehr lustig.

GoldenBoy: Jetzt denkst du bestimmt, ich bin so einer, der nur auf Sex aus ist, oder?

MeltingMan: Das ist ja ziemlich eindeutig.

GoldenBoy: So bin ich eigentlich gar nicht. Bitte denke das nicht.

MeltingMan: Und was soll ich dann denken?

GoldenBoy: Dass ich dich kennenlernen möchte. Ehrlich.

MeltingMan: Ehrlich

GoldenBoy: Ganz ehrlich. Außerdem könnte alles andere schwierig werden, denn mir fehlt die WebCam. Und ich sehe doch ganz gern, mit wem ich „chatte“

MeltingMan: Hast einen merkwürdigen Humor, was?

GoldenBoy: Ich bin ganz brav. Soll ich mich noch mal neu anmelden oder gibst du mir auch so noch ne Chance? Ich würde mich nämlich gern bei dir empfehlen.

MeltingMan: Nee, lass. Ist okay so.

GoldenBoy: Ehrlich?

MeltingMan: Ganz ehrlich.

MeltingMan: :o)

GoldenBoy: Wow, ein Smiley. Schick!

MeltingMan: Nicht wahr?

GoldenBoy: :oP

MeltingMan: :oC

GoldenBoy: Ooooooh! Bist müde?

MeltingMan: Geht so. Bin noch am Arbeiten. Nebenbei hasse ich Smileys.

GoldenBoy: Was arbeitest du denn?

MeltingMan: Rate

GoldenBoy: In deinem Profil steht, du bist selbstständig.

MeltingMan: Wer lesen kann, ist im Vorteil.

GoldenBoy: Also arbeitest du irgendwas, wozu man einen PC braucht. Sonst könntest du ja nicht online sein.

MeltingMan: Kleiner Sherlock Holmes, was?

GoldenBoy: Hihi

MeltingMan: Ich leite eine Firma und war gerade dabei, mir Börsenkurse anzusehen.

GoldenBoy: Und war’s spannend?

MeltingMan: Ist wie die Zeitung von gestern zu lesen. Informativ, aber nicht spannend.

GoldenBoy: Und was macht deine Firma?

MeltingMan: Sachen verkaufen?

GoldenBoy: Was denn für Sachen?

MeltingMan: Elektronik, Rohstoffe, Dienstleistungen - so was eben.

GoldenBoy: Klingt aber nicht nach einer kleinen Firma

MeltingMan: Ich rede nicht so gern mit Fremden

GoldenBoy: … über die Arbeit

MeltingMan: Meine ich doch

GoldenBoy: Und sonst?

MeltingMan: Sonst auch nicht.

GoldenBoy: Sonst auch nicht was?

MeltingMan: Mit Fremden reden. Mache ich nicht gern.

GoldenBoy: Ich meine, was du sonst so machst. Wenn du nicht gerade nicht mit Fremden über die Arbeit redest

MeltingMan: Hast du mein Profil gesehen?

GoldenBoy: Klar. Natürlich. Deswegen schreibe ich dir ja.

MeltingMan: Wegen des guten Aussehens oder wegen des Geldes?

GoldenBoy: Selbst Schuld, wenn du die Männer damit köderst.

MeltingMan: Hast ja Recht. Aber sonst gäbe es ja auch kaum Gründe, mir schreiben zu wollen.

GoldenBoy: Warum? Auf mich machst du einen ganz lieben Eindruck. Ein bisschen grummelig, aber du hast ja geschrieben, dass das nur Schüchternheit ist.

MeltingMan: Das Profil hat ein Freund von mir eingestellt. Da hatte ich kein Mitspracherecht. Ich glaube, er wollte mich nur ärgern.

GoldenBoy: Und jetzt hast du mich am Hals. Armer Schatz.

MeltingMan: Gibt schlimmeres als dich.

GoldenBoy: War das ein Kompliment?

MeltingMan: Vielleicht.

MeltingMan: :o)

GoldenBoy: Oh, noch ein Smiley.

MeltingMan: Ich hasse Smileys.

GoldenBoy: Warum machst du sie dann ständig?

MeltingMan: Für dich. Aber jetzt lassen wir das dumme Smilen

GoldenBoy: Du bist ja süß!!!

MeltingMan: …

GoldenBoy: Entspricht dein Profil den den Tatsachen oder hat dein Freund da viel beschönigt? Oder eben nicht beschönigt? Ich meine, wenn er dich ärgern wollte …

MeltingMan: Ich befürchte, er hat mich ganz gut getroffen.

GoldenBoy: Warum befürchten? Gibt doch Schlimmeres als gutes Aussehen und Geld.

MeltingMan: Geld ja. Aber das mit dem guten Aussehen ist Geschmackssache.

GoldenBoy: Du hast ja leider kein Foto eingestellt.

MeltingMan: Gibt keine guten Fotos von mir.

GoldenBoy: Warum? Siehst du so blendend aus, dass der Film überbelichtet?

>Yugi!< Das war so eine typische Yugi-Logik. Jetzt ahnte Seto auch langsam, was das werden sollte. Yugi wollte ihn nicht nur mal wieder zu einem kleinen Rollenspiel auffordern, welches nach ein paar feuchten Aktionen wieder beendet war, sondern er strebte etwas Längeres an. Seto fragte sich, wie es wohl wäre, wenn er und Yugi sich heute nochmals kennenlernen würden. Übers Internet. Wie würde das ablaufen? Würden sie sich überhaupt jemals treffen? Abgesehen davon, dass Seto sich auf so etwas normalerweise niemals einlassen würde. Aber hatte er damals nicht selbst eine Partneranzeige aufgegeben, um Yugi eine Frau zu hinterlassen? War er so sicher, dass er, wenn er Single wäre, nicht doch übers Internet suchen würde? Er war mit Yugi verheiratet, überaus glücklich verheiratet, und musste an so etwas keinen Gedanken verschwenden. Aber vorausgesetzt, er wäre ledig mit zwei Kindern und sehnte sich nach einem Partner … nein, er würde sich wahrscheinlich nicht nach einem Partner sehnen. Auch nicht nach einer Partnerin. Aber als er noch Pascal ohne Erinnerungen war, war er auch auf jede Avance hereingefallen. Seto war kein Mensch, der alleine sein wollte. Aber er war auch kein Mensch, der weggeschoben werden wollte. Er war nicht dumm, aber auf emotionaler Ebene leider sehr naiv. Nein, er würde höchstwahrscheinlich gar nicht im Internet inserieren. Bei seinem Glück, geriet er an irgendwelche dunklen Typen. Aber … >Ach, was weiß ich! Ist doch nur ein Spiel. Und Yugi sitzt auf der anderen Seite. Soweit kommt das noch, dass ich vor meinem eigenen Mann kneife.< Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie ein Leben ohne Yugi wäre. Dafür reichten weder seine Fantasie noch seine Nerven. Ein Leben ohne Yugi war nicht vorstellbar, das existierte nicht mal in der Eventualität. Also warum nicht mal sehen, wie es hätte sein können, wenn er und Yugi sich auf andere Weise kennengelernt hätten.

GoldenBoy: Bist du noch da?

MeltingMan: Sorry, ich war in Gedanken.

GoldenBoy: Gedanken worüber?

MeltingMan: Ob es realistisch wäre, dass ich Bekanntschaften übers Internet suche. Eigentlich ist das nicht meine Art. Und dann wieder doch. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl hierbei.

GoldenBoy: Das verstehe ich. Um ehrlich zu sein, passt das auch zu mir nicht. Aber wenn ich jemanden wie dich hier kennenlernen kann, war die Idee nicht so schlecht.

MeltingMan: Sorry, aber ich verstehe dich nicht. Mein Profil verspricht abgesehen von Geld und „gutem“ Aussehen einen eher komplizierten, nervigen Menschen.

GoldenBoy: Und du fragst dich, warum ich gerade dir schreibe

MeltingMan: Ja, tue ich

GoldenBoy: Ich mag komplizierte Charaktere

MeltingMan: Das musst du mir erklären

GoldenBoy: Das kann ich nicht. Es ist einfach so

MeltingMan: Klingt sehr überzeugend

GoldenBoy: Zyniker, was?

MeltingMan: Problem damit?

GoldenBoy: Ich mag zynische Männer

MeltingMan: Aha

GoldenBoy: Und du bist eindeutig zynisch veranlagt

MeltingMan: Touché

GoldenBoy: Vielleicht mag ich bei anderen genau das, was ich nicht habe

MeltingMan: Was hast du denn nicht?

GoldenBoy: Mir fehlt es an äußerlicher Stärke. Ich bin nicht zynisch. Ich bin auch niemand, der leicht in den Mittelpunkt gerät. Und nennenswerte Alltagsmacken habe ich auch nicht. Ich gehe in der Masse unter. Vielleicht faszinieren mich deshalb Menschen, die so völlig anders sind als ich. Spannender.

MeltingMan: Du hast doch aber sicher auch deine Qualitäten

GoldenBoy: Ja, sicher habe ich die. Aber da muss man sich schon Zeit nehmen, um die zu finden. Wie gesagt, ich bin eher unscheinbar. Ich glaube, ich könnte mir die Haare grün färben und im Hühnerkostüm die Oscar-Verleihung besuchen und niemand würde es bemerken

MeltingMan: Bist du denn Schauspieler?

GoldenBoy: Ha ha. :o( Du weißt doch wie ich das meine

MeltingMan: Sorry, habe einen schlechten Humor

GoldenBoy: *herzchenaugen*

MeltingMan: ???

GoldenBoy: Ich habe Herzchen in den Augen. Ich mag Männer mit schlechtem Humor

MeltingMan: Du versuchst ja ziemlich offensichtlich zu flirten

GoldenBoy: Natürlich. Das hier ist ne Flirtseite.

MeltingMan: Kann ich eigentlich irgendwas sagen, damit du den Chat abbrichst?

GoldenBoy: Kann ich mir nicht vorstellen. Da müsstest du schon ein ziemlicher Schwachmat sein.

MeltingMan: Schwachmat in welcher Hinsicht?

GoldenBoy: Du müsstest mir auf die Pelle rücken. Von wegen „Triff dich mit mir bei mir zuhause oder zumindest in der Kneipe nearby“. Oder „Ich will dich ganz schnell heiraten, weil sonst kann ich mich auch vor die Bahn werfen“ oder „Pass auf, ich erzähle dir jetzt mein ganzes Leben, vor allem die Geschichten von meiner Ex und ich frage dich zwar nichts von dir, aber ich glaube, aus uns kann echt was werden“ oder so.

MeltingMan: Klingt als hättest du schon mehrere Onlinebekanntschaften gemacht.

masamume: Oh ja … ich könnte Geschichten erzählen, die sind so was von wahr, dass sie schon wieder ausgedacht klingen T_T

!!! GoldenBoy kickt masamume aus dem Chat !!!

MeltingMan: Danke

GoldenBoy: Bitte

MeltingMan: Wo waren wir?

GoldenBoy: Onlinebekanntschaften. Ja, hatte ich schon ein paar.

MeltingMan: Und?

GoldenBoy: Und nichts. Waren Nieten.

MeltingMan: Warum? Hatten die kein Geld oder sahen nicht gut aus?

GoldenBoy: Sowohl als auch. Die wo Geld hatten, waren zu sehr von sich eingenommen. Und die wo gut aussahen auch. Und die anderen hatte alle irgendeinen Schaden. In Mails und Telefonaten waren die meisten ganz nett, aber das erste Treffen war dann eigentlich immer ernüchternd. Der eine hat mir sogar beim Brunch im Fünfsternehotel erzählt, dass er Tierpornos gut findet und ein anderer hat die ganze Zeit beim Essen in der Nase gebohrt. Ich befürchte, im Netz sind nur gestörte Typen unterwegs.

MeltingMan: Wer sagt dir, dass ich nicht auch so ein gestörter Typ bin?

GoldenBoy: Mein Gefühl

MeltingMan: Du kannst gar kein Gefühl haben. Du hast nicht mal ein Foto von mir, geschweige denn jemals real mit mir gesprochen.

GoldenBoy: Vielleicht. Aber du hast einen interessanten Stil, den ich hoch schätze

MeltingMan: Was für einen Stil? Flirten online finde ich eher stillos

GoldenBoy: Nein, gar nicht. Zum Beispiel benutzt du normale Wörter und keine Abkürzungen. Du hast Ahnung von Rechtschreibung und Interpunktion. Und so wie es scheint, chattest du augenblicklich nur mit mir und nicht mit hundert anderen nebenher und das ist für mich ein Zeichen von Respekt.

MeltingMan: Respekt?

GoldenBoy: Klar. Okay, wenn wir uns jetzt öfter schreiben, ist es auch okay, wenn man Insider benutzt oder Abkürzungen oder eben klein und durchgängig schreibt. Weil’s halt einfach schneller geht. Oder wenn man nebenher auch mal etwas anderes macht. Aber für’s erste Mal chatten, finde ich es wichtig, dem anderen Respekt und Wertschätzung entgegen zu bringen. Besonders beim Flirten. Das zeugt von Intelligenz und guten Manieren

MeltingMan: Oder einfach davon, dass man es nicht besonders oft gemacht hat

GoldenBoy: Oder das :o)

MeltingMan: Lass die Smileys

GoldenBoy: Erzähle mir von dir

MeltingMan: Was willst du wissen?

GoldenBoy: Bist du wirklich schüchtern?

MeltingMan: Würde ich nicht sagen. Ich nenne es lieber zurückhaltend

GoldenBoy: Dein Hobby ist kuscheln?

MeltingMan: Nicht mit jedem Dahergelaufenen

GoldenBoy: Wenn ich dich auf einen Drink einladen würde. Was würdest du sagen?

MeltingMan: Verpiss dich

GoldenBoy: Die Antwort kam jetzt aber schnell

MeltingMan: Darüber musste ich nicht nachdenken

GoldenBoy: Warum? Bin ich dir unheimlich?

MeltingMan: Ich kenne dich nicht. Ich werde einen Teufel tun und mich mit jemandem treffen, mit dem ich höchstens ein paar Buchstaben ausgetauscht habe

GoldenBoy: Aber da entgeht dir etwas

MeltingMan: Lass es bleiben. Wenn du mir auf die Pelle rückst, mache ich die Fliege und gehe schlafen - allein

GoldenBoy: Ich habe nicht gesagt, dass ich in dein Bett will

MeltingMan: So verstehe ich das aber

GoldenBoy: Bitte nicht :o(

MeltingMan: SMILEY!!!

GoldenBoy: Sorry. Ich will keinen ONS. Das ist nicht meine Art. Ich möchte dich nur kennenlernen

MeltingMan: Was bitte ist ein ONS? Drück dich klar aus!

GoldenBoy: Das ist ein One Night Stand.

MeltingMan: Ach so

GoldenBoy: Du bist nicht oft online, oder?

MeltingMan: Nicht auf solchen Seiten. Chatten tue ich grundsätzlich nicht. Das hier ist reiner Zufall.

GoldenBoy: Du klingst beleidigt

MeltingMan: So klinge ich nicht nur

GoldenBoy: Was kann ich tun, um dich gütlich zu stimmen?

MeltingMan: Nein, ich meine, so klinge ich nicht NUR … ich kann auch anders klingen. So meine ich das

GoldenBoy: Du bist süß

MeltingMan: Sag das nicht immer

GoldenBoy: Aber wenn es doch so ist?

MeltingMan: Verarscht du mich?

GoldenBoy: Nein, ich finde dich wirklich süß. Du bist ein bisschen wie ein trotziges Kind. Nein, eher ein verlegenes Kind, das sich seine Verlegenheit nicht anmerken lässt

MeltingMan: Du weißt doch, dass ich schüchtern bin

GoldenBoy: Ich dachte zurückhaltend

MeltingMan: …

MeltingMan: Ich muss jetzt wieder arbeiten

GoldenBoy: NEIN WARTE!!!

MeltingMan: Was denn noch? Wenn du mich ärgerst?

GoldenBoy: Ich wollte dich nur ein bisschen aus der Reserve locken. Entschuldige

MeltingMan: Lass einfach solche Anspielungen und ärgere mich nicht

GoldenBoy: Ich glaube aber, du wirst ganz gern ein bisschen geärgert :o)

MeltingMan: … kill the smiley. Echt jetzt! Das nervt!

GoldenBoy: Tut mir leid. Ich bin ein bisschen nervös. Mir liegt was daran, dich nicht zu vergraulen

MeltingMan: Davon merke ich nicht viel

GoldenBoy: Was kann ich tun?

MeltingMan: N i e - w i e d e r - S m i l e y s !!!

GoldenBoy: Okay. Versprochen :o)

MeltingMan: Grrrrrrrrr

GoldenBoy: Ich mag dich

GoldenBoy: Wirklich

GoldenBoy:?

GoldenBoy: Hallo?

GoldenBoy:?

GoldenBoy: Klopf klopf?

MeltingMan: Du überspannst den Bogen jetzt wirklich. Ich habe keine Lust auf Typen, die sich nur über mich lustig machen. Ich will nicht sagen, dass man mit mir keinen Spaß haben kann, aber ich kenne dich nicht und kann dich rein schriftlich nicht einschätzen. Deswegen versuche bitte ernst zu bleiben, ja?

GoldenBoy: Okay. Entschuldige. Ich fange immer an Unsinn zu machen, wenn ich nervös bin. Ich möchte mich eigentlich nur bei dir interessant machen.

MeltingMan: Und das soll ich dir glauben?

GoldenBoy: Bitte. Soll ich noch mal anfangen?

MeltingMan: Nein, ist okay. Ich bin nur etwas empfindlich, was das angeht. Ich kann nicht mit Leuten Spaß machen, die ich nicht kenne.

GoldenBoy: Schlechte Erfahrungen?

MeltingMan: Sozusagen.

GoldenBoy: Willst aber nicht drüber reden?

MeltingMan: Nicht wirklich

GoldenBoy: Ist okay. Entschuldige bitte, wenn ich dir auf die Nerven falle. Ich bin wirklich kein Fake-Account, sondern habe ehrlich Interesse an dir.

MeltingMan: Obwohl ich dich gerade anraunze?

GoldenBoy: Eben deshalb. Du reagierst auf mich.

MeltingMan: Wer sagt dir, dass ich kein Fake bin?

GoldenBoy: Niemand. Außer dir.

MeltingMan: Wenn ich ein Fake wäre, würde ich dir das natürlich nicht sagen

GoldenBoy: Du hast mir ja schon gesagt, dass ein Freund dein Profil ohne dein Zutun gebastelt hat

MeltingMan: Ein Hinweis mehr auf einen Fake

GoldenBoy: Oder genau das Gegenteil. Weißt du, wenn ich jeden hier für einen Fake halten würde, dann würde ich auch niemals jemanden kennenlernen. Man muss einfach etwas Vertrauen vorschießen. Sonst kann man es gleich lassen

MeltingMan: Du willst also sagen, ich soll dir vertrauen oder es gleich lassen

GoldenBoy: Nein, so nicht. Eher, dass ich dir vertraue, dass du ein realer Mann bist, der real vor einem PC sitzt und reale Dinge schreibt.

MeltingMan: Und wenn ich nun jemand bin, der sich nur mit dir treffen will und einen ONS will?

GoldenBoy: Dann würde ich mich wahrscheinlich freundlich aus de Affäre ziehen oder in deinen Worten „Verpiss Dich“ sagen

GoldenBoy: Okay, das würde ich wahrscheinlich nicht sagen. Fluchen kann ich nicht besonders gut

MeltingMan: Und wenn ich dich nicht gehen lasse? Wenn ich dich entführe oder dich in irgendeine dunkle Ecke ziehe?

GoldenBoy: Hör auf, jetzt wird’s unheimlich

MeltingMan: Deswegen halte ich nichts von Online-Dates

GoldenBoy: Das ist ja auch nur, um sich anzutasten. Auch wenn ich dir etwas frech vorkomme, bin ich eigentlich traditionell eingestellt. Erst ein bisschen chatten, dann Fotos austauschen und telefonieren und sich dann vielleicht treffen. An einem belebten Ort zu einer hellen Tageszeit. Zum Mittag oder zum Brunch. Und geküsst wird beim ersten Date auch nicht. Besser ist das.

MeltingMan: Warum nicht? Kannst du nicht küssen?

GoldenBoy: Das Urteil überlasse ich dem Geküssten :o)

MeltingMan: …

GoldenBoy: Sorry, ohne Smiley.

MeltingMan: :oP

GoldenBoy: Hey!

MeltingMan:

GoldenBoy: Süß! Und du? Kannst du küssen?

MeltingMan: Küssen wohl schon. Nur ob das nun gut oder schlecht, weiß ich nicht. Habe mich noch nie selbst geküsst.

GoldenBoy: Schade. Da hast du bestimmt was verpasst.

MeltingMan: Ähm …

GoldenBoy: Ja?

MeltingMan: Nichts

GoldenBoy: Ooooookay.

GoldenBoy: Ich habe gelesen, du hast zwei Kinder.

MeltingMan: Zwei sehr süße sogar

GoldenBoy: 2 und 5 Jahre alt?

MeltingMan: Genau. Mein Sohn ist 2, meine Tochter 5. Sie sind das allerwichtigste für mich. Wichtiger als alles andere.

GoldenBoy: Das ist schön

MeltingMan: Und willst du auch irgendwann Kinder haben?

GoldenBoy: Ja, sicher. Wenn die Partnerschaft stimmt, warum nicht?

MeltingMan: Vorausgesetzt, wir beide verstehen uns gut. Würdest du meine Kinder akzeptieren?

GoldenBoy: Ich glaube, die Frage ist falsch herum. Da deine Kinder dein Ein und Alles sind, müssen sie zuerst mich akzeptieren. Wenn sie mich nicht mögen, kann ich mir den Papa wohl auch von der Backe putzen. Oder?

MeltingMan: Wahrscheinlich. Aber meine beiden sind sehr liebenswürdig und neuen Menschen gegenüber aufgeschlossen. Du würdest sie sicher mögen.

GoldenBoy: Das beruhigt mich etwas. Darf ich dir auch eine persönliche Frage stellen?

MeltingMan: Ich finde, wir sind schon sehr persönlich. Aber gut, nur raus damit.

GoldenBoy: Bei dir steht, dass du schwul bist. Ich meine, sind das deine eigenen Kinder aus einer Hetero-Partnerschaft oder sind sie adoptiert?

MeltingMan: …

GoldenBoy: Zu persönlich?

MeltingMan: Ein wenig. Es sind meine Kinder. Meine beiden, meine. Mehr zählt nicht. Vorausgesetzt, wir beide würden heiraten. Würdest du dann einen Unterschied machen zwischen meinen und deinen Kindern?

GoldenBoy: Und mir vorwerfen, dass ich zu schnell zur Sache komme … jetzt sind wir also schon verheiratet, ja?

MeltingMan: Beantworte einfach die Frage

GoldenBoy: Okay. Ich denke, so etwas kann man nicht pauschal mit Ja oder Nein beantworten. Sicher ist, dass es immer deine Kinder wären, weil sie vor mir da waren. Ich würde mir wünschen, dass sie mich als Papa akzeptieren, aber sie müssten mich nicht Papa nennen, nur weil ich es so will. Und bei einer Trennung müsste ich immer darauf gefasst sein, dass sie bei dir bleiben würden. Natürlich bleibt da eine gewisse Distanz.

MeltingMan: Dann würdest du eher dazu tendieren, dass es meine Kinder wären?

GoldenBoy: Wie gesagt, das kann ich nicht pauschal sagen. Ich weiß ja auch kaum etwas von dir oder ihnen oder eurem Leben. Ich würde auch nicht mit dir zusammenkommen, nur um mich dann wieder zu trennen. Ich weiß aber, dass ich mich sicher nicht wie eine böse Stiefmutter verhalten würde. Wenn ich dich liebe, dann liebe ich auch deine Kinder und sorge für sie. Schon weil sie ein Teil von dir sind. Ich wäre gern ihr Papa, würde sie aber nicht zu etwas unnatürlichem zwingen. Das ist ein schweres Thema.

MeltingMan: Stimmt. Wir sollten es wechseln. Soll ich dich nun etwas fragen?

GoldenBoy: Klar. Mach.

MeltingMan: Du bist momentan nicht in einer Partnerschaft?

GoldenBoy: Ledig. Genau.

MeltingMan: Warum nicht?

GoldenBoy: Viele Freunde, viele Bekannte, viele Kollegen, aber niemand da zum Lieben und Begehren. Ich nehme nicht gleich den Nächstbesten und gebe mich auch nicht für den nächstbesten hin. Gemeinsamkeit, das ist wichtig. Und du?

MeltingMan: Sieht so ähnlich aus. Ich habe Schwierigkeiten, Vertrauen zu fassen.

GoldenBoy: Warum?

MeltingMan: Schlechte Erfahrungen.

GoldenBoy: Böse Männer und/oder Frauen, die dich so vorsichtig gemacht haben. Dabei scheinst du doch eigentlich ganz lieb zu sein.

MeltingMan: Lieb würde ich das nicht nennen.

GoldenBoy: Dann süß?

MeltingMan: Das ist deine Meinung.

GoldenBoy: Wie würdest du dich denn beschreiben?

MeltingMan: Ich finde nur schwer gute Eigenschaften an mir. Ich brauche viel Zuspruch, das ist wohl mein Problem.

GoldenBoy: Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich habe eine gute Meinung von mir und ärgere mich, wenn andere das nicht erkennen oder missdeuten. Ich will mich nicht anbiedern, aber ich will etwas dafür tun, damit man mich mag. Schwierig.

MeltingMan: Niemand sagt, dass Liebe einfach ist. Einfach ist nur die Liebe eines Kindes.

GoldenBoy: Kann ich dich noch etwas fragen?

MeltingMan: Du denkst jetzt, ich habe nen Schaden, oder?

GoldenBoy: Sowieso.

MeltingMan: Danke

GoldenBoy: :oP

MeltingMan: Smiley

MeltingMan: Was willst du denn?

GoldenBoy: Hast du mein Profil gelesen?

MeltingMan: Natürlich. Quasi schon auswendig gelernt.

GoldenBoy: Und?

MeltingMan: Und was?

GoldenBoy: Dir ist nichts negativ aufgefallen?

MeltingMan: Außer dass du noch keinen Text drin hast. Aber ein Foto habe ich auch nicht. So what?

GoldenBoy: Ich meine … ich bin nicht gerade groß

MeltingMan: Und ich bin nicht gerade klein

GoldenBoy: Eben

MeltingMan: Du denkst, ich bin zu faul, mich zu bücken?

GoldenBoy: Oder schämst dich mit einem … Winzling wie mir?

MeltingMan: Ich weiß zwar nicht wie du aussiehst, aber du hast dich mit sportlich und muskulös beschrieben. Das klingt doch sehr gesund.

GoldenBoy: Aber du bist mehr als einen halben Meter größer als ich

MeltingMan: Höchstens höher, nicht größer

GoldenBoy: Gehupft wie gesprungen

MeltingMan: Ich finde es nicht schlimm. Um ehrlich zu sein, mag ich Männer, die nicht ganz so riesig sind

GoldenBoy: „nicht ganz so riesig“ ist nett. Aber 1,47 ist - klein

MeltingMan: Ich wollte es nicht so ostentativ sagen, aber ich mag kleine Männer. Manche mögen dunkles Haar, andere mögen große Hände, ich mag kurze Männer.

GoldenBoy: Das sagst du jetzt hoffentlich nicht extra

MeltingMan: Tue ich wirklich nicht. Schau:

MeltingMan: :o)

MelzingMan: Extra für dich.

GoldenBoy: Okay okay, ist klar.

MeltingMan: Wenn das deine einzige Sorge ist.

GoldenBoy: Es war mir wichtig, das gesagt zu haben.

MeltingMan: Gibt’s da noch mehr, was du loswerden willst?

GoldenBoy: Wie meinst du das?

MeltingMan: Schlechte Eigenschaften. Was würdest du als deine schlechteste Eigenschaft nennen?

GoldenBoy: Was mich selbst oder was andere nervt?

MeltingMan: Sowohl als auch.

GoldenBoy: Mich selbst nervt eben meine Körpergröße. Auf der Straße werde ich für einen Schuljungen gehalten und von vielen Leuten nicht ernst genommen. Das würde ich als meine körperlich schlechteste Eigenschaft bezeichnen.

MeltingMan: Und mental?

GoldenBoy: Meine mental schlechteste Eigenschaft? Ich würde sagen, dass ich eine Glucke bin. Überbehütend. Ich stecke mich oft in Sachen rein, die mich nichts angehen (sollten). Helfersyndrom nennt man das wohl.

MeltingMan: Aha

GoldenBoy: And you?

MeltingMan: Schlechte Eigenschaften habe ich viele. Soll ich dir die ganze Liste schicken oder willst du nur die Top 100?

GoldenBoy: Die Top 3 reichen mir auch.

MeltingMan: Kritikunfähig, Cholerik, Anhänglichkeit. In beliebiger Reihenfolge.

GoldenBoy: Anhänglichkeit ist eine schlechte Eigenschaft?

MeltingMan: In dieser Form ja. Ich fühle mich schlecht, wenn mein Partner mich allein lässt. Und wenn ich verliebt bin, werde ich sehr anhänglich und manchmal auch eifersüchtig. Ich brauche ständig Nähe und Zuwendung. Es nervt mich selbst, aber ich kann es nicht ändern. Es ist schwer mit mir.

GoldenBoy: Das werde ich dann ja sehen. Und deine körperlich schlechteste Eigenschaft

GoldenBoy: Hallo?

MeltingMan: Ich überlege

GoldenBoy: Schwer etwas zu finden?

MeltingMan: Nein, ich weiß nicht, ob ich es dir sagen soll. Das ist sehr persönlich

GoldenBoy: Warum? Fehlt dir ein Bein? Ein Auge? Ne Arschbacke?

MeltingMan: Nein, nicht so offensichtlich. Sorry, das ist mir jetzt zu intim.

GoldenBoy: Okay, dann frage ich auch nicht weiter. Sag es, wenn du soweit bist. Aber gibt es denn nichts, was dich oder andere nervt?

MeltingMan: Andere fühlen sich von meinem Blick verunsichert.

GoldenBoy: Warum? Hast du den bösen Blick?

MeltingMan: Wahrscheinlich. Manchmal sehe ich die Leute nur an und sie ergreifen die Flucht oder benehmen sich nervös oder fahrig. Ich provoziere das nicht, aber mein Freund sagt, ich sollte aufpassen, wen ich wie ansehe. Ich werde häufig falsch verstanden und kann solche Missverständnisse nur schwer ausräumen. Ich kann nicht gut mit Menschen umgehen. Häufig weiß ich auch einfach nicht, was sie von mir wollen.

GoldenBoy: Und mit deinen Kindern?

MeltingMan: Ich liebe meine Kinder. Mit Kindern verstehe ich mich allgemein gut. Bei denen habe ich keine Angst vor einem ungerechten Urteil, weil sie auf andere Dinge achten. Für Kinder sind Gut und Böse noch dasselbe. Das schätze ich.

GoldenBoy: Aber auch Kinder können grausam sein. Sehr grausam.

MeltingMan: Ich weiß. Aber ich mag Kinder trotzdem. Ich meine, richtige Kinder. Vom Babyalter an bis zu fünf oder sechs Jahren. Je älter sie werden, desto mehr nehmen sie das Verhalten der Erwachsenen an. Ich mag kleine Kinder mit kleinen Herzen und einer unverstellten Art.

GoldenBoy: Dann hättest du Kindergärtner werden sollen

MeltingMan: Vielleicht. Aber das wäre ja keine Arbeit im eigentlichen Sinne.

GoldenBoy: Du sag mal, dieser Freund, den du jetzt ein paar Male erwähnt hast

MeltingMan: Nur EIN Freund. Nicht MEIN Freund. Falls du das meinst.

GoldenBoy: Meinte ich

MeltingMan: Wir sind nicht zusammen. Herrgott, herrje! Das würden meine Nerven nicht mitmachen.

GoldenBoy: Warum?

MeltingMan: Er nervt von morgens bis abends. Ich brauche jemanden, der ruhig und geduldig ist und mich nicht durch die Gegend hetzt.

GoldenBoy: Klingt als hättet ihr Spaß

MeltingMan: No comment

GoldenBoy: Schade.

GoldenBoy: Entschuldige, ich muss mich jetzt ausloggen.

MeltingMan: Schon?

GoldenBoy: Ja, mein Typ wird verlangt. Aber wollen wir uns morgen Abend wieder treffen?

MeltingMan: Warum nicht?

GoldenBoy: Ich weiß nicht

MeltingMan: Das sollte Ja heißen.

GoldenBoy: Dann freue ich mich

MeltingMan: Ich mich auch

MeltingMan: :o)

GoldenBoy: Du bist süß. Dann arbeite nicht mehr so viel und geh bald ins Bett, ja?

MeltingMan: Wartest du auf mich?

GoldenBoy: Hi hi. Du Schlimmer, du!

MeltingMan: Schlaf gut und bis morgen.

GoldenBoy: Ich werde da sein. Schlaf gut, MeltingMan.

MeltingMan: Du auch, GoldenBoy

GoldenBoy: *kiss*

!!! GoldenBoy hat sich abgemeldet !!!

Chapter 21 - 25

Chapter 21
 

Nun wollte er wissen, weshalb Yugi sich so schnell aus dem Staub gemacht hatte. Wo er sich doch gerade ans Chatten gewöhnte. Er klappte den Laptop zu und verließ das Büro.

In der Gaststätte saßen noch ein paar letzte Gäste. Der Stammtisch, der jeden Sonntag stattfand und immer dieselben acht älteren Herren umfasste. Und hinten am Fenster ein junges Pärchen, welches beim Dessert Händchen hielt. Und Hannes, welcher seine Theke für den morgigen Tag vorbereitete. Er winkte Seto mit einem kurzen Salut und der nickte ihm stumm zu, bevor er die Treppe in großen Schritten erklomm. In seinem Zimmer brannte erwartungsgemäß das Licht, Yugi ließ es immer noch jede Nacht für ihn an. Doch der lag nicht im Bett. Er hatte wohl dort gelegen, denn sein Laptop lag am Fußende und seine Seite des Bettes war benutzt. Doch er selbst war nicht da.

Seto lauschte und hörte Flüstern aus dem Kinderzimmer. Aus Tatos Zimmer. Er drückte leise die angelehnte Tür auf und sah, dass Yugi am Bettchen saß, auf dem Boden mit Tato auf einer Höhe und dem Kleinen den Kopf streichelte. Nebenbei sprach er leise Worte und küsste seinen Sohn.

„Alles in Ordnung?“ fragte Seto leise. Ganz leise.

Yugi nickte und stand möglichst lautlos auf.

„Papa?“ hörte man leise unter der dicken Daunendecke.

„Ich dachte, du schläfst schon wieder.“ Also setzte er sich zurück auf den Boden und streckte die Hand unter die Decke. „Mach die Augen zu, Süßer. Ich bin ja hier.“

Auch Seto schlich sich dazu, setzte sich zu Tato aufs Bett und legte ihm die Hand auf die Stirn. „Er ist ganz warm.“

„Tato hatte einen bösen Traum.“

„Won Blom“ ergänzte der mit müder Stimme.

„Von Blumen“ bestätigte Yugi, während Seto seinem Mini ebenfalls einen Kuss auf die roten Wangen gab.

„Schlaf wieder ein, Tato. Es ist schon Nacht und die Blumen schlafen jetzt auch alle. Papa und ich sind ja da und beschützen dich.“

„Un Nene?“

„Und Nini beschützen wir auch. Euch beide. Schlaf wieder ein, Knutschi. Papa und ich sind immer hier. Wir sind immer bei dir. Auch wenn du schläfst. Alles ist gut.“

„Mama …“

„Schlafe wieder ein, Großer.“

„Gehd nich …“

„Soll ich dir ein Schlaflied singen?“

„Hmmm.“ Das klang nach Zustimmung.

Also streichelte Seto ihm sanft durchs Haar und sang seinem kleinen Alpträumer ein zärtliches Liedchen.

„Schlafe mein Prinzchen, es ruhn Schäfchen und Vögelchen nun.

Garten und Wiese verstummt, auch nicht ein Bienchen mehr summt.

Luna mit silbernem Schein gucket zum Fenster hinein.

Schlafe beim silbernen Schein.

Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein.

Schlaf ein, schlaf ein.

Wer ist beglückter als du? Nichts als Vergnügen und Ruh!

Spielwerk und Zucker vollauf, und noch Karossen im Kauf!

Alles besorgt und bereit, dass nur mein Prinzchen nicht schreit.

Was wird da künftig erst sein?

Schlafe mein Prinzchen, schlaf ein.

Schlaf ein, schlaf ein.“

„Mama …“

„Schläfst du denn immer noch nicht?“ seufzte er und küsste seinen Kleinen. Das musste ja ein schlimmer Blumen-Traum gewesen sein, dass er die Augen nicht zumachen konnte. Normalerweise überwachte Tato nicht mal die erste Strophe von Mamas Gesang. „Was ist denn, Tatolino?“

„Nommer sing“ blubberte er und kuschelte seine Stirn gegen Yugis Hand. „Mein Tado-Schlafenlied.“

„Tato-Schlafenlied?“

„Das hat Tato ihm vorgesungen. Er ist ganz vernarrt darin“ lächelte Yugi und legte seinen Kopf zu ihm aufs Kissen. „Soll ich mal versuchen, dir vorzusingen?“

„Hmmmm.“

„Na gut.“ Yugi und singen. Na, das konnte ja was werden. Aber woher sollte Seto auch wissen, welches das Tato-Schlaflied war, wenn drei Monate fort gewesen war? Obwohl der Text so typisch für ihn war. Für den großen als auch den kleinen.

„Als ich ein kleiner Bube war,

war ich ein kleiner Lump.

Zigarren raucht' ich heimlich schon,

trank auch schon Bier auf Pump.

Zur Hose hing das Hemd heraus,

die Stiefel lief ich krumm.

Und statt zur Schule hinzugehn,

strich ich im Wald herum.

Wie habe ich's doch seit jener Zeit

So herrlich weit gebracht!

Die Zeit hat aus dem kleinen Lump

'nen großen Lump gemacht.“

„Typisch Tato“ seufzte Seto. Der brachte sich selbst auch nur Unsinn bei. Er musste sich ja schließlich nicht selbst erziehen. Dieser Lumpenbube.

„Aber er schläft jetzt wieder“ flüsterte Yugi und küsste seinen Kleinen, bevor er vorsichtig die Hand zurückzog. „Erst hat er nur im Schlaf geredet und ich dachte, er nickt wieder ein. Aber als er zu weinen anfing, musste ich doch gucken gehen.“

„Und er hat von Blumen geträumt?“

„Müssen wohl Monsterblumen gewesen sein. Er hat eine lebhafte Fantasie.“ Er nahm Setos Hand und hielt sie an seine eigene Stirn. „Schön, dass du immer so kalte Pfoten hast, Engelchen.“

„Du fühlst dich auch ganz warm an.“

„Ich habe mir Sorgen gemacht und wohl mit Tato mitgefiebert.“ Er legte sich die Hand in den Nacken und atmete entspannt durch. Setos Hände waren besser als jedes Kühlpad. „Das war sein erster Alptraum. Nur ein Traum, aber er sah wirklich verschreckt aus.“

„Meinst du, dass das ein spezieller Traum war?“

„Ich wollte ihn nicht weiter fragen. Und selbst wenn, dann werden wir aus seinen Erklärungen wohl nicht schlau. Aus deinen nächtlichen Visionen bin ich auch nie schlau geworden.“

„Dann meinst du, es könnte eine Vision gewesen sein?“

„Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Ich weiß nur, dass er geweint hat und wirklich weglaufen wollte. Aber er hat nur die Decke runtergestrampelt.“

„Warte.“ Er legte seine andere Hand an Tatos schlafendes Köpfchen. Er schloss seine Augen halb und horchte tief in ihn hinein. Tato würde das gar nicht mitbekommen, aber wenn es eine Vision gewesen war, würde Seto das erkennen.

„Und?“ fragte Yugi leise und hob den Kopf. „Eine Vision?“

„Ich weiß nicht genau“ antwortete er mit abwesender Stimme und leerem Blick. „Ich sehe eine Wiese. Eine grüne Wiese und es stehen rosa Blumen dort. Sie sehen aus wie … Orchideen und … Hyazinthen. Fuchsien. Viele Gräser und auch sie tragen rosa Blüten. Es sieht friedlich aus.“

„Und warum hatte Tato dann solche Angst?“

„Ich kann es nicht sagen.“ Er stoppte, spürte, sah, fühlte, deutete. Seine blauen Augen verloren sich in der Weite eines immateriellen Raumes. Dann erst konnte er Yugi mehr sagen. „Es weht kein Wind. Alles steht still. Das könnte ihm Angst gemacht haben.“

„Sieh in den Himmel. Was ist dort?“ Yugi beobachtete Setos Gesicht und bemerkte dort ein Zucken. Nur kurz, doch es war eine ungewöhnlich starke Reaktion. „Liebling, was ist dort oben?“

„Der Himmel ist schwarz. Nein, nicht schwarz … silbergrau. Er glänzt blau, doch er scheint unnatürlich dunkel … nein, nicht dunkel … es ist das Licht. Es scheint keine Sonne. Es ist hell, aber es gibt keine Lichtquelle. Wie als wäre man im Wasser. Das Licht kommt von überall her und der Himmel wirkt drückend. Mir wird … schwindelig.“

„Dann höre lieber auf.“

„Der Himmel nimmt die Farbe an, die ich ihm andichte. Denke ich an schwarz, ist er schwarz. Denke ich an blau, ist er blau. Denke ich an rosa, ist er rosa. Aber es gibt keine Sonne. Rundherum sind Berge. Nein, nicht rundherum. Nur auf einer Seite. Ich will in Richtung der Berge gehen, doch sie weichen und dann ist dort wieder diese windstille Wiese mit rosa Blumen. Es ist schön, aber … alles wirkt beengend. Als würde mich diese Wiese gefangen halten.“

„Das hat Tato geträumt? Passiert nichts weiter?“

„Nein, es passiert nichts. Es ist nur diese Wiese und die Blumen. Es ist als wären sie lebendig, als würden sie mich ansehen. Augen. Überall Augen. Aber es sind doch nur Blumen. Die Blumen beobachten mich …“ Er zog seine Hand zurück und rieb sie als hätten Fesseln die Finger zusammengequetscht. Er blickte den schlafenden Tato an, doch den Traum konnte er nicht deuten. „Yugi, das war eine Vision. Tato kann sich so etwas nicht ausdenken. Das wurde ihm geschickt.“

„Geschickt? Wer sollte ihm so eine Vision schicken? Er ist noch fast ein Baby.“

„Vielleicht sollten wir diese Vision sehen. Seit du mein Herz hast, kann mir kein Gott mehr eine Warnung oder eine Drohung schicken. Vielleicht benutzen sie Tato, um uns etwas mitzuteilen.“

„Amuns Götter würden Tato nicht benutzen, um mit uns in Kontakt zu treten“ bemerkte Yugi. Selbst wenn sie es täten, würden sie ihn nicht ängstigen. Amuns Götter waren zartfühlend und schickten kleinen Kindern keine solchen Träume.

„Dann war es einer von den anderen Göttern“ ergänzte Seto und sah Yugi ernst an. „Hältst du es für möglich, dass das an uns gerichtet war?“

„Der einzige von den dunklen Göttern, der Visionen leiten kann, ist Chons“ antwortete Yugi besorgt. „Seth hat doch seinen Deal. Warum sollte er Tato solche Bilder schicken? Er würde sich dafür jemanden aussuchen, der sich besser artikulieren kann. Abgesehen davon, würde Seth seine Sachen selbst regeln.“

„Noch eine Sorge mehr auf meiner Liste“ seufzte er und lüftete seinen Kragen. „Ich sollte heute Nacht vielleicht lieber bei Tato bleiben. Ich traue der Sache nicht.“

„Nein, wir machen das anders. Tato kommt in unser Bett und Nini auch.“

„Meinst du, dass Ninis Bauchschmerzen auch so einen Auslöser hatten?“

„Nein“ lachte Yugi und schüttelte wissend den Kopf. „Da war definitiv die große Flasche Brause Schuld dran. Na komm, ich nehme Tato und du nimmst Nini.“

„Das … das Gefühl kenne ich …“

„Welches Gefühl?“ Seto machte ein komisches Gesicht. Er wurde ganz blass und sah Yugi mit geweiteten, glasigen Augen an. Doch als er auch seine Schultern hochzog, wusste Yugi, welches Gefühl er meinte. Er bekam Angst. „Seto, ganz ruhig. Es war doch nur ein Traum.“

„Nein, nicht das. Das ist Sethan.“

„Sethan?“

„Sethan hat … er fürchtet sich!“ Sofort sprang er auf und rannte hinaus. Er hatte noch niemals eines von Sethans Gefühlen aufgeschnappt. Und noch niemals eines, welches so intensiv war, dass er es auf diese Entfernung spürte. Und dann auch noch dieses, welches ihm so innig vertraut war.

Yugi hörte es draußen poltern, doch ihm nachzulaufen, würde nichts bringen. Er nahm Tato aus dem Bett und brachte ihn zu seiner Schwester. Wenn Sethans Gefühl mit Tatos Traum zusammenhing, war es besser, zusammen zu bleiben.
 

Seto indessen kam an Sethans geöffneter Tür an. Yamis Raum war leer, der war noch mit Finn unterwegs und würde frühestens in den Morgenstunden zurücksein.

„Komm rein.“ Seto sah den großen Tato neben dem leeren Bett stehen und ihn heranwinken. Seiner leichten Bekleidung, sprich nur Unterwäsche, zu urteilen, war auch er geweckt.

„Du hast es auch gespürt, oder?“

„Ich habe Sethan noch nie so intensiv gespürt“ antwortete er mit leiser Stimme, ging zu ihm und legte Seto die Hand auf die Schulter, sprach ihm vertraulich zu. „Aber wir sollten jetzt noch nicht stören.“

„Warum? Was ist los? Ich rieche Marik.“

„Marik ist bei ihm. Bis eben hat Sethan ihn angeschrien, aber jetzt ist Ruhe. Komm.“

Auf nackten Sohlen traten die beiden Drachen zur Tür und horchten herein. Doch als auch nach einer vollen Minute keine Stimme herausdrang, schauten sie, ob etwas zu tun war. Doch auch der Blick nach innen zeigte keine allzu beängstigende Situation.

Sethan saß in seinem grauen Morgenmantel auf dem Fenstersims, hatte der Tür und somit auch Marik den Rücken zugewandt. Marik stand noch immer in seiner Tageskleidung nahe der Tür und sah Sethan mit bewegungslosen Augen an.

„Können wir helfen?“ fragte Seto vorsichtig.

„Ja.“ Sethan klang verärgert. Sehr verärgert. „Schafft ihn mir aus den Augen.“

„Ich weiß einfach nicht, wo Euer Problem liegt“ widersprach Marik. Er klang weder unterwürfig, noch respektlos. Er hielt nur offensichtlich diese Ablehnung nicht aus. Jedenfalls nicht ohne zu wissen, woher die kam. Er breitete die Arme aus und forderte seine Antwort. „Ich habe mich bei Euch entschuldigt. Was soll ich denn noch machen?“

„Einfach verschwinden. Ist das so schwer zu verstehen?“

„Ja, ist es!“ Er ballte die Fäuste. Marik wurde selten wütend. Das war eher sein Alterego, dem solche Gefühle lagen. Doch auch der treueste Diener ließ sich nicht ewig alles gefallen. „Wir haben kaum zwei Sätze miteinander gewechselt und Ihr bringt mir nichts als Ablehnung entgegen. Wenn Ihr mich schon mit Eurer Verachtung demütigt, dann will ich wenigstens den Grund wissen. Ich denke, das zu fordern, steht mir zu.“

„NICHTS STEHT DIR ZU! GAR NICHTS! HÖRST DU?!“ Er sprang auf, wickelte den lockeren Morgenmantel eng um sich und stierte ihn mit funkelnden Augen an, dass Tato und Seto zusammenzuckten. Marik jedoch schien das nicht zu bemerken. „DU HAST KEIN RECHT DAZU, IRGENDETWAS VON MIR ZU FORDERN! GEH ZURÜCK IN DEIN GRAB, WO DU HINGEHÖRST!“

„Der Pharao hat mich gerufen. Also gehöre ich im Augenblick hierher“ entgegnete Marik mit wesentlich ruhigerer Stimme. Er wollte sich trotz seines Ärgers nicht zu einem Wutausbruch hinreißen lassen. Das war nicht sein Stil. „Und ich denke, es ist nicht zu viel verlangt, wenn auch Ihr mit mir zusammenarbeitet, Sethan. Ich bin hier, um einer Freundin zu helfen und Eure Hilfe wäre dabei ebenso zu erwarten.“

„Du kapierst es nicht, oder?“ fauchte er und krallte seine Finger tief in den dünnen Stoff. Es fehlte nicht mehr viel und er würde irgendetwas zertrümmern. „Wenn ich dir sage, du sollst zurück unter die Erde dann hast du das zu tun.“

„Bei allem Respekt, aber Ihr habt mir nichts zu befehlen.“

„DOCH! DAS HABE ICH!“

„Nein. Die Pharaonen und ihre Hohepriester sind meine Herren. Niemand anderes.“

„ICH BIN HÖHER GEBOREN ALS DIE PHARAONEN! IHR WORT ZÄHLT GAR NICHTS GEGEN MEINES!!! V E R S C H W I N D E E N D L I C H !!!“

Völlig überraschend zog Marik sein T-Shirt aus. Er zog es einfach über seinen platinblonden Kopf und drehte Sethan seinen tätowierten Rücken hin. „Da steht es“ zeigte er mit der Hand auf seine Schulter. „Allein der Pharao gebietet über die Familie. Er ist der Herr des Grabes und der Kräfte darin, der Geister und des Wissens, sowie über die Wächter darselbst. Ich, Marik Ishtar, bin dem Pharao durch Geburt zur Treue bis in den Tod verpflichtet. Ich weiß genau, was in meine Haut gebrannt steht und dort steht nichts von einem höheren Wesen als dem Pharao. Und selbst wenn es eines geben sollte, bin ich noch immer dem Pharao verpflichtet.“ Er drehte sich herum und warf ihm mit Nachdruck sein Shirt vor die Füße. „Ich weiß doch, was da steht und ich weiß auch wie man es deutet. Doch Ihr anscheinend nicht. Dass ich hier vor Euch krieche, tue ich allein aus Respekt und Ehrgefühl. Doch Ihr tretet meine Loyalität mit Füßen. Und ich bin der Meinung, dass ich das nicht verdiene!“

„V E R S C H W I N D E !!!“ Sethan war außer sich. Er riss mit einem Schrei den Vorhang vom Fenster und zertrümmerte damit die Nachttischlampe. Er konnte kaum an sich halten, so wütend war er.

Doch nur Seto und Tato spürten, dass es keine Wut war, die ihn befiel. Es war Angst. Unglaublich große, lähmende, grauenvolle Angst.

„Marik“ bat Tato und trat mit großer Vorsicht zwischen die beiden. „Vielleicht solltest du jetzt lieber gehen. Bitte.“

„Findest du nicht, dass mir eine Antwort zusteht?“ fragte er ihn nachdrücklich. „Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen. Und wenn ich gemaßregelt werde, dann will ich zumindest wissen wofür.“

„FÜR DEINE EXISTENZ!!!“ Sethan stapfte zu ihm, stieß Tato aus dem Weg und starrte Marik direkt in die Augen. Doch seine Augen waren feucht und sein Gesicht verzogen vor Emotionen, die Marik und jeder andere schnell als Wut deutete. Dabei fürchtete er sich zu Tode. „DU HÄTTEST NIEMALS GEBOREN WERDEN SOLLEN! DEINE EXISTENZ IST EINE SCHANDE FÜR …“

Doch da packte Marik ihn an den Händen und drückte ihn so schnell an die Wand, dass keiner der beiden Priester reagieren konnte. „Was nimmst du dir heraus, du verzogenes Balg?“

„Malik, lass ihn los.“ Tato legte ihm die Hand auf den nackten Rücken, während Seto mit einer deutlich kalten Warnung seine Handgelenke nahm.

„Jetzt hör mal zu, du Miststück“ zischte er dem in die Enge Getriebenen mitten ins Gesicht. Sethan hatte nicht die Körperkraft, um sich einem Paket wie Malik zu stellen. Und der ging mit niemandem zimperlich um. „Es ist mir egal, ob du dich König der Götter nennst. So etwas muss er sich nicht von dir sagen lassen. Wenn hier eine Existenz schändlich ist, dann deine. Du bist nur ein keifendes, verzogenes Balg!“

„Malik, es reicht jetzt!“ fuhr Tato nun härter dazwischen. „Lass ihn los oder wir trennen euch.“ Und das konnte sehr schmerzhaft werden. Denn gegen einen Drachen wäre wiederum Malik unterlegen.

Nur der war noch nicht fertig mit dem, was er sagen wollte. „Wenn du dich für so edel und hochgeboren hältst, dann benimm dich auch so. Auf seine Diener zu spucken, ist schändlich und alles andere als …“

„MALIK! LOSLASSEN! LETZTE WARNUNG!“

„Wenn ich noch ein Mal mitbekomme, wie du Marik demütigst“ warnte er Sethan, der ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte. „Dann sorge ich dafür, dass du niemals mehr dein Schandmaul gegen irgendwen aufreißt. Haben wir uns verstanden, du Kakerlake?“

„Malik …“ Doch Sethans Wut oder Angst war verschwunden. Tränen rannen über sein Gesicht und seine Züge formten schiere Verzweiflung. „Halte ihn von mir fern. Ich bitte dich. Halte ihn fern. Bitte. Beschütze uns und halte ihn von mir fern.“

„Malik. Lass ihn jetzt los.“ Tato griff mit fester Hand in seinen Nacken und beugte den kräftigen Yamikörper. „Lass ihn los. Sofort. Ich tue dir weh, ich schwör’s dir, Kumpel.“

Endlich stieß der dann Sethan weg und brachte sich selbst in ausreichenden Abstand zu ihm und den beiden Priestern. Doch er blickte das verflennte Häufchen eines Gottkönigs an und wusste anscheinend auch nicht, was er davon nun halten sollte. Eben noch warf er mit Beleidigungen und Gegenständen um sich und dann bettelte er um Hilfe. „Du bist doch nicht normal, Mann“ urteilte er und rieb sich den Nacken. Tato hatte dort ganz sicher mehr als nur einen einzelnen blauen Fleck hinterlassen. „Behandle ihn einfach seinem Stand entsprechend. Sonst kriegen wir Ärger.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging aus dem Raum.

Tato sammelte den zitternden Sethan vom Boden auf und hielt ihn in den den Armen. Er wollte ihm die Tränen fortwischen, doch Sethan wandte sein Gesicht ab und erledigte das alleine.

„Hat er dir wehgetan?“ sorgte Seto sich und kniete zu den beiden herab.

„Nein“ antwortete er mit versteckter Stimme und wischte sich mehr verzweifelt als tapfer übers Gesicht. „Alles gut. Ihr könnt wieder ins Bett gehen.“

„Sethan, warum hast du Angst vor Marik?“

„Ich habe keine Angst. Ich kann ihn nur einfach nicht leiden.“

„Sethan, wir sind Empathen“ wirkte auch Tato auf ihn ein und streichelte beruhigend seine Schultern. „Mama und ich, wir spüren, dass du dich fürchtest.“

„Ihr … spürt mich?“ Das verwunderte und schockierte ihn gleichermaßen. Er nahm die Hände herunter und sah erst seinen Großvater, dann seinen Onkel erschüttert an. „Niemand kann mich spüren. Niemand kann in meinen Geist eindringen.“

„Nicht wir dringen in deinen Geist ein, sondern du in unseren“ versuchte Seto ihm zu erklären. Er nahm seine Handgelenke und schloss sanft und kühlend seine Hände darum. Er war ganz heiß. „Sethan, nicht dein Geschrei hat uns geweckt, sondern dein Gefühl. Du hast dich so stark gefürchtet, dass es bis zu uns gestrahlt hat. Was lässt dich so fühlen?“

Doch er schwieg sich aus. Er antwortete einfach nicht. Nein, er blickte seitwärts zu Boden und blieb eine Erklärung schuldig.

„Okay, du willst nicht darüber sprechen“ seufzte Tato, schlang seine Arme um ihn und küsste seine Schläfe. „Marik ist niemand, vor dem du Angst haben musst. Er hat keine magischen Kräfte. Und sein Millenniumsglöckchen ist auch keine Bedrohung für dich. Und auch mit seinem großen Wissen kann er dir nicht schaden. Du hast keinen Grund, dich zu fürchten.“

Auch hierauf erwiderte er nichts. Er blieb einfach stumm. Nichts weiter.

„Sethan“ versuchte auch Seto es nochmals. „Wir lieben dich. Bitte rede doch mit uns.“

„Bitte erzählt niemandem, dass ich geweint habe.“ Das war seine einzige Sorge. Jedenfalls die einzige, welche er äußern wollte.

„Wir wissen, dass auch du nicht immer stark sein kannst“ bat Seto, hob sein Kinn und blickte ihm tief in die feuchten Augen. Sanft und behutsam legte er seine kühle Handfläche an die rotglühende Wange. „Auch wenn du dich für unser aller Schicksal hältst, selbst wenn du es wirklich bist, so musst du dennoch nicht alles allein tragen. Gib uns etwas von deiner Last ab. Wenn nicht um deinetwillen, dann wenigstens um unseretwillen. Lass uns dir helfen. Bitte.“

„Danke, Oma“ flüsterte er. Er legte seine fiebernde Wange in die kühle Hand und fing sich langsam wieder. Auch lehnte er sich zurück und ließ sich von seinem Onkel stützen.

„Du bist zu jung, um schon zu verzweifeln“ sprach Tato ihm mit gesenkter, sanfter Stimme zu. „Egal wozu du geboren wurdest, du bist noch immer ein Teil unserer Familie. Und zu sehen wie du dich quälst, ist auch für uns schmerzhaft. Und zu fühlen wie du dich uns entziehst, macht uns Sorgen und bereitet uns Trauer.“

„Ich will niemanden traurig machen. Besonders euch nicht.“ Er atmete langsam und tat dann seine Augen auf. „Deshalb fragt mich bitte nicht weiter. Sonst verliere ich die Fassung.“

„Vielleicht solltest du das ab und zu mal“ lächelte Seto ihm zärtlich zu. „Glaube mir, ich weiß wovon ich rede. Ich bin quasi Meister in peinlichen Gefühlsausbrüchen.“

„Muss in der Familie liegen“ scherzte auch Tato und küsste seinen Neffen. „Sethan, auch wenn du der Mächtigste von uns bist, kannst du dennoch nicht verhindern, dass uns ein starkes Band verbindet.“

„Wer sagt denn, dass ich das verhindern will?“

„Alles an dir“ erkannte auch Seto und strich ihm über den Kopf. „So viel du auch bewirken kannst, du kannst nicht unsere Gefühle verändern. Wir lieben dich. Dagegen kannst du dich nicht wehren.“

„Wir lieben dich seit deiner Geburt. Nein, schon seit du uns prophezeit wurdest“ bekräftigte auch Tato und schmiegte den Kopf an seine Schulter. „Lass lieber zu, dass wir dich lieben. Du weißt, dass wir Drachen sonst sehr ungemütlich werden können.“

„Ja, ich hab’s verstanden. Und jetzt hört auf, mich zu trösten und zu betatschen.“ Langsam wurde ihm das peinlich. Er war ein junger Mann und wurde hier mitten auf dem Boden gekuschelt. Sowas taten auch wirklich nur Drachen ohne Bedenken.

„Okay. Und morgen entschuldigst du dich bei Marik“ beschloss Tato, griff ihm unter die Arme und hob ihn völlig problemlos auf die Füße. Dabei war Sethan auch nicht gerade zierlich.

„Ich glaube nicht, dass ich das tun werde.“

„Doch, wirst du“ hielt er dagegen und legte den Arm um ihn. „Ihr müsst ja nicht gleich heiraten, aber zumindest solltest du seine Anwesenheit akzeptieren und ihm ein kleines bisschen Respekt entgegen bringen. Er reist doch schon bald wieder ab und dann bist du ihn los. Genieße es lieber, den jungen Marik zu sehen, bevor er alt und schrumpelig wird.“

„Marik ist cooler drauf als du vielleicht denkst“ legte auch Seto ein gutes Wort für ihn ein. „Als ich noch eine halbe Mumie war, hat er sich aufopfernd um mich gekümmert und sich nicht einen Augenblick geekelt. Und als er, Odion und Ishizu meine einzigen Gesprächspartner waren, habe ich viele gute Seiten an ihnen entdeckt. Besonders an Marik. Er ist ein gutes Oberhaupt und handelt sehr weise, obwohl er noch nicht mal 30 Jahre alt ist. Nebenbei finde ich es bewundernswert wie natürlich er sich im Stadtleben verhält, obwohl er größtenteils in einem historischen Grab unter der Erde lebt.“

„Nächste Woche wollen wir zur Eröffnung des neuen Clubs gehen“ erwähnte Tato nochmals extra. „Du solltest dir überlegen, ob du nicht vielleicht doch mitkommen willst. Du musst dich ja nicht mit ihm in die Lounge kuscheln, aber ihm in einer großen Runde mal zuzuprosten, dazu solltest du dich schon herablassen. Allein um ihm ein wenig Respekt für seine Dienste zu zollen. So viel Ehrgefühl traue ich sogar dir zu.“

„Ich stecke mich nicht gern in diese Diener-Meister-Verhältnisse rein.“

„Aber in Familienangelegenheiten bist du verwickelt, da bist du nun mal reingeboren“ meinte Seto. „Und die Ishtars gehören zur Familie. Auch wenn sie nicht mit uns leben, sind sie uns eng verbunden. Wir sollten sie nicht anfeinden. Besonders ihr Oberhaupt nicht.“

„Könnt ihr jetzt mit der Gehirnwäsche aufhören?“ Er richtete sich seinen verrutschten Morgenmantel und fuhr sein hüftlanges, blondes Haar zurück. Seine Strähnen hatten sich verzottelt und er blieb mit den Finger darin hängen.

„Du siehst unbegeistert aus“ stellte Tato belustigt fest.

„Mama ist ja nicht hier …“

„Bitte?“ Seto blickte beide abwechselnd an. „Habe ich einen Insider nicht mitbekommen?“

„Sethan mag seine langen Haare nicht“ erklärte Tato. „Aber Nini liebt sie. Deshalb lässt er sie nicht schneiden, obwohl sie ihn nerven.“

„Die hat wohl dieselben Flausen im Kopf wie Yugi“ tröstete Seto den haargeplagten Sethan. Er selbst trug ja auch eine Frisur, die er nicht ausstehen konnte. „Ich hätte auch lieber wieder kurzes Haar.“

„Ihr seid aber auch Memmen“ meinte Tato mit verschränkten Armen und modischer Kurzhaarfrisur. „Wenn ihr euch die Haare abschneiden wollt, dann macht es doch einfach. Seid Männer.“

„Und wenn Spatz sagen würde, du sollst sie wachsen lassen?“ bemerkte Sethan.

„Das ist nicht nötig. So viele Haare habe ich nicht, dass wachsen sich lohnen würde.“

„Ich meine wachsen im Sinne von Längerwerden. Nicht im Sinne von rausreißen. Sei nicht immer so spitzfindig, Onkel Tato.“

„Ich habe mir noch nie gern was vorschreiben lassen. Wenn ich kurze Haare will, habe ich kurze Haare. Und wenn ich mir nen Bart stehen lasse, dann lasse ich mir einen Bart stehen. Und wenn ich mir die Fingernägel bunt lackiere, dann tue ich auch das. Da kann mein Spätzchen sich auf den Kopf stellen.“

„Ich glaube dir kein Wort“ dachte Seto und sah seinen Enkel an. „Und wir beide gehen morgen zum Frisör. Ob’s jetzt jemandem passt oder nicht.“

„Meinst du? Ich hatte noch nie kurzes Haar.“

„Schiss?“ grinste Tato ihn provokativ an.

„Geht so“ seufzte er, wischte sich über die Augen und blickte zu Boden. Als würde er sich schämen, so sprach er nach unten. „Onkel Tato?“

„Was denn? Soll ich die Schere gleich rausholen? Ich ärgere meine Pharaonin Schrägstrich Schwester nämlich nicht gerade ungern.“

„Nein. Ich dachte … es ist mir unangenehm, aber kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“

„Klar.“ Er senkte seine Stimme und wurde sofort sehr fürsorglich. Er wusste, dass Sethan so etwas nicht leicht über die Lippen kam. „Willst du in Balthasars freiem Bett schlafen oder bei mir? Oder soll ich hier bleiben?“

„Nein, ich … wenn du hier bliebest …“

„Natürlich. Schlafen kann ich überall.“

„Nur wenn es Spatz nicht stört oder … ihr noch …“

„Quatsch, Sex hätte heute eh nicht mehr stattgefunden. So viel Potenz kann er gar nicht vertragen.“ Und das sagte er so selbstverständlich als würde Yami im Zimmer stehen. „Außerdem schläft meine Tochter im Bett nebenan. Da kann nicht mal ich. Selbst wenn ich wollte.“ Er nahm ihn in den Arm und küsste die Klette in seinem Haar. „Ich bleibe gern bei dir heute Nacht. Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?“

„Du sollst mich nur einfach nicht ärgern.“

„Dann sage ich auf dem Rückweg drüben bescheid, dass du ausräumig nächtigst“ nickte Seto und küsste Sethans Stirn. „Und wenn du etwas brauchst, dann rufst du, okay?“

„Mache ich. Danke, Oma.“

„Ab morgen darfst du wieder Seto zu mir sagen.“ Das Oma wollte ihm nicht so recht schmecken. Er trug keine Perlenketten und so tief waren die Falten auch noch nicht. Außerdem fehlten Einkaufstasche, Gesundheitsschuhe und Blumenbluse. Er fühlte sich nicht wie eine Oma.

„In Ordnung, Oma.“

„Dein Onkel hat einen schlechten Einfluss auf dich“ argwöhnte er und zog die Augenbraue hoch. Auch wenn ihm nicht nach Scherzen zumute war, wollte er jetzt nicht weiter darauf herumreiten. Sethan schien außer der Weltrettung noch ein ganz anderes Problem zu haben.

Nämlich sich selbst.

Und in seinen Gedanken bemerkte Seto gar nicht wie er auf dem Rückweg Yamis Haarbürste in den Schuhschrank legte …
 


 


 

Chapter 22
 

„Du pennst ja noch!“ Als Tato am nächsten Morgen ins Zimmer kam, lag Phoenix langgestreckt im Bett und ließ sich die Sonne auf den Rücken scheinen.

„Dicker, es ist nicht mal sieben Uhr“ murmelte er müde. „Es ist keine Schande, noch im Bett zu liegen.“

„Du bist hier, um die Welt zu retten und nicht, um Urlaub zu machen. Los, sei ein Medium und steh auf.“ Er zog ihm die Decke vom Arsch, aber Phoenix zog dafür nur das Kissen über den Kopf. Er wollte noch nicht aufstehen.

„Musst du so gute Laune haben?“

„Ist das verboten?“

„Sollte es werden.“

„Wo ist meine Tochter?“

„Bad.“

„Du bist ja muffeliger als ich. Soll ich dich mit einem Lied erfreuen?“

„Nein. Danke.“

„Guten Morgen liebe Sorgen!“

„Ich schlafe noch, Mann!“ schimpfte er, zog das Kissen beiseite und sah ihn verstimmt an. „Warum ärgerst du mich?“

Und mit einem Grinsen erwiderte er: „Weil du dich so schön ärgern lässt.“

„Bah!“ Er steckte den Kopf wieder unters Kissen und beschloss, ihn einfach zu ignorieren. Ein Drache mit guter Laune war noch schlimmer als einer mit schlechter Laune.

Dafür spürte er wie Tato sich auf die Matratze neben ihn setzte, sein sonnengewärmtes Schlafshirt hochschob und ihm einen feuchten Kuss auf den nackten Rücken knutschte.

„Wir schwingen unser linkes Bein behände aus dem Bett,

der Bettvorleger gibt uns Schwung bis direkt vors Klosett.

Na, wo wir schon mal da sind, da bleiben wir auch hier …

Wooaah! Fertig! Wo ist das Papier?“

„Asato“ maulte es irgendwo unter dem Kopfkissen. „Muss das sein?“

„Ja, es muss. Ich singe bis du aufstehst.“

„Und denkst, ich gebe jetzt nach, ja?“

„Wenn ein Tag so wunderschön beginnt, ist alles drin.

Heute bleibt die Dusche kalt, das Wasserrohr ist hin.

Wir gleiten auf den Fliesen aus und prellen uns den Steiß.

Als Krönung schmeckt der Kaffee heute irgendwie nach Schweiß.“

„Diiiiicker“ seufzte er leicht bis mittelmäßig genervt. Musste seine volltonige Stimme so einen nervigen Unsinn von sich geben?

„Ja, mein Schschschschpatz?“ Man hörte das Grinsen in seiner Stimme und dass er provokativ über seine Wirbelsäule leckte, machte die Stimmung nicht besser. Wenn Phoenix nicht genau wüsste, dass da definitiv KEIN Schokoladenüberzug auf seinem Rücken wäre … es fühlte sich an als würde der Drache ihn gleich weglutschen wollen.

„Dicker, sag mal?“ Was anderes fiel ihm nicht ein. Nur nach dem Sex fiel der Gute meist schnell in einen komatösen Schlaf. Yami und Yugi hatten beide bestätigt, dass das ne Drachenkrankheit war. Sex wirkte narkotisierend. Und er wusste nicht, wie er sonst in absehbarer Zeit ausschlafen konnte. „Gibst du Ruhe, wenn ich dich mit Sex betäube?“

„Nur wenn du mich das noch mal vor allen Leuten fragst.“

Das würde er natürlich nicht. Deshalb lüpfte er das Kissen und blinzelte ihn aus dem Dunkeln heraus an.

„Die Zeitung ist geklaut - was soll‘s, die schreiben eh nur Dreck.

Ein Zettel auf dem Tisch - für mich? Aha, mein Freund ist weg.

Mit meinem Auto, meinem Geld - das nennt der nu Liebe.

Die Porno-Sammlung hat er auch, Gelegenheit macht Diebe.“

„Du hast doch gar keine Porno-Sammlung.“

„Meinst du! Guten Morgen liebe Sorgen, seid ihr auch schon alle da? Habt ihr auch so gut geschlafen? Na, dann ist ja alles klar! Guten Morgen liebe Sorgen …!“

„Ah! Hör auf, mich abzulecken!“ Jetzt leckte er sich auch noch bis unter die Gürtellinie. Das musste ja nun wirklich nicht sein. „Dicker, Finger weg!“

„Komm schon, Kleiner. Steh auf und kümmere dich um mich.“

„Wer von uns beiden ist hier in der Pubertät, ha?“ Doch als die Hände nun auch noch seine Unterwäsche herunterschoben und eine freche Zunge zwischen die beiden Bäckchen fuhr, drängte sich ein unheilvoller Verdacht auf. Tato hatte morgens niemals gute Laune. Das war total untypisch. Total untypisch … bis auf einen einzigen Tag alle vier Wochen. Und das bedeutete, dass diese gute Laune auch ganz leicht umschlagen konnte. „Dicker …?“

„Jaaaaaa, mein Zuckermuffin?“ Er saugte sich an seiner Arschbacke fest. Das würde einen richtig schönen Fleck geben.

Und Phoenix traute sich nicht wirklich zu fragen. Das konnte seine gute Laune nämlich leicht verhageln. Und dennoch … „Dicker, welche Mo…“

Pling! Pling! Pling!

Gerettet wurde er von einem piependen Handy, welches irgendwo auf dem Nachttisch lag. Das lenkte die Aufmerksamkeit des Drachen ab und ehe Phoenix es sich versah, wurde von ihm abgelassen und das nervende Ding gesucht. Tato fegte die leere Wasserflasche herunter, nebenbei auch die Brille und hatte endlich das Handy in der Hand.

„Wer schreibt dir denn, Spatz? Dein Lover? Betrügst du mich?“

„Unsinn. Leg das Handy zurück. Das ist …“ Er konnte ja nicht ahnen, dass Sareths Handy in Reichweite lag. Wahrscheinlich hielt er es für das seines Geliebten - es war jedoch das seiner Tochter. Und die SMS las er auch mit stetig veränderndem Gesichtsausdruck.

>He babe hast du gut geschlaafen? Brinkst du mich heute zu schule? Hol dich gleich ap. Kuss Edith.<

„Leg das Handy hin. Das ist Saris!“ Phoenix hatte sich unter Tatos Arm endlich soweit aufgerichtet, dass er ihm das Ding wegnehmen konnte. „Man liest keine fremden SMS.“

„Die ist von dem Spasti“ zeigte er auf das Handy und zog die Augenbrauen zusammen. Spätestens jetzt kam der gefürchtete Stimmungsabfall.

„Das ist doch egal. Lass Saris …“

„Wer redet über mich?“ Genau die kam gerade aus dem Badezimmer. Sehr süß sah sie aus mit einem kniefreien, roten Sommerkleid und lockenstabgeformten Strähnen. Anscheinend hatte sie sich etwas herausgeputzt, denn sonst scherte sie sich wenig um ihre Frisur und heute hatte sie sogar Löckchen. Sie bemerkte mit einer leichten Rötung, dass Phoenix sich schnell die Unterwäsche hochzog, bevor sie etwas anderes merkte. „Was macht ihr mit meinem Handy?“

„Du hast ne SMS bekommen“ antwortete Papadrache mit tiefschwarzem Unterton.

„Oh. Okay.“ Sie tat ganz ahnungslos und wollte es von Phoenix zurücknehmen, doch Tato funkte dazwischen, schnappte es sich und las laut vor: „Hey Babe, hast du gut geschlafen? Bringst du mich heute zur Schule? Hole dich gleich ab. KUSS, EDITH! Was schreibt der Spasti dir für Nachrichten?“

„Edith ist kein Spasti, Papa. Warum liest du meine SMS?“

„Das ist doch egal. Was sind das für Sachen, die er da schreibt?“

„Das geht dich gar nichts an. Das ist meine Privatsphäre.“

„Du bist zwölf! Du hast keine Privatsphäre! Besonders nicht mit dem!“

„Papa! Verdammt noch mal!“ Sie streckte die Hand aus, doch er war immer noch größer und so bekam sie ihr Handy nicht leicht zurück. „Gib’s mir zurück!“

„Erst will ich eine Erklärung. Was geht da zwischen euch?“

„Gar nichts geht da! Gib mir mein Handy zurück!“

„Ich bin dein Vater! Ich habe ein Recht darauf, zu wissen, mit wem du dich triffst.“

„PAAAPAAA!“ schrie sie jetzt mit hochrotem Gesicht. Sie wollte ihm eigentlich nicht auf diese Weise sagen, dass sie einen Freund hatte. Sie wusste wie er reagieren würde. Außerdem gingen ihn ihre SMS gar nichts an!

„Schrei mich nicht an, junge Dame!“

„Dicker, komm schon“ versuchte es auch Phoenix. Er stand dafür sogar auf und griff seinen Arm. „Gib ihr das Handy zurück.“

„Und dazu noch so eine miese Rechtschreibung. Was willst du mit dem Dummbatz? Kriegst du keinen mit mehr Intellekt?“

„Ich bin froh, dass Edith überhaupt so gut schreiben kann!“ schimpfte sie und drehte sich um, griff ihre Kniestrümpfe und setzte sich aufs Bett.

„Was bitte soll das heißen?“

„Edith hat sein Handy erst seit gestern“ erklärte sie, während sie ihre hübschen Beine bedeckte. „Aber er kann schon richtig gut SMS schreiben. Du hast keine Ahnung wie schwer das für ihn ist. Er gibt sich sehr viel Mühe mit allem.“

„Ist der dumm im Kopf oder was?“

„Nein, Edith strengt sich sehr an und lernt ganz viel! Er ist sogar sehr intelligent! Du bist ungerecht!“

„Ich und ungerecht? Das ist der denkbar schlechteste Umgang für dich!“

„Edith ist ein feiner Kerl!“ verteidigte sie ihn und stampfte zu ihren Schuhen rüber.

„Was hast du vor?“

„Ich begleite Edith zur Schule. Das habe ich vor.“

„Du tust gar nichts!“

„Und wie ich das tue! Pass nur auf!“

„Sareth Muto! Du bleibst gefälligst hier!“ Und mit einem Windstoß hatte er ihr die Sandalen aus den Händen gefegt. Nun stapfte er selbst zu ihr und blickte wütend herab. „Du hältst dich von diesem Sozialfall fern. Und mach dir ne anständige Frisur und zieh dir was richtiges an. Du siehst nuttig aus!“

„Du kannst mir gar nichts verbieten!“

„Und wie ich das kann! Pass nur auf!“

Und Phoenix schlug sich die Hände vor die Stirn. Das konnte ja was werden mit den zwei Dickköpfen und er mittendrin.

„Fein! Dann gehe ich eben barfuß!“ Entschieden zog sie sich die Strümpfe von den Füßen, schmiss sie ihrem Vater hin und streckte die Hand nach oben. „Und jetzt hätte ich gern mein Handy zurück.“

„Das ist konfisziert.“ Und verschwand vollends in seiner Faust. „Das bekommst du erst wieder, wenn du den Spasti zum Teufel gejagt und dich richtig angezogen hast.“

„Edith ist kein Spasti. Er ist ein aufrichtiger und lieber Junge und hat keine unlauteren Absichten. Ich bringe ihn nur zur Schule und vielleicht hole ich ihn auch wieder ab. Und dann gehen wir ein Eis essen und machen all die schlimmen Sachen, die Jugendliche nun mal machen. Nämlich in die Bücherei gehen und vielleicht dann noch ein bisschen auf der Parkbank rumsitzen. Oder Schock! Vielleicht halten wir sogar Händchen! OH DEIN GOTT!“

„Und kommst schwanger nach hause und dann?“

„Vom Eisessen oder Händchenhalten wird man nicht schwanger. Ich könnte gar nicht schwanger werden, denn ich habe noch nicht mal meine Periode!“

„Das wird dem aber ziemlich egal sein.“

„Weißt du was?“ zischte sie zu ihm machte dann eine merkwürdige Geste mit der linken Hand. Es sah aus als wolle sie ihre süßen Locken eindrehen.

„AUA!“ Doch stattdessen schlug Tato sich an den Hals und sah ein fettes Insekt zur Tür fliegen.

„Davon fliegen noch mehr draußen rum“ drohte sie, hüpfte hoch und hatte sich im unbeobachteten Moment ihr Handy geschnappt.

„Du redest mit Mücken?“

„Das war ne Pferdebremse, du Hohlkopf. Als Strafe, dass du so mies über meinen Schatz herziehst.“

„DEINEN WAS?!“

„Ich würde mal Onkel Moki besuchen. Bremsenbisse können nämlich sehr schmerzhaft sein und anschwellen. Guten Morgen, Vater.“

Er war so was von perplex, dass er die Herrin der Fliegen nicht daran hinderte, die Tür aufzumachen und wütend hinter sich zu zu knallen.

Und da stand er nun. Der Papadrache. Von ner Pferdebremse gebissen und seiner Autorität beraubt. Mit einem denkbar enttäuschenden Schwiegersohn in spe.

„Ich glaube“ bemerkte Phoenix vorsichtig, „jetzt sind wir zu zweit in der Pubertät.“

„Komm mir nicht mit Pubertät.“ Er rieb seinen anschwellenden Bremsenbiss und trat beleidigt die Strümpfe aus seinem Weg. Jetzt war seine gute Laune definitiv hinüber.

Schmollend plumpste er auf den Sessel, lehnte den Kopf zurück und stierte an die Decke. Das musste er jetzt erst mal verarbeiten.

Phoenix hob die dünne Sommerdecke vom Boden auf, wickelte sie um seinen schmalen Körper und setzte sich behutsam zu seinem Drachen auf die Lehne. Jetzt stand ihm seine erste Drachenbesänftigung bevor. Er war sein Partner und fühlte sich nun dafür zuständig. Früher hatte er ihm zwar auch mal die Meinung gesagt, aber das war etwas anderes. Da ging es nicht um solche Sachen. Nicht um so private, tief persönliche und einschneidende Sachen. Sareth hatte ihrem Vater noch niemals die Stirn geboten. Sie hatte immer auf seine Trauer und seinen Stolz Rücksicht genommen. Doch nun setzte sie sich durch und das war eine neue Situation für ihn. Und Phoenix wollte nicht darin versagen, ihm richtig beizustehen und ihn bei dieser Umstellung zu unterstützen. Seine Tochter war noch immer sein Lebensinhalt und alles, was ihm von seiner geliebten Frau geblieben war. Natürlich wollte er sie nicht loslassen.

Doch nun wollte Phoenix ihn erst mal milde stimmen und ihm dann ruhig ins Gewissen reden. Wenn das zur Mondphase überhaupt möglich war.

„Möchtest du Kaffee, Dicker?“

„ … “

Das hieß dann wohl nein. Und die arme Zimmerdecke stand bei seinem dunklen Blick sicher Todesängste aus.

„Oder eine Zigarette?“

„ … “

Na, super. Das konnte schwierig werden. „Kann ich irgendetwas tun, um deine Stimmung aufzuhellen?“

„Blas mir einen.“

„Ähm …“ So hatte er sich das eigentlich nicht vorgestellt.

„Dann lass mich einfach.“

„Hey, komm schon.“ Er nahm seinen Mut zusammen und vertraue darauf, dass ihm schon nichts passierte. Keine Angst vor großen Tieren. Er rutschte von der Lehne auf seinen Schoß, griff sich den muskulösen Arm und legte ihn um seine Taille. „Sei nicht böse. Rede mit mir.“

„Du spielst gern ein doppeltes Spiel, was?“ Er funkelte ihn mit seinen stürmisch blauen Augen an und kräuselte die Stirn.

„Warum sagst du so was gemeines?“

„Du hast doch gewusst, dass sie sich mit dem Spasti trifft.“

„Wie …?“

„Ihr redet doch über alles. Habt ihr schon immer. Du bist ihr gegenüber also loyaler als mir. Gut zu wissen.“

„Jetzt sei nicht sauer auf mich.“

„Bin ich aber. Du hättest es mir sagen müssen.“

„Bitte, lass uns nicht streiten.“

„Ich bin nicht derjenige, der Geheimnisse hat.“ Er wandte den Blick zur Seite und war jetzt einfach beleidigt. Da halfen auch keine guten Worte mehr.

Phoenix seufzte und lehnte sich an Tatos Schulter. Wie konnte er ihn jetzt dazu bringen, nicht auch noch sauer auf ihn zu sein? Reichte doch, wenn er sauer auf Sareth war. So kamen sie ja nicht voran.

„Na gut“ beschloss er geknickt, stand von dem gemütlichen Schoß auf, warf die Decke fort und zog sich eine Jeans über. Sein Drache gab sich ignorant und schien wenig dagegen zu haben, wenn er jetzt ging. Aber solange er brav dort sitzen blieb, war Phoenix das auch ganz recht.

Er knöpfte sich die Hose zu und verließ nebenbei das Zimmer. Er musste irgendwas zur Bestechung suchen. Kleine Friedensgeschenke. Den Tipp hatte er sich von Yugi abgeschaut. Der kam auch mit kleinen Gaben, wenn Seto am Schmollen war.
 

Im Restaurant saßen schon die ersten Gäste. Ein paar Schüler hatten sich an einem Tisch versammelt, aßen belegte Brötchen und schrieben nebenbei ihre Hausaufgaben ab.

Phoenix ließ sie links liegen und erlaubte sich Eintritt in die Küche. Dort stand doch tatsächlich Sareth am Herd und drehte irgendetwas in einer Pfanne um.

„Na?“ grüßte er mitleidig und schaute, was sie dort tat. „Du machst Pfannkuchen?“

„Pancakes. Für Edith“ antwortete sie. „Und schmollt er noch?“

„Hast du ne Ahnung. Jetzt ist er auch noch sauer auf mich, weil ich ihm nichts gesagt habe.“

„Das tut mir leid. Ich wollte dich da nicht mit reinziehen.“

„Ach was. Der regt sich schon wieder ab, aber schneller geht’s mit Hilfe“ meinte er und sah sich um. „Ist schon Kaffee fertig?“

„Hinten“ zeigte sie, stürzte den Pfanneninhalt auf einen Teller und füllte erneut Teig ein.

Phoenix nahm sich einen der großen Becher und goss ihn mit dampfendem Kaffee voll. Das war doch schon mal ein Anfang.

„Spatz?“

„Ja?“

„Meinst du, ich war zu hart zu ihm? Hätte ich vielleicht subtiler reagieren sollen?“

„Vielleicht. Aber anders kapiert er’s ja nicht.“ Sie schien nicht glücklich damit zu sein. Sie stritt sich nicht gerne. Besonders nicht mit ihrem geliebten Papa. „Aber ich muss den Dicken in Schutz nehmen. Die SMS hat er nicht absichtlich gelesen.“

„Nicht?“

„Na ja, absichtlich schon. Aber ich glaube, er hielt das für mein Handy.“

„Der ist vielleicht doof“ seufzte sie und drehte den zweiten Pancake um. „Ich habe doch Steinchen auf meinem Handy und du nicht. Das weiß er auch.“

„Vielleicht hat er’s nicht gesehen. Morgen ist Vollmond und du weißt, dass seine sieben Sinne da verrückt spielen.“

„Ja, besonders der siebte.“ Das schien ihr Entschuldigung genug zu sein. „Spatz, sag mal. Soll ich dann heute Nacht lieber woanders schlafen?“

„Du meinst, weil er vielleicht …?“ Unangenehm! Es stimmte zwar, dass er und Sareth immer alles miteinander besprachen. Schon seit Kindesbeinen tauschten sie ihre Geheimnisse. Auch wenn Phoenix sich für die Jungenseite entschieden hatte, war er Sareths beste Freundin. Aber ob das jetzt auch noch galt, wo sie irgendwie in einer Stief-Verbindung standen? Wahrscheinlich kam es beiden merkwürdig vor, dass der Drache nun nicht mehr der Papa für beide war, sondern für einen von ihnen der Partner.

„Genau deswegen“ nickte sie. „Das wäre die erste Mondphase, die er mit dir verbringt. Ich würde da nur ungern stören.“

„Ja … darüber muss ich auch noch mit ihm reden. Oh je.“ Er stellte den Becher auf die Arbeitsplatte und setzte sich daneben. „Ist dir das unangenehm, wenn wir über so etwas zusammen reden?“

„Es ist ein bisschen komisch, dass mein Papa jetzt dein Liebhaber ist. Aber für mich ist das kein Problem. Ich bespreche auch weiter private Sachen mit dir, denn ich weiß, dass du mir nicht in den Rücken fällst. Wenn das für dich auch okay ist.“

„Natürlich …“

„Also? Soll ich nun lieber woanders unterkommen? Du musst es nur sagen.“

„Um ehrlich zu sein … ich weiß gar nicht, ob ich mich schon sicher genug fühle. Ich meine ... wenn er nun … du weißt schon …“

„Aber ihr habt doch schon. Oder etwa nicht?“

„Natürlich. Aber Vollmond ist was anderes. Ich weiß nicht, ob ich … ich weiß nicht, ob ich da mithalten kann. Mir ist das ein bisschen unheimlich, weil ich nicht weiß wie sehr sich sein Verhalten ändert. Ich habe ein bisschen Angst vor ihm. Aber ich weiß nicht, ob ich ihm das sagen sollte.“

„Solltest du. Geht doch nicht anders.“ Sie stürzte den zweiten Pancake auf den Teller und machte sich an den dritten. „Wenn du’s ihm nicht sagst, fällt er vielleicht über dich her. Und hinterher tut’s ihm dann leid.“

„Ja, vielleicht …“

„Du hast gewusst, dass er kein gewöhnlicher Mann ist.“ Sie wandte den Blick über die Schulter und seufzte ihm verständig zu. „Da hast du dir was eingebrockt, was?“

„Ich liebe ihn ja. Aber … ich weiß auch nicht. Ist das feige von mir?“

„Morgen, Kinder.“ Seto kam herein. Fertig in Anzug und Krawatte, geduscht, gestriegelt, gezopft und einer morgendlichen Zigarette im Mund. Ungewöhnlich wach für diese Uhrzeit.

„Morgen“ antworteten beide im Chor.

Er ging gezielt zu einem der Hängeschränke, aber stutzte davor, nahm die Zigarette zwischen die Finger und sah die beiden an. „Mein Thermobecher?“

„Hannes hat umgeräumt“ half Phoenix und wies nach rechts. „Drei Schränke weiter.“

„Hrm.“ Also versuchte er dort sein Glück und fand einen schwarzen Halbliterbecher mit Trinkverschluss. Das silberne Herz war mit Nagellack aufgemalt und sah sehr kindlich aus. Da hatte Nini sich dran versucht und für Papa seinen liebsten ‚Lieblings-Kaffee-ins-Büro-mitnehm-Becher‘ bemalt. Den Kaffee fand Seto dann aber immer noch selbst und goss seinen Becher randvoll. „Habe ich euch gestört?“ Die beiden waren verstummt seit er da war. Das fiel sogar ihm auf.

„Nein, sorry“ lachte Phoenix verlegen.

„Du hast doch was.“ Seto entging seine angespannte Äußerung nicht. Da er ohnehin noch etwas Zeit hatte, stellte sich neben Phoenix und nahm die Pancakes auf der anderen Seite der Küche ins Visier. „Was ist los? Irgendwas stimmt doch hier nicht.“

„Ich hatte eine Kontroverse mit Papa“ erzählte Sari und legte den mittlerweile vierten Pancake auf den Teller. „Edi hat mir eine SMS geschrieben, er hat sie gelesen und ist total ausgeflippt.“

„Und?“

„Und ich irgendwie auch. Er unterstellt mir, dass ich mich schwängern lasse und nennt ihn einen Spasti et cetera. Ich finde, er ist ungerecht und vergreift sich im Ton.“

„Wahrscheinlich macht er sich nur Sorgen“ mutmaßte Seto und zog mit eindeutig hungrigen Augen an seiner Zigarette. Die Pancakes rochen gut und sahen lecker aus. Ob sie ihm davon etwas abgab?

„Trotzdem.“ Und sie sah den hungrigen Blick hinter sich gar nicht, war so beschäftigt mit der Pfanne. „Er tut so als würde ich sofort heiraten und auswandern und irgendwo in einem Wohnwagen nen Haufen ungebildeter Sozialhilfeempfänger großziehen. Er ist vollkommen irrational.“

„Vaterliebe ist niemals rational“ meinte er, griff über Phoenix und nahm sich einfach den Becher mit Kaffee. Seinen wollte er ja ins Büro mitnehmen, musste folglich einen anderen trinken. „Vielleicht solltet ihr euch nach Vollmond noch mal vernünftig unterhalten.“

„Kannst du nicht ein gutes Wort für Edith einlegen? Auf deine Meinung gibt er wenigstens was.“

„Ich weiß nicht, Schatz. Ich kenne Edith ja kaum.“ Er trank den Becher leer und zog an seiner Zigarette. Was er aber eigentlich haben wollte, wurde soeben mit Nutella bestrichen und in eine Tupperdose gelegt.

„Sari?“ lächelte Phoenix freundlich. Sie drehte sich zu ihm um und er nickte vielsagend auf den rauchenden Kaffeedieb. Bestechung lohnte sich!

„Oma, möchtest du auch einen Pancake haben?“

„Nenn mich nicht Oma.“ Aber sein Blick gab eine deutliche Antwort.

Also bestrich sie den nächsten ebenfalls mit Nutella, klappte ihn zusammen, legte eine Serviette darum und brachte ihm ihr Bestechungsgeschenk.

„Du redest doch mit Papa, oder?“

Er stellte den leeren Becher fort, griff das Geschenk, zögerte nicht lange und biss sofort in den weichen Teig, kaute langsam und sah sehr zufrieden aus. Drachenfütterung erfolgreich.

„Und schmeckt gut?“

„Yummy yummy“ schmatzte er und nahm noch einen Bissen. Sie kehrte zu ihrer Küchenarbeit zurück, aber er nahm seinen Part auch wahr. „Okay, ich werde mal mit deinem Papa sprechen. Bring Edith doch übermorgen mal ganz unverbindlich zum Grillen mit.“

„Edith isst aber kein Fleisch. Er ist auch Vegetarier.“

„Sari, es geht ja nicht ums Essen“ half Phoenix aus. „Oder meinst du, dass wir vegetarisch kochen müssen, damit er uns besucht?“

„Nein. Wenn ich ihn bitte, wird er ganz bestimmt kommen. Ich bin nur etwas durch den Wind.“ Den nächsten Pancake bestrich sie mit Kirschmarmelade. „Ich hoffe, dass die beiden sich bald besser verstehen. Dieses Versteckspiel macht mir nicht wirklich Spaß.“

„Du bist ziemlich reif für eine Zwölfjährige“ bemerkte Seto und und steckte sich das letzte Stück in den Mund. Diese leckeren Dinger waren einfach zu klein.

„Musst du jetzt auch damit anfangen? Ich werde nicht schwanger! Ich habe noch nicht mal einen Eisprung!“

„Ich meinte nicht deine körperliche Reife, sondern deine geistige“ erklärte er ganz ruhig und gelassen. „Mir brauchst du deine Vernunft nicht beweisen. Ich rede dir nicht aus, in wen du dich verliebst. Aber gibt es nicht auch etwas anderes, worüber du dir Gedanken machen solltest?“

„Und das wäre?“

„Euer Altersunterschied. Und ich meine nicht nur die momentan drei Jahre.“ Er meinte den Unterschied einiger Jahrzehnte, der sie trennte. Wenn Sareth geboren wurde, wäre Edith bereits ein reifer Mann. Und wenn sie ein Teenager war, war er schon fast Rentner. Das war es, worüber sie sich eher Gedanken machen sollte. Dass er auf ihre Geburt wartete, war mehr als unwahrscheinlich. „Und du?“ schaute er zu Phoenix. Es war deutlich, dass Sareth hierüber nachdenken musste. Auf jeden Fall würde sie darauf so schnell nicht antworten und drängen wollte Seto sie auch nicht. Edith schien ja ihre große Liebe zu sein und an eine Trennung zu denken, war schmerzhaft. Dieses Thema musste man behutsam angehen und nicht mit dem Brecheisen.

„Was ich?“

Er legte die Serviette beiseite und rauchte gelassen seine Zigarette weiter. Von der Fensterbank hinter sich nahm er einen Aschenbecher und schnippte die Asche ab. „Was ist mit dir, Spatz? Du siehst auch aus als hättest du etwas auf dem Herzen.“

„Bist du jetzt unter die Hobbypsychologen gegangen?“ lachte Sareth und machte mit dem nächsten Pancake dann auch die Dose voll.

„Ich habe nur zu viel Zeit bis der Köter auch endlich mal antrabt. Und ihr seht aus als bräuchtet ihr Hilfe von einem Erwachsenen.“

„Du und erwachsen, Oma?“

„Ha ha.“ Sehr lustig. Wirklich.

„In der Tat. Vielleicht kannst du mir helfen“ nickte Phoenix. „Es ist mir etwas peinlich, aber … morgen ist ja Vollmond.“

„Wie jeden Monat. Na und?“

„Na, dieses Mal …“

„Mann, Seto“ schlug Sareth sich an die Stirn. „Denk doch mal erwachsen.“

„Oh.“ Nun wurde er rot im Gesicht. „Ach so … das.“

„Ja, ach so das.“

„Und ich weiß nicht, was ich machen soll“ stammelte Phoenix und baumelte verlegen mit den Beinen. „Ich liebe ihn ja, aber ich weiß nicht, ob ich ‚dafür‘ bereit bin.“

„Aber … ihr habt doch schon. Oder nicht?“

„Warum fragen mich das alle?“

„Ja, haben sie“ half Sareth. „Aber du weißt selber wie ihr brunftigen Drachenbullen dabei abgeht.“

„Könntest du bitte eine Formulierung finden, die weniger nach Narla klingt? Frau Drachenweibchen?“

„Ich kann nur verstehen, dass Spatz sich davon eingeschüchtert fühlt.“

„Ich bin da nicht so gut drin. In solchen Sachen“ entschuldigte er und kratzte sich ebenso verlegen am Kopf. „Vielleicht solltet ihr das mit Onkel Noah besprechen.“

„Aber du weißt doch, wie man sich dabei fühlt“ bat Phoenix. Er wollte dieses Problem nicht bei jedem in der Familie breittreten. „Würdest du dich beleidigt fühlen, wenn Yugi … na ja … wenn er nicht so recht will?“

„Wenn er sich ‚drücken‘ würde“ ergänzte er und rauchte an seinem immer kleiner werdenden Stummel herum. „Ein Mal war Yugi von einer Erkältung geschwächt. Da hat er mir einfach gesagt, dass er es den Monat nicht schafft. Also haben wir’s gelassen. Ich war nicht beleidigt. Eher im Gegenteil.“

„Im Gegenteil?“

„Ich fände es traurig, wenn Yugi sich nur um mich kümmert, weil er muss. Ich würde nicht wollen, dass er sich zu ‚so etwas‘ verpflichtet fühlt. Da ist es mir lieber, wenn er mir ehrlich sagt, ob er will oder nicht. Er sollte wollen und nicht müssen. So.“

„Du meinst, ich soll es ihm sagen, dass ich … ich will ja, aber jetzt noch nicht. Ich habe ein bisschen Angst, wenn er … na ja … die Kontrolle verliert.“

„AH! Vollmondgespräche!“ Yami kam in die Küche getanzt. Er sah jedoch nicht aus wie frisch aufgestanden, sondern eher wie gar nicht ins Bett gegangen. Doch sonderlich müde schien er auch nicht, denn er bediente sich sofort an dem Aufschnitt, den Hannes auf einem Tablett hinter der Tür angerichtet hatte. „Kann ich helfen?“

„Du ganz sicher nicht“ brummte Seto. Yami sprach ihm das zu offen aus.

„Lass mich raten.“ Er rollte ein paar Scheiben Schinken zusammen und kaute glücklich darauf herum. „Dado würd rollich un Spatsch kriescht Angscht. Richtich?“

„Treffer versenkt“ seufzte Phoenix. „Seto meint, ich soll es ihm sagen und kneifen.“

„Das hat mit Kneifen nichts zu tun, mein Süßer.“ Er blieb gleich beim Tablett stehen und pickte die besten Stücke heraus. Der erste Happen war nur die Probe, ob die Sachen so lecker waren wie sie aussahen. „Seto, sorry wenn ich das jetzt mal frei ausdrücke.“

„Als würde dir was leidtun.“

„Tato ist ein ausgewachsener Drachenbulle“ sprach Yami ungerührt weiter. „Er hat sowieso schon starken Nachholbedarf. Jetzt stell dir mal vor, der wird rollig. Der arme Kerl weiß doch gar nicht wohin mit seinen Gefühlen. Oh Salami! Und dann kommt da ein schmächtiges Bürschchen wie du daher. Du hast ihm doch gar nichts entgegen zu setzen. Ich will dir ja keine Angst machen, aber wenn er richtig in Fahrt kommt, kann er dich durchaus schwer verletzen.

„Meinst du?“

„Also, mein Drache hat mir mal ne Rippe gebrochen.“

„So schlimm ist das ja nun auch nicht“ intervenierte Seto beschämt. „Es ist ja nicht so als würden wir gar nichts mehr mitkriegen.“

„Das sage ich auch nicht. Aber du kannst nicht leugnen, dass ihr eure Kraft nicht immer richtig einschätzen könnt. Oder hat Yugi dich noch nie gepackt und ruhig gestellt?“

„Ich … nein! Hat er nicht!“

„Du bist so ein schlechter Lügner, Engelchen“ schmunzelte er und schob sich eine zusammengerollte Schinkenscheibe in den Mund. Man sah es an Setos Nasenspitze, dass er log. Nein, er log nicht. Er wollte es nur nicht zugeben, dass er sich nicht immer unter Kontrolle hatte. „Schpatsch, schauma. Dasch had mid Gneifen niksch schu tun.“ Schluck. „Es ist ganz normal, dass man vor einem Kerl wie Tato Respekt hat. Mit seiner Kraft und der überschüssigen Energie kann er schon ziemlich einschüchtern. Ich will nicht sagen, dass er dir notgedrungen wehtut, aber es kann passieren, dass er deine Einwände als Spiel versteht und anfängt, mit dir Katz fängt Vögelchen zu spielen. Und dann ziehst du den Kürzeren.“

„Also …“ Diese klaren Worte machten Phoenix traurig. „Das klingt, als wäre ich nicht der Richtige für … diese Sachen.“

„Für Mondsex“ brachte er es klar auf den Punkt und steckte sich ein kleines, rohes Würstchen in den Mund.

„Ich bin schon ziemlich enttäuschend für ihn, oder?“

„Nein, verstehe mich nicht falsch. Ich war noch nicht fertig.“ Und Seto blickte auf die Uhr. Hoffentlich war Joey gleich fertig, damit er endlich ins Büro fahren konnte und Yami nicht mehr bei seinen zwar treffenden, aber auch peinlichen Erklärungen lauschen musste. Er stellte lieber den Blumentopf ins Regal zu den Gläsern und lauschte dem seelenruhigen Monolog des alten Pharaos. „Ich an deiner Stelle würde auch nicht sofort die Mondphasen mit ihm verbringen. Und jetzt kommt mein Rat an dich, Spätzchen. Du solltest erst mal lernen wie man einen Drachen hinlegt und dann kannst du auch deinen Spaß mit ihm haben.“

„Wie hinlegen? Ich kann ihm doch keine K.O.-Tropfen untermischen oder einen Elektroschocker mit ins Bett nehmen.“

„Du hast ja lustige Ideen.“

„Ati, das war ein Beispiel.“

„Ja ja. Aber wenn du weißt, wo du hinlangen musst, kannst du ihn auch mit ganz wenig Körpereinsatz an dummen Aktionen hindern. Seto ist weitaus kräftiger als ich, aber wenn ich wollte, könnte ich ihn jetzt sofort mit zwei Handgriffen auf den Boden legen.“

„Was wir hier nicht ausprobieren wollen“ wehrte der sofort ab. Soweit kam das noch, dass er sich hier als Anschauungsobjekt hergab!

„Und er weiß, dass ich das kann“ schmunzelte Yami dreckig. „Und du kannst das auch. Wenn du deinen Drachen erst ausreichend erforscht hast, brauchst du nur die richtigen Knöpfe drücken und er legt sich so hin wie du willst. Nichts anderes habe ich mit Seth auch gemacht. Wenn er zu stürmisch wurde, sodass ich meine Gesundheit in Gefahr sah, habe ich ihn einfach gezwungen, sich zu beruhigen. Dann legst du ihn hin, wartest ein paar Minuten bis er runtergefahren hat und danach kann’s weitergehen. Du musst dich vor rolligen Drachen einfach in Acht nehmen und mit gutem Zureden, kommst du nicht immer weiter. Dafür musst du aber nicht kräftiger oder größer sein. Du musst nur seine Reaktionen kennen. Du musst dir mal angucken wie Yugi seinen Drachen nachts durchs Bett bugsiert. Und der Schüsche kriescht dasch nisch ma mid. Auaaa!“ Der Fleischsalat war wohl doch noch nicht ganz aufgetaut. Mensch, an den Fleischstücken brach man sich ja die Zähne ab. „Davon abgesehen“ ächzte er und bohrte sich die gefrorene Fleischwurst aus dem Gebiss. „Davon abgesehen, halte ich Tato für so vernünftig, dass er deine Bedenken versteht und akzeptiert. Hat mal einer nen Zahnstocher?“

„Nein“ brummte Seto. Aus Prinzip schon nicht.

„Ich schätze ihn sogar so ein, dass er diese Mondphase nicht mal unbedingt mit dir verbringen will. Ich glaube, er weiß selbst nicht wie er nach so langer Zeit reagiert. Ich meine, er hat Nachholbedarf und steht in der Blüte seiner Potenz. Und er will dir ja auch nichts tun. Du solltest keine Angst haben und das Thema einfach offen ansprechen. Denn letztlich weiß niemand besser als ihr beide, was zwischen euch abläuft. Punkt.“

„Was für eine Ansprache“ murrte Seto und drückte seinen Zigarettenstummel aus.

„Ja, ich bin gut drauf, was?“ freute er sich und nahm gleich die ganze Schale mit Speck, die er mit den Fingern verspeiste. „Wollt ihr denn auch wissen, wo ich letzte Nacht Sex hatte?“

„Kein Interesse.“ Da sprach Seto wohl allen aus der Seele.

„So langsam kriege ich Finn richtig gut eingeritten. Aus dem wird noch ein richtiger Hengst! Also ich meine, das ist er eh schon. Aber er öffnet sich langsam auch für spannendere Sachen. Ich glaube, er würde alles für mich tun. Vielleicht sogar seine Zunge in …“

„Yami, es sind Minderjährige anwesend.“

„Ja ja. Aber was ich sagen wollte! Letzte Nacht … huch!“

„Tschuldigung.“ Hannes kam herein und sah nicht, dass Yami direkt hinter der Tür stand. Da hatte er ja eigentlich auch nichts zu suchen. „Gutem Morgen zusammen“ grüßte er in die Küche.

„Morgen“ grüßte die Küche zurück.

„Pharao, alles heil?“

„Ja, ich habe mich nur erschrocken“ lachte er und nahm seine Speckschale mit. „Sag mal, Lieblingswirt, können Finn und ich heute Frühstück im Bett bekommen?“

„Natürlich, kein Problem. Wann wollt ihr denn frühstücken?“

„Jetzt gleich?“

„Oh.“ Das passte ihm wohl gerade nicht allzu gut. „Hast du was dagegen, wenn ich erst die Käseplatte fertig mache? Olga hat mich heute nämlich leider im Stich gelassen.“

„Warum?“

„Magen-Darm. Sie bleibt bis Mittwoch zuhause.“

„Klar, wir können warten“ meinte Yami und hatte ja seine Schale mit Speckwürfeln, die ihm die Wartezeit vertrieb. „Finn und ich gehen eh erst duschen. Lass dir Zeit.“

„Prima. Danke.“

„Und klopfe lieber an, bevor du reinkommst. Nur zu deiner eigenen Sicherheit.“

„Ähm … danke.“ Das war ein durchaus hilfreicher Tipp, denn es gab Dinge, die wollte man nicht mutwillig sehen. „Und was habt ihr heute vor?“ fragte er die anderen. „Seto, du bist schon so früh auf“ stellte nun selbst Yami fest. „Wichtige Termine am ersten Arbeitstag?“

„So in der Art. Wir müssen heute zum Frühstück mit unserem neuen Eros-Modell. Noah ist schon unterwegs.“

„So früh?“

„Er holt ihn persönlich ab und mir ist die Uhrzeit auch ganz recht. Vielleicht komme ich dann früh genug raus, dass ich mit Sethan zum Frisör gehen kann.“

„AH! ZUM FRISÖR?“ Yami hoppelte auf ihn zu. Das gab nicht nur ihm die Gelegenheit, Setos wunderschönen Flechtzopf zu bewundern, sondern auch Hannes den freien Weg zu nutzen, und den fehlenden Aufschnitt zu ersetzen. „Aber Seto. Engel. Herzchen. Deine Haare sind so schön lang!“

„Eben deshalb. Ich mag das nicht.“

„Aber Yugi hat doch gesagt, du sollst sie lang lassen.“

„Aber nur ein paar Tage. Und er hat gesagt, wenn ich sie dann immer noch nicht mag, kann ich sie abschneiden.“

„Aber Seto!“ Er nahm die Schale in die andere Hand und griff mit der sauberen den hüftlangen Zopf, fühlte das dicke, weiche, seidige Haar zwischen seinen Fingern. „Ach Seto, du hast so schönes Haar. Du weißt gar nicht wie viel das wert ist.“

„Ich will’s ja auch nicht verkaufen.“

„Du bist doch doof. Hast du ne Ahnung, was ich drum geben würde, deine Haare zu haben? Die kannst du doch nicht einfach abschneiden lassen. Ach, da würde ich wirklich was drum geben … alle Leute bewundern deine Haare.“

„Würdest du auch die Küche verlassen?“

„Was?“ Nun guckte er verwundert an ihm herauf. „Ob ich die Küche verlassen würde, wenn ich deine Haare hätte?“

„Autsch … Ati“ warnte Sareth. Die roch den Braten.

„Ich würde alles dafür tun, wenn ich deine Haare hätte, Großer“ meinte Yami. „Bitte geh nicht zum Frisör.“

„Ich nehme dich beim Wort.“

„WHUA!“ Yami sprang zurück als Seto sich das Küchenmesser aus dem Holzblock griff und ihn ernst ansah. „Engel, was hast du vor?“

Und er tat es wirklich. Es machte ZING und der Zopf war ab.

Alle in der Küche hielten geschockt den Atem an. Seto war echt so verfroren und schnitt seine tollen, langen, wunderschönen Haare ab. Einfach so.

Er hielt sie Yami hin, der den Flechtzopf zögerlich entgegennahm und selbst völlig perplex war. Das hatte er nicht kommen sehen.

„Du hast gesagt, du würdest alles tun, wenn du meine Haare hättest“ grummelte Seto und legte das Messer in die Spüle. „Also bitte. Dann geh jetzt zu Finn ins Bett und nerv mich nicht weiter.“

„Ähm …“ Er betrachtete den Zopf und es fiel ihm tatsächlich kein schlauer Kommentar dazu ein. Kompliment, Seto hatte gewonnen und Yami mundtot gemacht. „Schon klar“ stammelte der und behielt den Zopf einfach. „Also dann, viel Spaß beim Frisör!“ Er winkte den anderen und verschwand wieder. Selbst schuld, wenn er so einen dummen Handel einging. Doch er war Manns genug, um sich dran zu halten, alles für Setos Haare zu tun. Da verließ er sogar die Küche.

„Hat eigentlich jetzt einer rausbekommen, was er wollte?“ zeigte Sareth auf die zugeschwungene Tür.

„Wahrscheinlich Frühstück bestellen“ mutmaßte Seto und blickte nochmals auf die Uhr. Wo blieb der Köter nur?

„Jetzt hast du ganz schiefe Haare“ seufzte Phoenix, zog sich das dünne Zopfband heraus und reichte es Seto. „Wenigstens bis der Frisör es richtet.“

„Danke.“ Seto band die schiefen Fransen zu einem vergleichsweise winzigen Zopf zusammen und sah wenigstens ein bisschen konservativer aus.

„Soll ich dir helfen beim Frühstück für den Pharao?“ bot Phoenix dann Hannes an, der etwas gehetzt die Aufschnittplatte nachfüllte.

„Nein, danke. Das geht schnell. Ich brauche demnächst eher dringend noch einen zusätzlichen Koch“ seufzte er, denn die Arbeit ganz ohne Küchenhilfe wuchs ihm heute über den Kopf.

„Frag doch Yugi, ob er dir hilft“ meinte Phoenix. „Der kann ganz prima kochen. Yugi ist ein Meister der Gewürze.“

„Ich kann doch nicht den Pharao bitten, meine Gäste zu bekochen. Nein, wirklich nicht“ schüttelte er den Kopf und holte ein großes Holztablett aus dem Regal.

„Oder falls wir dir helfen können“ bot er zusätzlich an. „Ich habe eigentlich wenig zu tun. Und die anderen helfen dir bestimmt auch gern aus. Wir können zwar alle nur normal kochen, aber zum Überbrücken reicht es vielleicht erst mal.“

„Das ist lieb von euch, aber in absehbarer Zeit brauche ich eh einen neuen Koch oder zumindest eine Küchenhilfe. Seit Georg vor vier Monaten sein eigenes Restaurant aufgemacht hat, fehlt mir einfach eine Kraft. Und auf Dauer wird das für Olga und mich auch zu viel. Oh.“ Da entdeckte er etwas und ging zu Seto und Phoenix herüber.

„Was denn?“ schaute Phoenix und hüpfte schnell von der Arbeitsplatte. Ärsche hatten auf der Arbeitsplatte eigentlich nichts zu suchen. „Sorry.“

„Quatsch, bleib ruhig sitzen“ bat Hannes und beugte respektvoll seinen Kopf vor Seto. „Bitte sei mir nicht böse, Eraseus, aber es wäre mir lieber, wenn in der Küche nicht geraucht wird.“

„Natürlich. Entschuldige.“ Er gab ihm anstandslos den dreckigen Aschenbecher und sah das auch ein. Die Küche war ein hygienischer Raum und es sollte selbstverständlich sein, das Rauchverbot einzuhalten. „Kommt nicht wieder vor.“

„Vielen Dank. Das ist sehr rücksichtsvoll von dir.“ Er entsorgte den Stummel und beugte nochmals seinen Kopf. Er wusste, dass er mit den Priestern äußerst respektvoll umzugehen hatte. Dann gab es auch bei Kritik kein böses Blut.

Weniger respektvoll war Joey, der mit ungebundener Krawatte in die Küche stürmte und nebenbei wenigstens den Gürtel schloss. „Mann, Drache! Wo bleibst du denn so lange?“

„Ich bin nicht derjenige, der noch seine Freundin beglücken musste.“

„Hast ja nicht mal ne Freundin. Stattdessen stehst du da, süffelst Kaffee, gehst den Leuten auf den Keks und dabei haben wir einen wichtigen Termin um acht Uhr.“

„Morgen fahre ich einfach ohne dich und deine Libido. Idiot.“ Er nahm seinen Thermobecher, ging zu Sareth und küsste sie zum Abschied, während die noch die Tupperdose mit einer liebevollen Schleife verpackte.

„SÄTO! Hör auf rumzuknutschen und komm endlich! Noah killt uns, wenn wir zu spät kommen. Du weißt wie zickig sein Model wird und so kriegen wir den Vertrag nie unterschrieben. Ich habe die Kampagne schon fast fertig. Das einzige, was noch fehlt, ist die Unterschrift dieses verdammten Models.“

„Mit dir habe ich aber auch noch ein Hühnchen zu rupfen, Köter.“

„Ich denke, du bist den manischen Vegetariern beigetreten und rupfst keine Hühner mehr.“

„Ich bin vielleicht Vegetarier, aber nicht im Hundeschutzverein. Warum hast du mich bei dieser bescheuerten Onlinedating-Seite angemeldet?“

„Ah, du hast es rausbekommen?“

„WARUM WILL ICH WISSEN?“

„Ich wollte gucken, wer mehr Zuschriften bekommt“ antwortete er locker aus dem Stand. „Du hast bis … ja, vorgestern habe ich das letzte Mal reingeguckt. Da hattest du 83 Kontaktanfragen bekommen.“

„Ach. Und darüber soll ich mich freuen?“

„Solltest du. Ich habe nur 15 bekommen. Du bist eindeutig der bessere Schwule von uns beiden.“

„KÖTER!“

„Was denn? Freu dich doch. Was hast du überhaupt mit deinen Haaren gemacht? Mit der scheiß Frisur verringerst du nur deine Onlinechancen.“

„WAS?!“

„Ich wollte eigentlich demnächst Bilder von uns einstellen. Ich wette, dass ich dann mehr Zuschriften bekomme als du.“

„Los, raus jetzt.“ Er schob Joey aus der Tür und setzte die Diskussion dann auf der Fahrt fort.

„Hast du alle Pancakes eingepackt?“ fragte Phoenix, der wie gewohnt diese täglichen Zankereien ignorierte. Pancakes wären die perfekte Bestechung für Papadrache.

„Sorry. Sind schon versiegelt“ zeigte Sareth die liebevoll dekorierte Dose hoch. „Du suchst nach was Süßem für Papa, oder?“

„Was Süßes für deinen Drachen habe ich noch“ konnte Hannes helfen. „Komm mit in den Kühlraum, Kleiner.“

Phoenix trabte ihm nach bis ans Ende der Küche. Dort schob Hannes eine dicke Eisentür auf und ließ sich in den kleinen Raum mit den weißen Blechregalen folgen. Dort griff er nach oben, holte eine große, runde Pappschachtel herunter und stellte sie in ein freies Regal darunter.

„Schau.“ Er öffnete die Schachtel, holte eine kleinere Plastikdose heraus und öffnete sie. Und darin zum Vorschein kam ein Viertel einer Schokoladentorte. Oben auf mit Marzipanrosen verziert und Blättern aus Edelbitterschokolade. Der Teig aus dunklem Schokoladenboden und zwischen zwei Schichten Kirschmarmelade. Das ganze überzogen von dunkler Zartbitterschokolade, marmoriert mit weißer Schokolade.

„Wow!“ staunte Phoenix und sah seinen Atem kondensieren. „Das ist ja ein Meisterwerk. Woher hast du das?“

„Der Sohn von meinem Freund hat kürzlich seine Lehre als Konditor abgeschlossen und das ist eines seiner Machwerke. Ich hatte noch keine Gelegenheit zu probieren, aber wenn es so gut schmeckt wie es aussieht, ist das genau das richtige für euch Zuckermäuler.“

„Hannes, du hast mein Leben gerettet. Darf ich die haben?“

„Wo das herkommt, gibt’s noch mehr“ lachte er und überließ ihm großzügig die Dose. Dazu noch ein Kaffee und die Besänftigung stand unter einem guten Stern.
 

Mit einem Viertel Schokoladentorte auf einem mit Sahneblumen garnierten Teller und einem dampfenden, schwarzen Kaffee bewaffnet, traute er sich zurück in die Höhle des Drachen.

Der war zwar nicht brav auf seinem Sessel sitzen geblieben, aber nur aufs Bett umgezogen. Dort ließ er sich nun seinerseits die Morgensonne auf den nackten Rücken scheinen und öffnete mürrisch die Augen als das Öffnen der Tür seine schmollende Stimmung störte. Phoenix bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Tato den Stuhl in die Dusche gestellt hatte und eines der Bücher über den Fernseher hing. Ständig legte er Sachen an die merkwürdigsten Orte, doch wenn man ihn darauf ansprach, ignorierte er das und jetzt würde Phoenix zwar zu gern eine Erklärung dafür aus ihm herauspressen … aber dafür war nicht der richtige Moment.

„Hey, Dicker“ lächelte Phoenix, schloss die Tür leise und brachte ihm die guten Gaben ans Bett. Noch bekam er keine Reaktion, aber er schob ihm den Teller bis fast vor die Nase und wedelte den Duft des Kaffees in sein Gesicht. Ganz wie in der Werbung.

„Du willst mich bestechen“ bemerkte er mit beleidigtem Ton.

„Stimmt“ erwiderte er dafür mehr versöhnlich. „Und funktioniert es?“

„Denkst du, ich bin so einfach gestrickt?“

„Um ehrlich zu sein … ja?“

Er musste noch einige Momente warten, doch dann konnte der Drache eben doch nicht widerstehen. Er richtete sich in den Schneidersitz auf, griff den Teller, nahm die Vierteltorte mit der Hand und biss ein großes Stück heraus.

„Asato“ seufzte er höflich. „Kannst du nicht die Gabel nehmen?“

„Warum sollte ich?“

„Damit du nicht ganz so asozial aussiehst. Hier.“ Er gab ihm die Gabel sogar in die Hand. Ein Mindestmaß an Benimm sollte doch wohl zu verlangen sein.

Der Drache brummelte zwar, aber nahm dann doch das Besteckt. Er probierte die Sahne, paarte sie mit der Torte und verfrachtete sie mit mürrischem Gesichtsausdruck in den Mund. Er war noch immer nicht begeistert, aber wenigstens nahm er die erste Näherungsgeste an. Drachen waren eben doch ganz simpel.

„Hör zu.“ Während Tato den Mund voll hatte, konnte er vielleicht in Ruhe sprechen und sagen, was er zu sagen hatte. „Es stimmt, dass ich es wusste, wenn Sari sich mit Edith trifft. Um ehrlich zu sein, habe ich dich auch absichtlich etwas abgelenkt. Aber eigentlich nur, damit sie sich in Ruhe klarwerden kann, ob das mit Edith etwas Ernstes ist. Sie kann ja nicht einen Jungen kennenlernen und gleichzeitig mit dir kämpfen, wenn sie nicht weiß, ob überhaupt etwas draus wird. Aber ich glaube, sie hat sich wirklich verliebt und sie hätte es dir auch gesagt, wenn der richtige Moment gekommen wäre. Ich liebe dich wirklich über alles, aber ich will mich auch nicht zwischen Sari und dir entscheiden. Sari ist für mich wie eine Schwester und ich kann sie nicht verpfeifen. Das ist nicht gegen dich gemeint, aber … ich weiß nicht wie ich das formulieren soll. Ich liebe dich wirklich und ich will, dass das zwischen uns beiden eine Zukunft hat. Ich strenge mich wirklich an, damit ich dir gewachsen bin und ich will dir auch beweisen, dass ich zu dir stehe und ehrlich zu dir bin. Aber Sari ist mir auch wichtig und ich will nicht, dass ihr Vertrauen zu mir leidet nur weil du ihr Vater bist. Ich weiß nicht, ob du das verstehst. Ich wollte dich nicht hintergehen, aber sie auch eben auch nicht. Wenn ich ein schlechtes Gefühl bei Edith hätte, hätte ich dich sofort alarmiert. Aber ich glaube, dass Edith es wirklich aufrichtig und ernst meint. Er ist kein schlechter Kerl. Deshalb habe ich nichts gesagt und …“

„Kannst du auch mal ruhig sein?“ Tato hatte seinen Kuchen schon fast aufgegessen und nichts gesagt, aber so langsam schien ihn das Gelaber zu nerven. Auch als geschwiegen wurde, beschäftigte er sich weiter mit Essen und würdigte den Spender keines Blickes.

Und Phoenix saß neben ihm, blickte die sonnenbeschienene Bettdecke an und seufzte in sich hinein. Wie konnte er es nur so erklären, damit Tato es auch verstand? Er wollte ihn nicht hintergehen, aber er machte es einem auch nicht gerade einfach, ehrlich zu sein.

Irgendwann stellte der Drache seinen Teller aufs Kopfkissen, stand auf und ging kommentarlos zum Fenster. Als Phoenix sah wie er hinausstarrte und die Fäuste ballte, fasste er den Mut und ging ihm nach. Auch er blickte hinaus und sah Edith auf der anderen Straßenseite stehen. Seine dunkelgrüne Schuluniform war zwar sauber, aber seine Turnschuhe abgenutzt und das Haar ungekämmt. Und der schwarze Rucksack hatte auch schon mal bessere Tage gesehen. Kein Wunder, dass Tato sich einen adretteren Schwiegersohn ausgesucht hätte. Doch Sareth sah diese Sachen nicht oder nicht so eng. Sie lief barfuß und lächelnd über die Straße, blieb vor ihm stehen und unterhielt. Sie wechselten erst ein paar Worte, bevor er die Hände aus den Taschen nahm und sich umarmen ließ. Und als sie sich auch noch einen kurzen, unspektakulären Kuss gaben, schnaufte Tato so laut, dass Phoenix sich erschreckte. Es fehlte nicht viel und er würde platzen. Aber er blieb einfach stehen und beobachtete wie sie um ihren Schwarm herumlief, seinen Rucksack aufzog und die Dose mit der Schleife darin verstaute. Dann nahm sie seine Hand, strahlte ihn verliebt an und spazierte von dannen. Sie war so was von deutlich verliebt, dass es schon wehtat.

„Sie hat ihm Frühstück gemacht, ja?“ stellte er grimmig fest.

„Na ja …“ Das konnte er nicht verleugnen. Tato hatte ja Augen im Kopf.

Der fragte auch nicht weiter, sondern öffnete das angekippte Fenster, lehnte sich hinaus und pfiff. Es dauerte nur wenige Sekunden da flatterte ihm auch schon sein kleiner Falke auf die Fensterbank und gab eine Tirade schneller Pfeiftöne von sich. Er freute sich, schüttelte alle Federn zur Begrüßung und knabberte an Tatos Hand. Wenigstens der hatte gute Laune.

„Kumpel, hör zu“ brummte er und kraulte seinem guten Geist das geplusterte Köpfchen. „Du fliegst den beiden jetzt nach und wenn sie Unsinn machen, hackst du dem Spasti die Augen aus. Verstanden?“

„Brrrruuuuuu!“ gurrte er und sah zu ihm hoch. Was war denn das für ein komischer Befehl?

„Ich meine es ernst. Wenn er sie angrapscht, gehst du dazwischen. Keine Gnade.“

„Krrrraaaaaa!“ Das klang nicht begeistert. Gar nicht begeistert.

„Ich kaufe dir beim Schlachter einen Kaninchenbraten ohne Fell. Deal?“

Der bunte Falke sah seinen Herren stechend an, aber plusterte sich dann dick auf und nickte mit dem Kopf auf und ab. Darauf ließ er sich ein. Es war unglaublich, aber er schien die Worte wirklich zu verstehen.

„Okay. Und lass dich von Sareth nicht bequatschen. Und du erzählst ihr nichts von unserem Gespräch.“

Nein, das würde er doch niemals tun. Er krächzte und flatterte davon, um seinen Auftrag zu erfüllen. Und natürlich um sich seinen Kaninchenbraten ohne Fell zu verdienen.

„Du schickst Laertes spionieren?“

„Nicht spionieren. Bodyguarden. Ihm kann ich wenigstens trauen.“ Er schloss das Fenster, setzte sich zurück ins Bett und widmete sich dem Rest seiner Torte.

„Warum bist du so gemein zu mir? Ich habe doch versucht, es dir zu erklären.“

„Tja … ist sich eben jeder selbst der Nächste.“

Das verletzte ihn nun mehr als alles andere. Er konnte doch seine Schwester nicht verpfeifen. Tato hätte Nini auch nie verpfiffen. Und er suchte den Fehler nicht mal bei sich und seiner übertriebenen Vaterliebe. „Weißt du was?“ Das musste er sich nicht anhören. „Du kannst ein ganz schönes Arschloch sein.“

Er zuckte mit den Schultern und kratzte den Rest Torte zusammen.

„Und ein Ignorant bist du auch.“ Er ging an den Schrank, nahm sich ein paar Klamotten heraus und blickte nicht zu ihm zurück als er zur Tür ging. Er war schon fast draußen als er Tatos leise Stimme vernahm. „Was?“ giftete er zurück. „Noch irgendwelche Beleidigungen, die du loswerden willst?“

„Sei nicht so streng mit mir.“ Er stellte den Teller weg und nahm den lauwarmen Kaffee, klopfte neben sich auf die Matratze. „Komm schon her.“

„Und dann?“

„Dann bleibst du hier.“

„Um mir noch mehr Sachen an den Kopf werfen zu lassen?“

„Nein, weil ich ein Arschloch bin. Komm schon. Lass mich hier nicht so sitzen.“

Phoenix seufzte, kam zurück und machte auch die Tür wieder zu. Die Klamotten legte er ans Fußende und setzte sich neben seinen Drachen. Jetzt war’s umgekehrt. Nun durfte Phoenix schmollen. Diskutieren war ja okay, aber auch Tato musste fair bleiben und nicht mit so verletzenden Kommentaren um sich werfen.

„Du bist echt schwierig, Asato. Weißt du das eigentlich?“

„Ich weiß … aber ich kann auch nicht aus meiner Haut. Sei nicht sauer.“

„Du wirfst mir an den Kopf, ich wäre nicht vertrauenswürdig und jeder ist sich selbst der nächste und erwartest, dass ich mir das gefallen lasse? Ich bin vielleicht ein Schwächling, aber auch Schwächlinge haben ihren Stolz.“

„Ich weiß. Jetzt schimpf mich nicht aus. Ich bin ja eigentlich gar nicht sauer auf dich.“

„Sondern?“

„Auf mich. Weil meine Tochter mir Sachen verschweigen muss. Bin ich echt so ein schlechter Vater?“

„Du bist überbehütend. Sari ist zwar deine Tochter, aber nicht dein Eigentum. Verstehst du? Anstatt ihr den Umgang zu verbieten, solltest du dich lieber mit ihr unterhalten und versuchen, sie zu verstehen. Da musst du eben mal aus deiner Haut - aber nicht aus der Haut fahren. Sonst lebt sie ihr Leben irgendwann hinter deinem Rücken. Und mich darfst du auch nicht so anfahren. Ich meine es gut mit dir, also rede mit mir und spiele nicht die beleidigte Leberwurst.“

„Ist ja gut.“ Er schaute traurig zu Boden und drehte den Becher zwischen seinen Händen. „Ich weiß ja, dass ich so bin. Aber ich kann’s nun mal nicht ändern.“

„Jetzt guck doch nicht so bedröppelt, Dicker. Wenn es dir leid tut, entschuldige dich einfach und gut ist.“

„Entschuldigung.“

„Siehst du? Ist gar nicht so schwer.“ Er rutschte zu ihm auf und legte die Arme um ihn. Tato ließ sich etwas zur Seite fallen und kuschelte seine Wange an der schmalen Brust an. Er wollte ja gar nicht so ungerecht sein, aber er war eben ein Sturkopf.

„Weißt du, Kleiner. Manchmal frage ich mich echt, wer von uns beiden in der Pubertät ist.“

„Ach, weißt du, Drache. Du kommst von der Pubertät gleich in die Midlife-Krise. Das wird nicht mehr besser mit dir.“

„Du bist ganz schön frech.“

„Tja.“ Er küsste ihn ins Haar und schmuste seinen Schmusedrachen. „Ich liebe dich trotzdem. Du Trotzkopf.“

„Ich liebe dich auch, Mr. Lolita.“

„Ey! Nenn mich nicht so!“ Er buffte ihn neckisch an die Schulter. Doch dann kuschelte er ihn auch schon wieder und küsste sein ungemachtes Haar. „Und jetzt ist wieder alles gut? Zwischen uns?“

„War doch nie schlecht.“

„Na ja.“

„Ich bin nicht mal laut geworden. Das war kein Streit. Das war … das war einfach blöde. Weißt du, ich stehe mir manchmal einfach selbst im Wege.“

„Ich weiß. Ich weiß auch wie du bist. Aber bitte zeig mir nie wieder die kalte Schulter. Kannst du das?“

„Ich versuche es“ murmelte er, rutschte herunter und bettete seinen Kopf auf Phoenix‘ Beinen. „Danke für die Torte.“

„Die hat dir natürlich geschmeckt, was?“

„Geht so.“

„Ja ja.“ Jetzt wurde er ja doch ganz anschmiegsam. Der Große schmuste sich an ihn, schloss die Augen und ließ sich den Kopf kraulen. So sanft war er selten und Phoenix merkte wie er die Nähe suchte. Er genoss es auch, sein kurzes Haar zu streicheln, seine nackten Schultern, seinen Rücken und sein entspanntes Gesicht zu beobachten. Wenn er nicht so ein cholerischer Dickkopf wäre, könnte er doch eigentlich immer so lieb sein wie jetzt. Wie ein Kätzchen, dass auf den Schoß sprang und seinem Besitzer nichts anderes schenkte als seine Anwesenheit. Drachen waren da ähnlich. Allein ihre Anwesenheit war angenehm. Wie gesagt, wenn er nicht gerade rumzickte. Aber was das anging, kannte Phoenix ihn auch schon etwas länger. Es war ja nicht das erste Mal, dass er ihn auf den Boden zurückholte. Es war nur das erste Mal, dass er es in der Rolle seines Partners tat. Auch wenn er sich im Moment mehr als Schmusemaschine fühlte.

„Asato?“ Nach einigen ruhigen Minuten tastete er sich vorsichtig heran und versuchte ihm in die Augen zu sehen. Es war vielleicht besser, das Thema anzubringen, bevor ihn seine Gefühle überkamen.

„Was denn?“ brummte er und stieß mit seinem Kopf leicht in den dünnen Bauch. „Ey, nicht aufhören.“

Er machte also lieber weiter und kraulte seinen Nacken. Wenn ihn das besänftigt hielt. „Asato, du weißt, dass morgen Vollmond ist, oder?“

„Ja, ich weiß“ brummelte er und klang nicht mehr so begeistert. „Warum fragst du?“

„Na ja … ich wollte wissen, ob du … ob du … na ja, ob du rollig wirst. Bei mir.“

„Ich liebe und begehre dich. Natürlich regen sich da gewisse Bedürfnisse. Gerade jetzt habe ich das starke Bedürfnis, dich anzufassen und dich dazu zu bringen, mich anzufassen. Mehr als nur ein bisschen Kuscheln. Du weißt, dass ich das will.“

„Dafür bist du aber ziemlich ruhig.“

„Ich habe gelernt, mich zu beherrschen. Ich habe meine Gefühle für dich ja lang genug gezähmt.“

„Nun, zähmen ist das richtige Stichwort. Ich …“ Okay, nur Mut. Er wird schon nicht gleich an die Decke gehen. „Ich möchte wirklich gern mit dir diese besondere Zeit verbringen. Ich möchte gern der einzige sein, den du willst. Aber …“

„Bevor du weitersprichst, Kleiner“ unterbrach er, nahm seine schmale Hand und küsste sie langsam und zärtlich. „Ich liebe dich sehr. In ein paar Stunden werde ich mich aber vielleicht nicht mehr so ruhig verhalten können. Ich hoffe, du bist nicht beleidigt, aber es ist mir noch zu früh. Ich liebe den Sex mit dir, aber ich bin noch nicht bereit, es auf diese Art mit dir zu tun.“

„Du bist derjenige, der sich nicht bereit fühlt?“ Das wunderte ihn nun doch sehr. Er dachte, er wäre der einzige, der sich darüber Gedanken machte.

„Ich sage es dir ganz ehrlich. Risa war bisher die einzige, zu der ich mich so hingezogen fühlte. Und es ist schwer für mich, dass diese Gefühle zu dir sehr ähnlich sind. Es sind Erinnerungen, die mich einholen und mich traurig machen. Ich liebe dich, aber diese Liebe zu dir zu fühlen, weckt auch die Sehnsucht nach ihr.“

„Das verstehe ich.“ Auch wenn es bedrückend war. Er wollte nicht, dass Tato sich schlecht fühlte und trauerte, wenn sie zusammen waren. So gern er auch der einzige sein wollte, er war es nun mal nicht. Er war nur die zweite Liebe. Risa würde immer in seinem Herzen sein und seine Liebe endete nicht mit ihrem Tod. Das musste er akzeptieren. Ebenso wie Tato es akzeptieren musste. „Wenn du möchtest, dass ich gehe, dann musst du es nur sagen. Ich weiß, dass du sie liebst und ich möchte mich nicht irgendwo reindrängen, wo ich nicht hingehöre. Auch wenn ich mir wünsche, dass du mich irgendwann genauso sehr lieben kannst.“

„Ich liebe dich sehr. Ich liebe dich auf eine andere Weise, die aber nicht weniger intensiv ist.“ Er strich über Phoenix‘ zarte Finger und und verschränkte seine Hand hinein. „Ich möchte irgendwann auch meine Leidenschaft mit dir teilen. Mich selbst mit dir teilen. Nur jetzt noch nicht. Ich brauche noch Zeit.“

Nun tat es ihm leid. Er hatte nur daran gedacht, wie er sich selbst dabei fühlen würde. Wie es wäre, wenn der Drache über ihn herfiel und seine Leidenschaft kein Ende fand. Er hatte aber nicht einen Augenblick daran gedacht, was Tato dabei fühlen würde. Dass es auch für ihn nicht leicht war, sich zu öffnen und sich einem anderen völlig hinzugeben. Da war mehr im Spiel als nur sexuelle Lust. Es war ein großes Sammelsurium von Gefühlen.

„Es tut mir leid, Spätzchen.“

„Das ist in Ordnung. Wirklich. Es tut mir leid, dass ich gedacht habe, ich sei der einzige, der darüber nachdenkt. Wirklich … es tut mir leid, dass ich hier nur an mich gedacht habe.“

„Hast du?“

„Ja, habe ich. Ich wusste nicht, wie ich dir sagen sollte, dass ich mich noch nicht reif genug fühle. Dass ich mich dir noch nicht gewachsen fühle. Aber ich habe nicht daran gedacht, was du fühlst. Und das tut mir jetzt ziemlich leid.“

„Muss es nicht, Kleiner.“ Er küsste die zarte Hand und hielt seine Stirn eng daran gepresst. „Ich weiß, dass ich manchmal übers Ziel hinausschieße oder Signale falsch deute. Risa kannte mich gut und wusste, wie sie mit meinem Drängen umgehen musste. Ich habe ihr vertraut und konnte mich bedenkenlos fallen lassen. Ich wusste, sie achtet darauf, dass ich weder sie noch mich verletze. Aber auch bei ihr hat es gedauert bis ich mir sicher war. Weißt du, es ist auch für mich nicht leicht, wenn das mit mir geschieht. Wenn man mich so meinen Gefühlen ausgeliefert sieht. Ich tue vielleicht Dinge, die ich normalerweise nicht tue. Dinge, für die ich mich vielleicht entschuldigen muss.“

„Das ist nicht schlimm für mich. Ich weiß, dass das nicht absichtlich mit dir passiert“ tröstete er und kraulte sein kurzes Haar. „Du bist als starker Magier den spirituellen Energien eben mehr ausgeliefert als normale Menschen. Du hast dir das nicht ausgesucht. Ich verspreche dir aber, dass du dich dafür nicht schämen musst. Wirklich nicht.“

„Das ist lieb von dir. Ich will aber nicht, dass du Angst vor mir bekommst und ich will nicht, dass ich aus Versehen jemanden verletze. Bitte sei mir nicht böse, aber ich bin noch nicht bereit, mich dir hinzugeben. Vielleicht in ein paar Monaten. Aber jetzt noch nicht.“

„Dann bittest du mich, dass ich gehe?“

„Jetzt noch nicht“ flüsterte er und küsste seine Hand, schmiegte sein Gesicht in die Handfläche. „Ich will noch mit dir zusammensein. Ich will in deinen Armen liegen und dir nahe sein. So lange wie es geht. Ich liege gern bei dir und spüre dich. Deine Hände, wenn sie mich streicheln. Und dein warmer Atem, wenn du mich küsst. Aber wenn es zu stark wird, solltest du mich besser allein lassen. Bevor sich meine Instinkte über meine Beherrschung stellen. Ich will jetzt keinen Sex … ich möchte einfach nur in deinen Armen liegen. Kannst du das verstehen?“

„Ich bin froh, dass du mir das sagst.“ Er beugte sich herab und kam seinem Gesicht ganz nahe. Er küsste seine Schläfe und legte den Kopf auf seine Schulter. „Ich bin froh, wenn wir uns noch etwas Zeit lassen. Ich möchte bei dir sein so lange wie du es aushältst. Und wenn du merkst, dass es zu viel wird, dann schick mich weg. Okay?“

„Geh lieber selbst, wenn du das Gefühl bekommst, dass ich zudringlich werde“ bat er beschämt. „Ich kann nicht garantieren, dass ich den Moment erkenne. Ich verspreche dir aber, dass ich dich dann auch gehen lasse.“

„In Ordnung.“

„Versprichst du mir im Gegenzug auch etwas?“

„Natürlich, Dicker. Alles, was du willst.“

„Wenn ich wieder aufwache, bringst du mir dann wieder Torte ans Bett?“

„Ist das deine einzige Sorge?“

„Im Moment schon …“

„Ihr Drachen seid so berechenbar“ lachte er erleichtert. Dieses Thema zu klären, war einfacher als gedacht. Und er war einiges an Wissen und Sicherheit reicher. Tato war häufig egoistisch und ungerecht und auch ein wenig verschlossen. Aber er sprach über seine Gefühle, wenn er den Moment gekommen sah. Er öffnete sich, wenn er sich sicher fühlte. Er wollte, dass Phoenix seinem Herzen nahe kam. Doch in einem Tempo, welches für beide gut war. Tato war ehrlich und das machte es leichter. Für beide.
 


 

Chapter 23
 

Der tägliche Besuch im Aquarium weckte heute endlich wieder positive Gefühle. Als Seto und Sethan hereinkamen, sahen sie wie Tristan, Balthasar und Narla Möbel aufbauten. Einen niedrigen Tisch und darum eine dreischenklige Polsterecke. Die breite Sitzfläche reichte auch zum Liegen und Schlafen und auf die flachen Lehnen konnte man sowohl Arme als auch Kopf stützen. Das war wirklich etwas anderes als die Luftmatten, Feldbetten und kleineren Sofas, die sie provisorisch hingestellt hatten. Schlaf hatte hier ohnehin kaum jemand gefunden und gemütlich wollte es sich niemand machen, solange Sethos dem Tode entgegentrieb. Eigentlich war das Aquarium auch kein Wohnzimmer, doch jetzt sah es allmählich danach aus.

Wichtig war jedoch, dass sich dies nun alles für Sethos lohnte. Der schwamm schon wieder fleißig herum und bewegte seine schweren Glieder. Die Fischleichen hatte man mittlerweile entfernt, sodass er das einzig noch lebende Exemplar war, welches nun wie ein Walhai seine langsamen Runden durch das Wasser pflügte. Sogar seine Flügel hatte er wieder eingezogen, sodass er fast aussah wie ein Neck, den man gefangen hielt. Seto sah ihn kurz herüberblicken und nickte zurück, bevor Sethos sich abwand, um die Ecke schwamm und kurz verschwand, bevor er auf der Rückbahn etwas weiter oben wieder erschien. Normalerweise durchquerte er ganze Ozeane und selbst in diesem riesigen Becken wirkte er irgendwie deplatziert. Lange würde er es dort auch nicht mehr aushalten. Einen Drachen wie ihn konnte man nicht einsperren.

„Na, hier sieht’s ja wohnlich aus“ meinte Seto und machte sich bemerkbar. Da die große Tür weit offenstand und Licht hereinließ, merkte man nicht wenn jemand hineinkam.

„Ist ja nicht für ewig“ meinte Tristan und zog die Schrauben an dem kleinen Holztisch fest. „Tag ihr beiden.“

„Tag“ grüßte Sethan zurück, während Seto sofort in die hinterste Ecke ging. Dort stand nämlich der Kinderwagen mit der kleinen Joey drin, die er noch vor allen anderen begrüßen musste. „Wo ist denn Amun-Re?“

„Der bringt mit Nikolas den Müll raus“ zeigte Narla und schmiss ein paar Kissen auf die riesige Sitzecke. Dann erst bemerkte sie mit großen Augen: „Sethan! Was ist mit deinen Haaren passiert?“

„Warum? Ist es so schlimm?“ Aus seinem langen, blonden Zopf war eine pflegeleichte Kurzhaarfrisur geworden. An den Seiten abgeschoren und der breite Streifen in der Mitte mit etwas Liebe und Haarschaum nach hinten gelegt. Nur der lange Pony fiel zu einer Seite herunter bis hinters Ohr. Er strich sich die Strähnen zurück und befürchtete eine schlechte Kritik.

„Nein! Sieht super aus!“ Narla lief sogleich herbei und besah sich das Ganze aus der Nähe. „Das ist ja ne echte Designerfrisur.“

„Meinst du?“

„Ja, wirklich. Du siehst gleich viel jünger und hipper aus. Nicht mehr so weibisch.“

„Du hast mich vorher weibisch gefunden?“

„Wenn ich das jetzt so vergleiche ja. Aber du siehst toll aus.“

„Und meine neue Frisur sieht keiner, ja?“ meckerte Seto aus der Ecke. Klein Joey schlief ja gar nicht, also hatte er sie auch schon auf dem Arm. Doch auch die interessierte sich nur für Papas Zottelmähne und nicht für andere Frisuren.

„Doch, du siehst auch super aus“ bestätigte Narla sofort. „Aber du hast ja dieselbe Frisur, die du immer trägst. Da fällt das nicht so auf.“

„Super! Da kann ich eineinhalb Meter Haar abschneiden und keiner merkt was. Vielleicht sollte ich sie mal pink färben, damit ich jemandem auffalle.“

„Seto, mein Drachenschätzchen“ lächelte sie ihn liebevoll an. „Möchtest du denn überhaupt auffallen?“

Das wollte er natürlich nicht. Er war jemand, der gern unbemerkt blieb und am liebsten irgendwo in einer stillen Ecke stand. Eine unauffällige Frisur war also sogar seine Absicht. Und weil ihm nicht einfiel, wie er sich da rausreden sollte, sagte er einfach „Ach, lass mich doch in Ruhe“ und widmete sich wieder dem quietschenden Mädchen auf seinem Arm.

„Hey, ihr seid ja schon da!“ Amun-Re freute sich und ging sofort zu Sethan, um ihn in den Arm zu nehmen. „Sethan, super siehst du aus!“

„Danke.“

„Amun“ tippte Narla ihn an und wies auf Seto.

„Und du natürlich auch, Eraseus!“

Von Seto kam nur ein undefinierbares Murmeln. Er stellte sich mit der Kleinen zu Sethos an die Scheibe und ließ sie reinschauen. Mit ihr unterhielt er sich bei weitem lieber. Auf ihr „Bu bu bu“ und „Wa wa wa“ antwortete er mit liebevollem „Ja, was ist denn da?“ und „Guck mal das Wasser. Guck mal da oben die Wellen“. Das konnte er jetzt stundenlang so weitermachen. Gab man ihm ein Baby war er selig.

„Und? Sind wir jetzt fertig?“ fragte Nika und zog sich die Bauarbeiterhandschuhe aus. Wenn man es nicht besser wüsste, würde sie heute als überzeugtes Mannsbild durchgehen. Turnschuhe, Jeans und schwarzes Muskelshirt. Mit ihrem Körper konnte sie sich sehen lassen. Doch wahrscheinlich lag es eher daran, dass es keine anderen Klamotten für sie gab und die Sachen hauptsächlich von Noah und Balthasar geliehen waren. Selbst einzukaufen, würde bedeuten, diesen Zustand auf längere Zeit zu planen - und das hatte sie noch nicht über sich gebracht. Und da heute Bauarbeiten auf dem Plan standen, war Balthasars Kleidung nur praktisch.

„Mal sehen“ antwortete Tristan und steckte das Werkzeug in den Kasten. „Wir haben die Polsterecke aufgebaut, den Tisch und den Kühlschrank in der Küche ausgetauscht. Habt ihr die Sachen im Container fertig verstaut?“

„Ja, alles“ seufzte sie und steckte die Hände in die Hintertaschen. „Die Umverpackung, die alten Möbel und den Bauschutt. Nur den Kühlschrank haben wir so stehen lassen.“

„Dann können wir nachher alles abholen lassen.“

„Bauschutt?“ fragte Seto verwundert. „Woher habt ihr denn Bauschutt?“

„Wir haben heute Morgen ein Fenster eingebaut“ wies Tristan hinter sich. Ein Fenster war dort nicht zu sehen, aber ein dicker, schwarzer Vorhang über etwa zwei Meter Länge.

„Und warum ist das abgehängt?“

„Weil vorhin der Glaser draußen war und die Arbeit abgenommen hat. Wir wollten nicht, dass er reinschauen kann.“ Und es war natürlich einfacher, das Fenster abzuhängen als das ganze Aquarium zu verstecken.

„Eigentlich haben Tristan und Nikolas die Arbeit gemacht“ erklärte Narla. „Balthasar und ich konnten nur handlangern.“

„Hat eben auch gute Seiten, wenn man kräftig ist“ versuchte Nika sich selbst zu trösten und etwas Optimismus an den Tag zu legen.

„Ich finde das ganz lieb von euch“ dankte Amun-Re und verbeugte sich vor seinen Helfern. „Ihr schleppt Möbel und baut Fenster in massive Wände und das nur, damit kein Fremder eintritt und mein Priester wieder gesund wird. Danke.“

„Ist doch selbstverständlich“ meinte Tristan. „Wenn Sethos wieder rauskommt, muss er es doch einigermaßen wohnlich haben.“

„Und die heilende Wirkung von Tageslicht auf Drachen ist auch nicht zu unterschätzen“ ergänzte Narla. Deshalb wahrscheinlich das Fenster nahe der Polsterecke. „Wir haben nur Glück, dass Tristan unser Heimwerkerkönig ist.“

„Unsinn. Ich kann nur Baupläne und Anleitungen lesen. Mehr nicht.“ Er stellte die Werkzeugkiste in die Ecke und dehnte seinen Rücken. „Aber um ehrlich zu sein, möchte ich kein Bauarbeiter werden.“

„Warum?“ lachte Amun-Re fröhlich. „Wände kaputtkloppen macht doch Spaß.“

„Ja schon. Aber das Steineschleppen nicht.“

„Steineschleppen?“

„Du weißt schon, Amun“ erinnerte Narla schmunzelnd. „Das war der Zeitpunkt, wo du ganz dringend beten gehen musstest.“

„Das sind wichtige Geschäftskontakte! Eraseus, du verstehst das doch, oder?“

„Darf ich mal gucken?“ Der interessierte sich viel mehr für die Arbeit an sich. Nach Tristans Okay schob er den Vorhang beiseite, löste ein Stück Klebeband und besah sich das neue Fenster. Vorsichtig fuhr er die Silikonschicht nach und blickte nach oben.

„Und was sagt der Fachmann?“

„Gute Arbeit“ nickte er, schloss den Vorhang und gab seinen Finger wieder zum Lutschen her. „Das hat Tristan gut gemacht, nicht wahr Hönigtöpfchen? Dann kann Sethos bald schön in der Sonne liegen und gesund werden. Hm?“ Und sie war voll und ganz seiner Meinung. Ganz bestimmt.

„Okay. Jetzt muss Sethos da nur noch rauskommen. Ich habe sogar extra große Handtücher gekauft.“ Narla ging an die Plastiktüten, welche nahe der Tür geparkt waren und packte ein großes, weißes Zweimetertuch aus. „Also, es war verdammt schwer, so große Strandtücher zu bekommen und wenn das nicht reicht, dann weiß ich auch nicht. Und Klamotten haben wir auch mitgebracht.“

„Das wird bestimmt bald etwas“ versprach Amun-Re und lächelte über seine Schulter zurück. „Nicht wahr, Darling?“

„Wann wissen wir denn den Moment, wenn er wieder aus dem Wasser kommen darf?“ fragte Nika und beobachtete die hypnotischen Bahnen, mit welchen Sethos Mal um Mal die Länge des Beckens durchquerte. „Das Gegengift ist jetzt schon seit fünf Tagen drin und seit gestern kann er wieder schwimmen …“

„Ich denke, das muss er selbst wissen“ mutmaßte Amun-Re. „Wenn er sich bereit fühlt, wieder an Land zu kommen, soll er es versuchen. Und wenn er sich schwach fühlt, kann er wieder ins Wasser zurück. Und solange bleibe ich bei ihm. Was ist denn?“ Sethos hatte seine Bahnen gestoppt und schwebte fast bewegungslos im Wasser, nur sein langes Haar breitete sich in der seichten Strömung aus. Er blickte mit großen, blauen Augen zu ihnen herüber und schien überrascht. „Darling, was ist denn?“

Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck von Überraschung zu einer leichten Verärgerung. Er machte eine Geste von sich weg und schien über irgendetwas nicht sonderlich begeistert.

„Seto?“ bat Sethan freundlich. „Könntest du uns das bitte übersetzen?“

„Er scheint das nicht gewusst zu haben“ erzählte der ganz neutral. „Sethos meint, es wäre zu nett gewesen, wenn ihm das auch mal jemand gesagt hätte.“

„Aber wir haben doch mit Sachmet gesprochen heute Morgen“ rechtfertigte sich Amun-Re. „Sie war diejenige, die gesagt hat, er darf rauskommen so wie es sein Empfinden zulässt. Was meint er denn, weshalb wir hier den ganzen Auftrieb machen? Doch nur damit er zwischen Sofa und Wasser pendeln kann wie er es braucht. Genau wie meine Göttin es angeordnet hat.“

„Da hat er aber geschlafen“ wandte Seto ein. „Und wenn er schläft, kannst du noch so viel mit ihm sprechen. Wenn er schläft, dann schläft er. Das weißt du doch.“

„Ich dachte, das hättest du mitbekommen.“ Er ging bis zur Scheibe und legte entschuldigend seine Hand darauf. „Ich dachte, du hättest Sachmet wahrgenommen, weil dir sonst auch keine Anwesenheit entgeht. Auch nicht, wenn du schläfst.“

„Im Moment ist sein Schlaf aber zu tief, Amun-Re.“ Auch wenn Seto das taktvoll übersetzte, sagte das Augenverdrehen von Sethos alles. Da hatten er und sein Gott wohl eine ihrer Kommunikationsstörungen.

„Dann bedeutet das, du möchtest jetzt schon aus dem Wasser gehen? Schaffst du das denn, Darling?“

Sethos zuckte mit den Schultern. Das konnte er doch nicht wissen, bevor er es versucht hatte.

„Wenn du es versuchen möchtest, helfe ich dir“ bot Seto an. „Wenn ich darf.“

Sethos gab sich einen Stoß und schwamm an die Oberfläche. Mit Seto verlief die Kommunikation wesentlich einfacher als mit einem Gott.

Die kleine Joey wanderte wieder zu ihrer Mama und ihr Seto musste sich um anderes kümmern. Da konnte sie ihm und seinem Nuckelfinger noch so sehnsuchtsvoll nachblicken und ihre Ärmchen ausstrecken. Und als alles nichts half, begann sie eben zu schreien. „WHÄÄÄÄÄÄÄ!!!“ So ging das doch nicht! ER KONNTE DOCH NICHT EINFACH WEGGEHEN UND DEN NUCKELFINGER MITNEHMEN!!!

„Du bist genauso ein Dickkopf wie dein Vater“ seufzte Narla und ging mit ihr hinaus. Wenn Sethos aus dem Wasser kam, wollte er sicher nicht von einem kreischenden Baby begrüßt werden.
 

Seto ging durch die Seitentür, zu welcher Amun-Re bereits gelaufen war. Dort führte eine schmale Stahltreppe hinauf zu der Wasseroberfläche. Diente eigentlich dazu, um von oben Futter ins Haibecken zu werfen und die Maschinen zu überprüfen, aber man konnte auch Leute ins Becken einlassen und wieder rausholen. Normalerweise waren das Taucher, welche die Algen entfernten. Jetzt war es eben ein kranker Drache. Glücklicherweise war der starke Geruch nach Verwesung und altem Fisch verflogen, seitdem man die toten Tiere aus dem Becken gefischt und entsorgt hatte.

Als die beiden oben ankamen, sahen sie, dass Sethos bereits den Kopf herausgesteckt hatte. Mit seinen Armen stützte er sich auf den Boden der Plattform und atmete mit vorsichtigen, flachen Atemzügen. Es fiel ihm sichtlich schwer, seine Atmungsweise zu ändern. Seine Kiemen waren unversehrt, doch seine Lungen mussten noch heilen.

„Hey, du bist ja schon dabei!“ Amun-Re kniete sich zu ihm hinunter und legte vorsichtig die Hand auf seinen nassen Arm. „Es tut so gut, dich wieder zu berühren. Wie fühlst du dich?“

Sethos wollte antworten, doch schon nach dem ersten Ton folgte ein feuchter Husten, der seinen geschwächten Körper schüttelte und einige geronnene Blutstücke aus der Luftröhre spülte. Er konnte sich nicht festhalten und rutschte zurück ins Wasser.

„Ganz ruhig. Lass dir Zeit. Du bist noch zu schwach!“ Und sein Liebster fieberte mit ihm. Es war das einzige, was er tun konnte. So gern er ihm helfen würde, er konnte ihm nur gut zureden.

Sethos beruhigte sich langsam, atmete etwas Wasser und kam dann erneut zum Rande der Plattform. Er stützte sich auf die Unterarme und streckte behutsam den Kopf heraus. Amun-Re legte ihm die Hände auf die Schultern und stand ihm bei, soweit es möglich war. Der Priester normalisierte seinen rasselnden Atem mit vorsichtigen Zügen. Er winkte ab und griff dann nach Amun-Res Hand. Wer hier wen beruhigte, war irgendwie nicht mehr zu erkennen.

„Bist du dir sicher?“ fragte Seto und kniete sich neben die beiden. „Vielleicht solltest du noch etwas im Wasser bleiben. An Land ist dein Körper doch viel schwerfälliger. Und atmen kannst du auch kaum.“

Sethos schüttelte den Kopf und Seto seufzte. Da konnte man nichts machen. Was der Oberdrache wollte, das wollte er nun mal. Keine Diskussion.

„Seto?“ rief Tristan und erschien unten auf der Treppe. „Braucht ihr Handtücher?“

„Noch nicht. Aber du kannst mal raufkommen und mir helfen, Sethos aus dem Wasser zu heben.“

„Warum benutzt du keine Magie und lässt ihn schweben?“

„Weil ich jetzt keine Magie in Verbindung mit Wasser benutzen will!“ schimpfte er zurück. „Dann bleib eben unten und lass es bleiben!“

„Nein, ich komme ja schon.“

Er wäre auch die Treppe raufgestiegen, wenn nicht Nika sich an ihm vorbeigequetscht hätte. „Lass mich. Du hast doch schon Rückenschmerzen.“ Außerdem war sie im Augenblick kräftiger als er und kam geschwind die Treppen hinaufgesprungen. „Oder magst du es nicht, wenn ich dich anfasse, Sethos?“

Um keinen neuen Husten zu provozieren, antwortete er zwar nicht, doch er griff ihren männlichen Arm und sagte damit genug.

„Okay. Du links, ich rechts und Amun-Re geht schon mal runter“ beschloss Seto und kletterte an dem vorbei, um auf die richtige Seite zu kommen.

„Aber seid zärtlich zu meinem Darling, ja?“

Sethos hauchte irgendetwas, was aber nur Seto verstand. „Du sagst es. Also los.“

„Wie machen wir das jetzt?“ fragte Nika vorsichtshalber. Schließlich wollte sie an Sethos ja nichts kaputtmachen.

„Du nimmst seinen Arm und hängst ihn dir über die Schulter. Dann ziehst du ihn mit rauf. Aber pass auf, dass du seine Brust nicht quetschst.“

„Warum muss Tristan auch Rückenschmerzen haben? Sethos, du schreist, wenn dir was wehtut, ja?“

„Thue hich nhichth“ keuchte er und senkte den Kopf. Die Blöße würde er sich nicht geben.

„Sethos hält Schmerzen aus. Also los jetzt.“ Seto griff den einen Arm und Nika tat es ihm auf der anderen Seite gleich. „Auf drei. Eins, zwei …“

Bei drei hoben sie den schweren Brocken gemeinsam in die Höhe. Sethos hatte zwar viel an Gewicht verloren, sein Körper schwach und ausgezehrt, doch sein langes Haar war vollgesogen mit Wasser, was das ganze Unterfangen erschwerte. Mit zwei so kräftigen Männern war er jedoch schnell aus dem Wasser raus und hing wie ein nasser Sack. Er konnte zwar seine Füße auf den Boden stellen, doch sein eigenes Gewicht nicht aufrecht halten. Ohne Hilfe würde er sofort zusammenbrechen. Sein Atem stockte bereits und war von einigen Hustern durchzogen.

„Geht’s?“ fragte Seto und legte den freien Arm um seine Hüfte. Wobei er darauf achtete, nicht die empfindlichen Kiemen zu berühren, welche sich nicht so schnell schlossen. „Wenn du nicht atmen kannst, versuchen wir es später noch mal.“

„Hnheihn“ atmete er tief. Er hielt sich aufrecht so gut er konnte. „Dhas Whassher sthinkth.“

„Da sagst du was.“

„Findet ihr?“ Nika schnüffelte in die Luft, doch es roch ganz normal nach salzigem Meerwasser und okay, einem kleinen bisschen Fisch. Doch lange nicht mehr so schlimm wie vor dem Anwendung des Antidots. Der angebliche Gestank stach wohl nur noch in empfindlicheren Nasen.

„Ich gehe vor. Du passt auf, dass er dir nicht aus dem Arm rutscht.“ Seto trat den Weg die Treppe hinunter an und stützte den schweren Körper. Nika trug dadurch weniger Gewicht und passte mehr auf, dass ihre teure Fracht nicht herunterfiel. Gemeinsam hievten sie ihn langsam aber dafür sicher die Stahltreppen bis in die Halle, wo Amun-Re bereits mit Handtüchern wartete.

„Damit du nicht frierst.“ Und schon hängte er Sethos das große Tuch über. Doch der schien ganz andere Probleme zu haben. Er würgte, verkrampfte seinen Bauch und atmete, presste die Lippen zusammen. Er kämpfte mit einem starken Brechreiz, der seinen Körper schüttelte. „Alles in Ordnung, Darling? Kann ich etwas für dich tun? Brauchst du etwas? Eraseus, was hat er?“

„Es ist der Gestank. Das Wasser riecht furchtbar. Nach Verwesung“ antwortete er und griff etwas kräftiger um den würgenden Körper. „Nikolas, lass ihn los. Ich kann ihn allein halten.“

„Aber …“ Doch sie rief sich ins Gedächtnis, dass Seto schon wusste, was er tat. Er war der einzige, der wirklich wusste, was Sethos brauchte. Also ließ sie ihn los und Seto lehnte den nassen Drachen gegen sich, hielt ihn allein fest. Sicher könnte er ihn auch wie eine Prinzessin auf dem Arm tragen, doch das würde Sethos nicht wollen. Es war bereits demütigend genug, dass er sich an Land nicht selbstständig bewegen konnte.

„Wir gehen den schlechten Geruch abduschen. Dann geht es dir gleich besser.“

Sethos nickte und ließ sich von Seto zu einer seitlichen Tür schleifen. Diese führte zu einem Waschraum mit einer Mehrpersonendusche. Für gewöhnlich wuschen sich hier die Algentaucher das Salz von den Neoprenanzügen, aber nun standen Pflegeartikel um die Waschbecken, es hingen Handtücher herum und sogar eine Duschbrause war installiert. Man hatte sich hier so gut es ging eingerichtet.

„Ich dachte mir, vielleicht braucht ihr den.“ Tristan erschien einige Sekunden später mit einem schlichten Plastikstuhl und stellte ihn in die Mitte der drei Duschen. Stehen konnte Sethos nicht und ihn auf den Boden zu legen, wäre ihm auch nicht angenehm. „Ich hatte mal eine Oma, die war pflegebedürftig und die hat auch immer einen Hocker in der Dusche gehabt“ erklärte er auf das wundernde Schweigen.

„Ist okay. Danke.“ Seto setzte Sethos vorsichtig ab, Amun-Re hielt ihn an den Schultern gerade bis sein Liebster wieder zu Atem kam.

„Ist doch in Ordnung für dich, wenn ich hier bleibe, oder?“

Wieder nickte er und wehrte sich nicht. Es blieb ihm ja nichts anderes übrig, wenn er den üblen Verwesungsgestank loswerden wollte.

„Okay, wir gehen dann“ meinte Tristan und ließ die beiden mit dem bangenden Amun-Re allein. „Wenn ihr Hilfe braucht, dann ruft ihr einfach.“

„Machen wir. Bitte mach die Tür zu.“

Tristan schloss die Tür wie gewünscht, aber möglichst leise. Seto zog sich die Schuhe und die Strümpfe aus, dann das Hemd um nicht ganz nass zu werden. Amun-Re lief ohnehin in Latschen herum, die er problemlos in die Ecke kickte. Dann knieten sich beide zu Sethos, der schlaff auf seinem Stuhl hing und immer jemanden brauchte, der ihn festhielt und nicht vom Stuhl kippen ließ.

Seto griff die Duschbrause und wärmte das Wasser an, damit es angenehm war. Amun-Re verteilte vorsichtig etwas Duschgel auf den knochigen Schultern und ließ sich von Seto das Shampoo reichen.

„Eraseus, wir müssen aufpassen, dass keine Seife in seine Kiemen kommt“ bat er und massierte mit sanften Händen sein langes Haar von der Kopfhaut herab.

„Schon okay. Wir sind vorsichtig.“

„Und du machst dich bemerkbar, wenn du Schmerzen hast“ sagte Amun-Re mit ernster Stimme. „Keine falsche Tapferkeit. Ja?“

„Jha dhoch“ seufzte er und versuchte seinen Arm zu heben. Doch er schaffte es gerade bis zum Bauch, bevor er aufgeben musste. An Land war sein Körper einfach zu schwer. Er schloss seine Augen und versuchte nur tief zu atmen. Nicht aus Genuss, sondern eher weil ihm das hier sehr unangenehm war. Dass sich ein stolzes und erhabenes Wesen wie er waschen lassen musste - nicht wollte, sondern musste - das nagte an seinem gekränkten Ego.

„Du kannst stolz sein, dass du überhaupt überlebt hast“ meinte Seto und löste das stinkende Lendentuch. „Amun-Re.“

„Ja, wir tauschen.“ Diese Stellen sollte doch lieber jemand übernehmen, der ihn dort schon öfter berührt hatte. Seto übernahm da eher den aufwendigen Job und spülte sein Haar durch bis es wieder einen schönen Duft annahm. Sein sonst seidig glänzendes und festes Haar war nun zerrupft und stumpf. Der Kampf und das ätzende Gift hatte ihm teilweise einen ganzen Meter Strähnen herausgetrennt, sogar ganze Büschel waren herausgerissen oder einfach ausgefallen. Am Hinterkopf prangte eine Wunde, welche mit zarter, rosaner Haut überzogen war. Dort würde so schnell wohl gar kein Haar mehr wachsen.

Und Sethos verharrte bewegungslos auf dem Plastikstuhl, während die anderen beiden ihn behutsam wuschen und den Gestank der Verwesung fortnahmen. Seine Würde konnte er heute nicht mehr wiederherstellen und wohl auch in den nächsten Tagen nicht.

„Es ist das erste Mal seit Jahrtausenden, dass du so schwach bist“ sprach Amun-Re mit sanfter Stimme und schäumte die langen, geschundenen Beine. „Nicht seit …“

„Hich wheiß“ atmete er und hielt den Kopf gesenkt. Als sein Vater ihn verflucht hatte, war es ihm ähnlich schlecht gegangen. Seitdem waren seine Ohren empfindsam, weil er die Worte seines Vaters nicht gehört hatte. Seitdem waren seine Knöchel verletzlich, weil er seinem Vater davongelaufen war. Seitdem war seine Brust ein großer, wunder Punkt, weil sein Herz seinen Schöpfer betrog.

Und insgeheim zweifelte er daran, ob sein Vater ihn auch ohne Gegenleistung errettet hätte. Er ahnte, ohne Amun-Res Opfer wäre er auf unwürdigste Weise verendet. Er wollte ihm so gern sagen, dass er ihn liebte, dass er dankbar war, doch seine Lungen waren zu schwach und eine schwere Schwärze senkte sich in diesem Augenblick über ihn …
 


 

Chapter 24
 

Es vergingen ein paar Tage, die glücklicherweise sehr ereignislos waren. Sethos war langsam wieder ansprechbar, Seto machte sich im Büro nützlich, die Kinder gingen in den Kindergarten, die Frauen hatten ein neues Hobby: Babysachen shoppen, Yami schleppte den armen Finn auf jede Party, die im Blekinger Tageblatt angekündigt wurde und auch der Rest genoss den Sommer auf seine Weise.

Nur für eine hielten die nächsten Stunden einen Genuss deluxe bereit.

Die Überraschung war groß als ein Kuriertransporter vor dem Hotel hielt. Es war Nachmittag und eigentlich empfing Hannes seine Ware eher nach dem Frühstück, wenn nur wenige Gäste das Restaurant besuchten . Doch um diese Uhrzeit war die Gaststätte zur Eis- und Kuchensaison gut besucht und die Truppe hatte bereits vor zwei Stunden die besten Plätze auf der Terrasse besetzt. Mal ganz davon abgesehen, dass dieser Kurier eher nach Post- als nach Großmarktlieferant aussah.

Noch größer war die Überraschung, als der Liefermann mit einem sperrigen, flachen Paket, welches ein wenig aussah wie die Schachtel einer Familienpizza, gezielt auf die Gäste zuging und ins Blaue fragte: „Mrs. Gardener?“

„Ich?“ Tea bekam Ware? Sie legte Dakar bauchlängs auf ihren Arm und stand auf, um sich zu melden. „Ich habe aber gar nichts bestellt“ sagte sie verwirrt als der Kurier das Paket auf den Tisch legte und einen kleines Computerpad aus der Umhängetasche seines Gürtels zog.

„Ist bereits alles bezahlt“ antwortete er und hielt ihr einen Plastikstick und das Display hin. „Wenn Sie bitte hier unterschreiben?“

„Vom wem kommt denn das?“ Wenigstens das hatte sie von ihrer Mutter, der Rechtsanwältin, gelernt: Unterschreibe niemals, wenn du nicht genau weißt, was die Folgen sein werden.

„Georginnia de Feveren“ las Narla neugierig auf dem Paket, welches ungewöhnlich hochwertig aufgemacht war. Also eine Familienpizza für Superreiche. Dicker, dunkelblauer Riffelkarton und eine beschriftete Goldschleife. So etwas konnte man wirklich nicht mit schnöder Post schicken.

„Das ist der Modeladen in der Stadt“ erklärte Marie sofort. „Tea, da sind wir neulich noch dran vorbei gegangen. Als wir Babysachen kaufen waren.“

„Ach, der.“ Jetzt dämmerte es ihr. „Aber wir waren nicht mal drin. Warum bekomme ich jetzt ein Paket von da?“

„Gute Frau“ bat der Kurier und blickte kritisch auf seine Uhr. „Unterschreiben Sie doch einfach und wenn es eine Falschlieferung ist, senden Sie es danach wieder zurück.“ Er musste noch weiter, Zeit war Geld.

„Na gut.“ Sie unterschrieb also auf dem Pad und wünschte dem Kurier einen schönen Tag, bevor sie sich der unbekannten Sendung zuwandte.

„Was ist da drin?“ nervte Yami und untersuchte bereits neugierig die dicke Schleife mit der eingestickten Schrift. Er schüttelte es und horchte aufmerksam. „Es tickt nicht, also ist es keine Briefbombe. Vielleicht sexy Unterwäsche.“

„Unsinn, wer sollte mir denn Unterwäsche schicken?“ Sie gab Dakar direkt an Marie zur Aufbewahrung und machte sich daran, das Band zu lösen. Schnell hatte sie auch den feinen Karton gelüpft und atmete tief ein. „Das gibt’s doch nicht.“

„Was denn? TEA!“ Yami hasste es, wenn er nicht sofort aufgeklärt wurde! Rätsel konnte er einfach nicht ungelöst lassen.

Sie legte den Deckel zur Seite und hob mit aller Vorsicht ein Kleid heraus. Es war aus königsblauer Seide und schlug am Saum elegante Wellen. Arm- und rückenfrei und an der Brust enger genäht. Sicher nicht gerade ein Werbegeschenk.

„Mrs. Gardener. Ich noch mal.“ Da war der Kurier schon wieder da, bevor er überhaupt mit dem Lieferwagen wegfahren konnte. Und er und stellte ihr noch einen Karton auf den Tisch. Doch dieses Mal kleiner, dafür höher. Die passende Ladung Muffins zur Familienpizza. „Wenn Sie hier noch mal unterschreiben würden?“

Wortlos, aber mit großen Augen legte sie das Kleid zurück und unterschrieb ihm auch den zweiten Teil. „Sie wissen nicht zufällig, warum ich ein Kleid geliefert bekomme?“

„Nein, nicht wirklich.“ Er tippte auf seinem Display herum, aber schien selbst ahnungslos. „Ich habe nur Anweisung, Ihnen das persönlich zu übergeben. Und zwar zwischen halb drei und vier Uhr. Und den Hinweis, dass Sie wahrscheinlich auf der Terrasse sitzen. Die Versandkosten werden dem Absender berechnet.“

„Aha …“ Nicht wirklich aufschlussreich. „Wer ist denn der Absender?“

„Gute Frau, wenn Sie Probleme haben, rufen Sie einfach die Nummer auf der Rückseite an“ sagte er und gab ihr einen Zettel. „Dann komme ich heute Abend noch mal und hole die Sachen wieder ab. Kostenfrei natürlich.“

„Okay … danke.“

„Tea, mach auf!“ Aufgeregt hielt Yami ihr das zweite Päckchen hin, doch bemerkte bei einem Seitenblick: „Yugi, was grinst du so hämisch?“

„Nichts“ schmunzelte er und spielte verräterisch an seinem Strohhalm. „Mach auf, Tea.“

„Ist das von dir?“

„Yugi schenkt dir Unterwäsche?“

„Yami“ guckten sie ihn beide mahnend an. Er übertrieb es mal wieder.

„Yugi, ist das Paket jetzt von dir?“

„Quatsch. Warum sollte ich dir Klamotten schenken?“

„Aber du hast vorhin schon sehr darauf bestanden, dass wir hier sitzen und nicht spazieren gehen.“

„Zufall.“

„TEA!“

„Ja doch! Wir hören dich, Yami.“ Sie gab dem Drängeln nach und löste auch die zweite, goldene Schleife, öffnete den Karton und zum Vorschein kam keine Unterwäsche, sondern ein Paar Schnürschuhe aus derselben, tiefblauen Seide, lange Bänder, eine silberne Schnalle und recht breite, hohe Absätze.

„Das sind Tanzschuhe!“ staunte sie mit offenem Mund. Ein Kleid und Tanzschuhe? Aus dem Nichts heraus? „Seit wann stellen Boutiquen Tanzschuhe her?“

„Tea, schau mal“ zeigte Mokuba und zog einen Umschlag unter dem Schuhkarton hervor. „Eine Nachricht.“

„Bestimmt die Rechnung … ich bin ruiniert“ fürchtete sie, aber traute sich trotzdem. Sie brach das altmodische Wachssiegel und entfaltete einen Bogen aus dickem Büttenpapier. Darauf geschrieben mit blauer Tinte und einer elegant geschwungenen Handschrift.

„Lies vor, wer ist dein Verehrer?“ bettelte Yami, der es gleich nicht mehr aushielt.

„Liebste Tea“ las sie, auch wenn sie selbst die Worte kaum hörte. „Seit ich dieses Kleid an dir sah, verfolgt mich dieses Bild und die Rastlosigkeit danach, deinen Wunsch in diese Welt zu holen. Deshalb bist du sehr herzlich gebeten, dieses Kleid anzuprobieren und mir den heutigen Abend zu schenken. Ich werde dich um 18 Uhr abholen und hoffe auf die Erlaubnis, dich entführen und die neuen Schuhe mit dir durchtanzen zu dürfen. In Liebe, Seto.“

„Du hast das gewusst“ unterstellte Yami dem grinsenden Yugi. Natürlich hatte der das gewusst! Seto tat doch kaum etwas ohne seine Einwilligung. „Rück raus, Yugi, was hat er mit Tea vor?“

„Der Mittsommerball!“ rief Tea, welche in diesem Moment zwei Karten aus einer kleinen Tasche des Büttenpapiers gelöst hatte. „Oh mein Gott!“

„Amun ist im Aquarium“ meldete Yami sich fröhlich.

„Er hat Karten für den Mittsommerball besorgt“ atmete Tea und musste sich auf den Schock erst mal setzen. Ungläubig blickte sie das durchgestanzte Papier an, das teure Seidenkleid und die hochwertigen Tanzschuhe. Das hatte Seto alles vorbereitet. „Will er da etwa mit mir hin?“

„Bestimmt nicht“ meinte Marie kopfschüttelnd. „Er kauft dir ein Kleid und Schuhe und besorgt Karten. Ich bin mir sicher, er will sich nur die Fernsehübertragung angucken.“

„Aber woher hat er das gewusst?“ Natürlich wollte sie hin! So gern! Dieses Jahr fand der Benefiz-Ball in Oslo statt und man konnte daher besonders in Norwegen den Ankündigungen in den Boulevardblättern, den Fernsehberichten und den Radiodurchsagen kaum entkommen. Es gab ein Konzert, feinste Speisen und Getränke, herausgeputzte Leute, eine Menge Prominenz und vor allem viel Livemusik und Tanz, Tanz, Tanz. Dieser Spenden-Event hatte die prominente Besetzung der Filmfestspiele in Cannes und den Charakter des Wiener Opernballs. Natürlich wollte sie dort hin. Aber das Fragen hätte sich gar nicht gelohnt. Sie hatte kein Kleid, keine Schuhe und keinen Begleiter. Davon abgesehen, dass es so gut wie unmöglich war, Karten für dieses Ereignis zu bekommen. Die VIP-Gäste wurden schon ein bis zwei Jahre vorher eingeladen und die Restkarten für diesen Event kosteten ein halbes Vermögen - und waren selbst dann nur über Beziehungen zu ersteigern. Normalverbraucher waren auf dieser hochtrabenden Veranstaltung nicht erwünscht. „Woher … woher … was denkt er sich nur dabei?“

„Wahrscheinlich hast eher du gedacht“ tippte Yugi an seinen Kopf. „Und das anscheinend auch ziemlich laut.“

„Ja, er hat ja geschrieben, dass er das Kleid an dir sah“ kombinierte Yamis helles Köpfchen. „Wenn du daran gedacht hast, hat er den Gedanken aufgefangen. Bei Seto musst du mit solchen Wünschen aufpassen.“

„Er wusste, dass ich da hin will. Schon als kleines Kind wollte ich da hin“ sprach sie ungläubig aus und sah Yugi an. „Aber Yugi, das ist … wie ist er da rangekommen? Die billigsten Plätze starten bei 5000 Dollar und sind alle ausverkauft, obwohl du damit nicht mal auf die Tanzfläche oder ans Büffet darfst. Aber das hier“ zeigte sie die beiden Karten. „Das sind Karten erster Wahl. ERSTE WAHL! Damit darfst du sogar in den Musiksaal und hast einen eigenen Tisch im Gesellschaftsraum! Da kommen nur Megafunktionäre und A-Promis ran.“

„Tea“ lächelte Yugi vielsagend. Wenn man ihn jeden Tag erlebte, vergaß man schnell, dass Seto sowohl ein A-Promi als auch ein Megafunktionär war. „Das ist ein Geschenk von Seto. Mach ihm doch die Freude und geh da mit ihm hin. Wenn er sich das Streichkonzert nicht live anhören kann, heult er mir nur die Ohren voll. Außerdem gehen die Erlöse an einen wohltätigen Zweck und du weißt wie sehr Seto auf wohltätige Zwecke abfährt.“

„Außerdem sollen da jede Menge Promis sein“ ermutigte Nika. „Sogar George Clooney und Claudia Schiffer! Vielleicht sogar Landespräsidenten und richtige Adlige. Da mischt sich die High Society aus den USA und aus Europa sowieso. So viele hübsche und wichtige Menschen findest du nie wieder auf einem Haufen.“

„Ich weiß“ stotterte sie und sah ungläubig die Karten an. „Mein Kindermädchen hat früher jedes Jahr die Live-Übertragungen mit mir angeschaut. Sogar mitten in der Nacht, sodass ich am nächsten Tag ausnahmsweise zuhause bleiben durfte. Sie sagte immer, dass ist eine Traumwelt mit Glitzer und Glammer und wer dorthin geht, der hat’s echt geschafft.“

„Du solltest nur rechtzeitig fertig sein, sonst schaffst du es nicht“ half der alte Tato ernst nach. „Mit dem Flugzeug brauchst du mehr als zwei Stunden bis nach Oslo und wer zu spät kommt, trifft auf dem roten Teppich nur noch den Staubsaugermann.“

„Mir wird gerade ganz schwindelig.“ Sie wurde tatsächlich ziemlich blass. Mit einem Schlag war sie von der Milchkuh zur Königin befördert worden.

„Das gibt sich unter der Dusche.“ Marie erhob sich, wobei sie ihren Bauch eher stemmen musste als ihn tragen zu können. Mit Zwillingen unterm Herzen hatte sie im siebten Monat das zu schleppen, was andere Mütter im zehnten Monat hätten. Das ging an sämtliche Kräfte. Trotzdem schaffte sie es, Tea aus ihrer Schockstarre zu lösen, Dakar zu Phoenix zu geben, bevor sie die Paralysierte hinein schob.

„Wartet! Ich komme auch mit!“ Und Nika trug ihr dann noch Kleid und Schuhe nach.

„Aber wer holt denn die Kinder ab?“ sorgte Tea sich. Noch immer ungläubig gegenüber dieses unverschämten Glücks.

„Die hole ich ab“ rief Yugi ihr nach, bevor sie in der Gaststätte verschwand. „Yami und ich machen den Babysitter!“

„Ach, machen wir?“ guckte der ihn überrascht an. „Ich dachte, jetzt wo Seto den Abend weg ist, muss ich dich ein bisschen trösten.“

„Du kannst mich trösten, wenn die Kleinen im Bett sind“ zwinkerte er ihm zweideutig zu.

„Auf meine Töchter kann ich immer noch selbst aufpassen“ meinte Mokeph und zündete sich beleidigt eine Zigarette an.

„Das war auch mehr nur ein Witz“ entgegnete Yami ebenso ernst. „Ich habe meinen Abend schon mit Finn auf mir obendrauf verplant.“

„Geht’s dir gut?“ horchte nun auch Mokuba auf. „Du guckst so mürrisch.“

„Ich gucke nicht mürrisch“ seufzte er und ließ den Kopf hängen. „Warum bin ich nicht auf die Idee gekommen, ihr Karten zu besorgen?“

„Wahrscheinlich aus verschiedenen Gründen“ tröstete Mokuba. „Allem voran wahrscheinlich, weil du kein Gedankenhörer bist.“

„Dafür muss man doch wohl keine Gedanken hören können“ schimpfte er mit sich selbst und gestikulierte mit fahriger Hand. „Tea liebt tanzen und guckt sich jedes Jahr die Übertragung dieses komischen Spendenballs im Fernsehen an. Und ich habe sie seit Monaten nicht mehr ausgeführt. Unter deinem Namen hätte ich garantiert Karten bekommen. Als Kaiba bekommt man überall Karten!“

„Aber du hättest garantiert das falsche Kleid gekauft“ versuchte Mokuba es weiter.

„Umso trauriger, dass fremde Männer die Größe meiner Frau besser kennen als ich.“

„Und du bist nicht ihr Tanzpartner“ tröstete er unvermindert. „Seto und Tea haben schon zusammen getanzt, bevor du überhaupt hier warst.“

„Ich hätte aber rechtzeitig Stunden nehmen können. Ein ganz toller Ehemann bin ich.“ Verzagt atmete er den Tabakrauch ein und ärgerte sich für sich selbst. Es wäre so einfach gewesen, Tea diese Freude zu machen. Aber nein, da brauchte es Seto, um sie zu überraschen. Traurig.

„Dir fällt bestimmt was anderes ein, womit du ihr eine Freude machen kannst“ baute Mokuba ihn auf und schob den Aschenbecher in seine Richtung. „Gib nicht auf, sie liebt dich doch eigentlich.“

„Nur, dass sie mich mit dem Arsch nicht anguckt“ meinte er traurig. „Vor den Kindern zeigt sie es nicht so, aber sie meidet jeglichen Kontakt mit mir. Sie fehlt mir, aber ihr ist das völlig egal. Geschieht mir recht.“

„Mokeph.“

„Und da müssen andere Männer kommen und sie ausführen. Wie tief bin ich gesunken, dass ich das nicht mehr selbst hinbekomme?“

„Du kannst aber nicht eifersüchtig auf Seto sein“ meinte Tristan. „Mit dem kann keiner von uns mithalten.“

„Da muss ich ihm zustimmen“ meinte auch Mokuba. „Wenn mein großer Bruder den Galan-Modus einlegt, kann sogar Noah einpacken. Und der ist immerhin schon Galan von Gottes Gnaden.“

„Absolut begnadigt“ nickte Yami fröhlich, aber das entlockte nur dem Rest nur ein leises Seufzen. Seine Scherze waren auch schon mal besser gewesen.

„Es nutzt nichts“ erwiderte Mokeph vollends entmutigt. „Ich verliere sie mit jedem Tag mehr … letztlich habe ich ihr nie etwas geboten. Sie ist eine tolle Frau mit großen Träumen und stattdessen gibt sie alles auf und bekommt meine Kinder … ich bin so ein Idiot …“ Da half es auch nichts, wenn er die Zigarette im Aschenbecher verstümmelte. Die konnte da ja nun wirklich als letzte etwas für.
 

Pünktlich um kurz vor sechs Uhr am Abend fuhr auch Seto vor. Eine lange, weißsilberne Cabrio-Limousine hielt vor der Gaststätte und aus der hinteren Tür stieg er selbst. Er hatte sich sichtlich auf den Abend vorbereitet und trug neue, schwarze Lederschuhe -pardon, KUNSTlederschuhe -, eine Hüfthose aus Stoff, welche ebenso königsblau gefärbt war wie Teas sommerliches Ballkleid. Dazu ein langärmliges, weißes Hemd aus Seide mit dunkelblauer Weste, welche seine männlichen Umrisse heraushob und ihm eine elegant schmale Hüfte verlieh. Ebenso verzichtete seine Garderobe auf überladene Zier wie Nähte oder Taschen. Beim Näherkommen erkannte man nur am Kragen und den Manschetten eine silbern aufgestickte Reihe von dornigen Rosenranken. Auch entgegen dem Modestandard war das Hemd leicht geöffnet und hochgekrempelt. Immerhin war es selbst in der Nacht noch weit über 20 Grad und es war schon eine Überwindung, dass er mehr als zwei Schichten Kleidung trug.

Zum Glück hatte sie sich ein blaues Kleid ausgeguckt und kein gelbes, sodass das mit dem Partnerlook gut ging. Über seine Kleidung hinaus verriet aus der Ferne auch schon die Rolex an seinem rechten Handgelenk, dass er zu den Besserverdienern zählte. Das schlanke Armband, welches Yugi ihm zu seiner Priesterweihe geschenkt hatte, wirkte dagegen fast unauffällig, obwohl es doch für Wissende die wahre Kostbarkeit darstellte.

„N’Abend“ grüßte er in die Allgemeinheit, während er sich zu Yugi herabbeugte und ihn küsste. Nebenbei legte er den flachen, viereckigen Kasten aus schwarzem Holz, welchen er mit sich trug, auf dem Tisch ab.

„Na?“ lächelte Yugi ihn verliebt an. „Du siehst umwerfend aus, Liebling. Und du, hmmmm, du riechst gut.“

„Dankeschön“ lächelte er zurück. „Und? Hat sie sich gefreut?“

„Sie wäre fast in Ohnmacht gefallen. Aber sie ist gleich nach oben gegangen und Marie hilft ihr, sich fertig zu machen.“

„Ich gucke schnell, wie weit sie ist“ meinte Sareth und flitzte hoch, um bescheid zu sagen, dass ihr Begleiter eingetroffen war.

„Deines, oder?“ Seto griff sich zielsicher Yugis Glas und leerte das kühle Wasser in einem Zug. Es war definitiv zu warm für ihn.

„Ich glaube, du hast voll ins Schwarze getroffen“ meinte Mokeph leise. „Ich habe Tea lange nicht mehr so aufgeregt gesehen.“

„Sie war ja auch lange nicht mehr tanzen“ erwiderte Seto. „Eigentlich habe ich auch gar keine Lust, mir diesen Promi-Quatsch anzutun, aber …“

„Und warum tust du es dann?“ Er wusste nicht, ob er Seto nun dankbar sein sollte, dass er seine Frau beglückte oder ob er ihn zum Faustkampf auffordern wollte.

„Weil sie sich in diesem blauen Kleid auf der Tanzfläche sieht. Dieses Bild steht seit Tagen in der Luft“ entgegnete er mit ruhigem Ton. „Und weil ich neulich Nacht von ihr geträumt habe, muss ich jetzt mit ihr ausgehen.“

„Du träumst also von meiner Frau, ja?“

„Nur für den Fall, dass du es zwischen Schuldgefühlen und Babywindeln vergessen hast“ biss er spitz zurück. „Tea ist eine klasse Frau mit Grips und Stil. Und einen Mann, der mehr an sich selbst als an sie denkt, hat sie definitiv nicht verdient. Sie opfert sich schon genug für uns alle auf. Und wenn du sie nicht aus ihrer Lethargie holst, tue ich das mit Handkuss. Denn ich liebe sie und im Gegensatz zu dir, scheue ich mich nicht, ihr das auch zu zeigen. Und zwar aus echter Liebe und nicht wegen gekränktem Stolz.“ Punkt, der Drache hatte gesprochen. „Also mach mich nicht dumm von der Seite an, okay?“

Mokeph schwieg und das im passenden Moment, denn wer da eben auf die Terrasse trat, war nicht eine Mama im Jogginganzug wie in den letzten Tagen, sondern eine wahre Königin. Sie trug das lange Kleid, welches Seto ihr geschenkt hatte. Es betonte ihre volle Oberweite und floss locker bis zu den Knöcheln, welche von den Seidenbändern der Tanzschuhe umwickelt waren. Ein Traum in dunkelblau. Ihr Haar trug sie hochgesteckt und Marie hatte es kunstvoll mit vielen, kleinen Strähnen verflochten, sodass es elegant aussah und nicht auseinander fiel. Die passende Handtasche aus weißem Kunstleder hatte der Kurier beim dritten Mal dann auch nachgeliefert und so sah sie tatsächlich strahlend schön aus. Da staunte ein jeder, dass sie auch nach zwei Kindern und einem zu stillenden noch immer so begehrenswert wirken konnte. Ja, sie sah nun wirklich wie eine echte Königin aus. So sehr, dass Mokeph sich schamvoll abwandte.

„Hi Seto“ lächelte sie etwas beschämt darüber, dass sie auch von den Fremden im Restaurant so angesehen wurde. „Danke für das Kleid. Und die Schuhe.“

„Du siehst fantastisch aus“ erwiderte er, reichte ihr die Hand und küsste sie standesgemäß. „Du bist wunderschön, Tea.“

„Nur weil du es ausgesucht hast“ meinte sie und strich über ihre Taille. „Meine Hüften sind nicht mehr das, was sie früher waren. Eine Nummer kleiner und ich sehe aus wie eine Presswurst.“

„Rede keinen Quatsch.“ Das wollte er gar nicht hören. Er trat hinter sie, legte sein Kinn auf ihre Schulter und strich mit den kalten Händen über die warme Seide an ihrer Taille. „Deine Hüften sind Weltklasse. Genau wie eine Frau sein soll.“

„Ach, Seto.“ Das war doch wirklich ein Traum. Er war so lieb und Komplimente hatte sie auch seit langer Zeit nicht mehr bekommen. Das war Setos, wie nannte Mokuba es so schön, Galan-Modus. Er konnte Komplimente machen und Frauen anfassen, ohne dabei billig oder schleimig zu werden. Täte ein anderer Mann das, würde der wahrscheinlich einen Preis für den schmierigsten Baggerspruch bekommen. Der Unterschied war einfach der, dass Seto meinte, was er sagte.

„Aber eine Sache haben wir noch offen, beziehungsweise zu öffnen“ sprach er dann, griff um sie herum und nahm den Holzkasten vom Tisch, um ihn ihr zu geben.

„Für mich?“

„Für dich.“

Sie nahm den Kasten, doch er war so schwer, dass sie ihn gleich wieder auf dem Tisch abstellen musste. „Meine Güte, hast du da Wackersteine drin?“

„Ich bin das Geißlein, nicht der böse Wolf.“

Dann erst öffnete sie das Scharnier, hob den Deckel ein Stück an, doch kaum hatte sie einen Blick erheischt, knallte sie ihn gleich wieder zu.

„Seto! Das ist nicht dein Ernst!“

„So schlimm?“ guckte er besorgt von der Seite um sie herum. „Du hast doch neulich noch überlegt, wie sich das wohl anfühlt.“

„Das ist … SETO! Das liegt doch im tiefsten Russland unter Panzerglas! Wie hast du DAS denn geliehen gekriegt?“

„Doch nicht geliehen“ echauffierte er sich und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Das russische Volksmuseum hat sich gegen eine Spende so sehr gefreut, dass sie es mir quasi aufgedrängt haben.“

„Du hast …“ Geschockt drehte sie sich herum und begann zu zittern. „Du hast das nicht echt gekauft. Bitte sag mir, dass du das nicht gemacht hast.“

„Dann sage ich es dir nicht“ meinte er und setzte sein schönstes Lächeln auf, sodass sie einfach weich werden musste. „Du hast es verdient, alles geschenkt zu bekommen, was du dir wünschst.“

„Ich habe mir das nicht gewünscht. Ich habe … du hast sie doch nicht alle … Seto, du hast einen Schaden!“

„Das sagt mein Psychiater auch immer. Darf ich?“

„Was ist denn das?“ wollte jetzt auch Sareth endlich wissen, aber als Seto den Holzkasten öffnete, verstand sie, weshalb es Tea die Sprache verschlug.

Darin lagen funkelnde Diamanten von unschätzbarem Wert. Allerfeinst geschliffen und eingesetzt in glänzendes Silber. Geformt zu einem Diadem, einem Collier, zwei Ohrringen, einem Ring, zwei Armbändern, einer Brosche und einem Armreif. Alle in derselben, kunstvollen Art. Die Diamanten waren wie gefrorene Rosenblüten und die Silberverbindungen wie Reif auf den Blättern. Doch die wenigen, allerfeinsten Dornen der Rosen waren aus dunkelblauen Saphirsplittern und in der Mitte eine schüchterne Rosenblüte aus zierlichsten Diamanten. In allem brach sich die Sonne und reflektierte zurück wie millionen Prismen.

„Das haben wir neulich im Fernsehen gesehen!“ erkannte Sareth sofort und ließ den Mund offen stehen. „Der Schmuck hat seit Generationen der Zarin gehört, bevor er ins russische Staatsmuseum übergegangen ist. Und angefertigt wurde er angeblich damals von einem Liebhaber für Katharina die Große. Das sind die Eisrosen des russischen Herzens. Die komplette Sammlung!“

„Das hast du gekauft?“ Jetzt wurde sogar Mokuba stutzig. „Großer, wie teuer war das?“

„Über Geld spricht man nicht“ meinte er und war schon dabei, der zitternden Tea ihre dagegen jämmerliche Silberkette abzunehmen.

„Nein ehrlich, Seto“ hauchte sie den Tränen nahe. „Das kann ich nicht tragen.“

„Aber du hast dich neulich gefragt, wie sich so ein Collier auf der Haut anfühlt. Ob es wohl sehr schwer wäre …“

„Aber so etwas leiht man sich. Wenn überhaupt. Das kauft man nicht. Besonders nicht aus dem russischen Staatsschatz. Das ist ein Museumsstück.“

„Weiß doch niemand, dass ich es gekauft habe. Offiziell sagt man nur, dass es sich ab sofort in Privatbesitz befindet.“

„Warte!“ Bevor sie sich nun auch die Ohrringe abnehmen ließ, trat sie einen Schritt weg und sah ihn verunsichert an. „Wie viel hast du dafür bezahlt?“

„Ist doch nicht wichtig. Es steht dir sicher ganz …“

„Seto, wie viel?“ wollte sie endlich wissen. „Mehr oder weniger als eine Million?“

„Rubel?“

„Seto! Dollar natürlich. Harte US-Dollar. Eine Million Dollar?“

„Tea …“

„Seto! Mehr oder weniger als eine Million?“

„Mehr.“

Uff! Mehr? „Zwei Millionen?“ das wollte sie jetzt unbedingt wissen.

„Mehr“ antwortete er und beugte sich zu ihr. „Die Steine haben nicht so viel Wert wie ich bezahlt habe, nur der geschichtliche Wert ist enorm. Doch wenn du mich fragst, verleihst du den Steinen mehr Wert als jede Zarin der Geschichte es könnte. Auch mehr als Katharina die Große.“

„So ein Unsinn!“

„Kein Unsinn.“ Er senkte seine Stimme, strich ihr über den Hals und legte seine Stirn an ihre. „Du bist die erste Frau, die mich gut behandelt hat. Alle Schmuckstücke der Welt können gar nicht sichtbar machen, wie sehr ich dich liebe.“

„Aber Seto … das geht zu weit.“ Abgesehen davon, dass gleich Tränen kullerten.

„Bitte beleidige mich nicht, indem du das Geschenk ablehnst. Ich hoffte, du würdest dich ein bisschen freuen.“

„Ich freue mich mehr als gut für mich ist … aber Seto. Nur weil ich mal was bewundere, was im Fernsehen gezeigt wird, heißt das nicht, dass du mir das sofort schenken sollst. Das ist … das ist nicht normal.“

„Was ist schon normal?“ Er lächelte sie an und bat auf charmanteste Art um ihre Zustimmung. „Wie teuer es war oder wo es herkommt, ist doch unwichtig. Wichtig ist allein, dass es einen persönlichen Wert für dich hat. Und ich hoffe, dass du dich freust. Oder lag ich so falsch?“

„Nein … natürlich freue ich mich …“

„Und ich mich auch. Wo ist nun das Problem?“

„Tea“ unterbrach Mokuba freundlich und schüttelte vielsagend den Kopf. „Du weißt doch, dass diskutieren mit Seto zu nichts führt.“

„Das kann ich aber nie wiedergutmachen“ atmete sie und hielt nur mit Mühe die Tränen zurück, die aus ihrer Stimme quollen.

„Nein, es ist andersherum.“ Er nahm das Collier und legte es mit sanften, kalten Händen um ihren Hals. „Das hier ist eine Wiedergutmachung an dich. Weil du mit mir so viel mitmachen musstest. Und weil du mich trotz allem immer warmherzig, freundlich und respektvoll behandelst. Und weil du nicht zuletzt eine der wichtigsten Frauen in meinem Leben bist.“

„Seto …“
 


 

Chapter 25
 

Es hätte ein Traum sein müssen, wenn nur nicht die Magenschmerzen so real stachen. Innerhalb weniger Stunden fand sie sich in einer anderen Welt wieder. Einer Welt, welche Seto komplett für sie durchgeplant hatte und in welcher jeder Wunsch erfüllt wurde, bevor er überhaupt aufkeimen konnte.

So war Tea von ihm komplett mit einem traumhaften Sommerballkleid und russischen Zarendiamanten ausgestattet worden, bevor er sie in eine luxuriöse Cabriolimousine einlud. Diese schloss zur Schonung ihrer hochgesteckten Frisur natürlich ihr Verdeck. Dann bekam sie erst mal ein Pfefferminzeis und fand sich kurz später in einem von Setos kleineren Privatjets wieder. Klein bedeutete in diesem Falle, dass es ‚nur‘ ein Badezimmer und ein Wohnzimmer gab. Die größeren Jets besaßen Konferenz- und/oder Arbeitsräume neben Schlafzimmern oder für Noah sogar einem Fitnessraum oder für Mokuba ein Air-Cinema. Joey hatte für sich selbst sogar einen ganzen Raum mit 3D-Spielekonsolen einbauen lassen - zu Testzwecken natürlich, damit man es von der Steuer absetzen konnte. Doch Seto übte sich heute in Bescheidenheit. Es war ja auch nur ein kurzer Flug bei bestem Wetter, welcher gerade genug Zeit bot, um Tea die Gästeliste des Mitsommerballs vorzulegen, den Grundriss des Veranstaltungsortes und die Auswahl an Veranstaltungen, wie beispielsweise das Streichkonzert oder eine Auktion. Seto hatte es genau durchgeplant und hoffte auf Teas Zustimmung. Er hätte sonst alles noch mal neu geplant - sie brauchte es nur sagen. Auch wenn sie ihm kaum zuhören konnte, so laut schlug ihr Herz in den Ohren.

Am Flughafen in Oslo angekommen, erwartete sie bereits eine neue Limousine. Die Häuser, Straßen und Menschen flogen an den getönten Scheiben vorbei wie in einem Traum. Es musste ein Traum sein. Seto hielt ihre Hand und beruhigte ihre Dankesgesänge mit sanften Worten und einem Lächeln. Er wusste, dass dies die Verwirklichung eines von Teas innigsten Mädchenträumen war. Ein Mal nur auf den Mitsommerball gehen und abtauchen in eine Welt von Ganz und Glammer.
 

Hatte sie bisher nur nervös an ihrem Kleid genestelt, wurden nun die Knie weich. Der Wagen hielt und beim Hinaussehen blendeten sie bereits helle Blitzlichter und aufgeregtes Gerede. Seto stieg zuerst aus und reichte dann die Hand, um ihr hinaus zu helfen.

Und dann war er da - der rote Teppich.

Er war tatsächlich rot wie in den Filmen. Links und rechts wurden Fotografen und Fans mit Absperrungen auf Distanz gehalten. Die einen hielten kreischend Notizhefte und Stifte hin, die anderen fotografierten als würde ihr Leben davon abhängen. Mikros wurden an langen Stangen möglichst weit nach vorn gehalten, Kameras fingen jede Regung ein und Reporter riefen Namen und Fragen, welche in der Lautstärke untergingen. Es war sogar noch ergreifender als in den Fernsehübertragungen. Und sie saß nicht mit Chips, Eis und Sekt vor dem Bildschirm, sondern lief mit Zarenschmuck und einem großartigen Mann zwischen all denen hindurch, welche nicht zu der gesegneten Gesellschaft gehörten, welche nicht den geheiligten Teppich betreten durften.

Wie in Trance griff sie Setos Arm und ließ sich über das majestätische Rot führen. In dem Blitzlichtgewitter und dem Rufen hörte sie kaum etwas hindurch. Nur Setos Namen hörte sie aus verschiedenen Richtungen heraus. Für gewöhnlich mied er solche Festivitäten und so war es umso mehr ein Ereignis, dass er heute hier erschien. Nur die Fans gingen wie meist ohne Autogramm aus. Wahrscheinlich war er nur froh, wenn er aus der Menge heraus war und niemand mehr seinen Namen kreischte.

Er jedoch schien ganz ruhig, trotz des lauten und hektischen Treibens. Ohne ihn wäre Tea wie eine Betrunkene gewankt, doch er stand fest wie ein Eisberg. Er sah nicht nach links oder rechts und ging gelassenen Schrittes bis zu der großen Tür, welche von mehreren Securitys bewacht wurde. Dort öffnete sich die menschliche Sicherheitssperre und sie traten ein in eine große Empfangshalle.

Sofort wurde der Lärm abgeschirmt. Auf der linken Seite eine lange Garderobe mit adrett gekleidetem Personal. Auf der rechten Seite eine weite Fensterfront mit Parkblick. Dort zwischen den Bäumen und Beeten flanierten einige schick gewandete Gäste und genossen den erröteten Himmel. Der rote Teppich führte weiter geradeaus, wo am Ende drei verschiedene Tore warteten.

Tea wusste gar nicht wo sie zuerst hinsehen sollte, da kam bereits ein Kamerateam auf sie zugelaufen. Ein blonder Mann im Smoking der ein rotes Mikrofron vor sich hertrug. In seinem Gefolge mit dunklen Jeans und weißem Hemd bekleidet eine Kamerafrau und ein Mann mit verrutschter Krawatte, einem radioähnlichen Gerät und einem plüschigen Mikro an einem langen Eisenstab. Doch Tea sah, dass diese hier Ausweise am Revers trugen und nicht von den Securitys aufgehalten wurden. Und aus den Fernsehübertragungen wusste sie, dass dies eines der drei Kamerateams war, welche die offizielle Berichterstattung übernehmen durften.

„Mr. Muto!“ und schon stürmten die drei auf sie zu und liefen neben ihnen her. Der blonde Mann hielt Seto das Mikro hoch und hoffte auf Antworten. „Herzlich willkommen auf dem Mitsommerball.“

„Danke“ murrte er und warf nur einen kurzen, mürrischen Blick auf ihn. Reporter zählten nicht zu seinen besten Freunden. Er und die Presse waren natürliche Feinde.

„Man sieht Sie selten auf Events wie diesen. Wie kommt es, dass Sie nach Ihrer Absage nun doch den Mitsommerball besuchen?“ Der Reporter sprach mit einem starken Akzent, sodass Tea sich bemühen musste, seine merkwürdigen Betonungen überhaupt zu verstehen. Doch Seto schien damit weniger Probleme zu haben.

Er seufzte unmerklich, blieb langsam stehen und stellte sich dieser unvermeidlichen Begegnung. Kühl sah er den blonden Reporter an, der ihn jedoch freundlich anlächelte. „Die Kaiba Corporation verstärkt derzeit ihre Anstrengungen in Nordeuropa und von daher müssen wir auch persönlich im europäischen Raum präsent sein. Der Besuch in Oslo ist daher nur ein kleiner Umweg. Außerdem engagiert sich die Kaiba Corporation schon seit Jahren in sozialen Bereichen und ich hoffe, mit meinem Besuch nicht nur einen persönlichen Standpunkt gegen die Diskriminierung und Unterdrückung von Frauen zu beziehen, sondern auch andere Unternehmer dazu zu motivieren, mehr Wert und Vertrauen, auch landes- und religionsübergreifend, in die Qualitäten weiblicher Arbeitsleistung zu legen.“

„Ihre eigene Stiftung Sun-For-Children engagiert sich ja eher im Bereich gegen Kindesmissbrauch und Kinderarbeit. Warum waren Sie nicht im letzten Jahr in Warschau zu Besuch als der Erlös genau zu diesen Zwecken verwendet wurde?“

„Das Kindeswohl beginnt in erster Linie mit dem Wohl der Eltern, speziell der Mütter, weshalb wir nicht nur gegen Kindesmissbrauch arbeiten, sondern auch in den Familien direkte Arbeit leisten“ antwortete er mit angenehmer, aber fester Stimme. Er strahlte etwas klares, souveränes aus, was Tea vor Ehrfurcht frösteln ließ. „Es ist der Kaiba Corporation seit Jahren ein Anliegen, der Diskriminierung und Unterdrückung von Frauen entgegen zu wirken. Die Kaiba Corporation hat verschiedene Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramme etabliert und hiermit bereits sehr gute Erfahrungen gemacht. Deshalb ist das diesjährige Thema mit unseren Engagements vereinbar. Auch wenn im letzten Jahr niemand von uns persönlich in Warschau anwesend sein konnte, hat sich die Mittsommer-Vereinigung über unsere großzügige Spende sehr gefreut und sich mit einer erneuten Einladung für dieses Jahr bedankt.“

„Erlauben Sie bitte noch eine letzte Frage. Wie geht es Ihrem Mann?“

„Sehr gut. Danke.“

„Mr. Muto, vielen Dank für das Interview und noch einen schönen Abend.“

„Ebenso.“ Er nickte und setzte seinen Weg über den Teppich fort.

Tea war verwundert wie ruhig und gelassen er geantwortet hatte. Er hatte über seine Sätze kaum nachgedacht, das klang so routiniert als würde er das täglich machen. Es verhielt sich für gewöhnlich eher so, dass er Statements aus dem Wege ging, weil er ohnehin falsch zitiert wurde oder man ihm irgendetwas andichtete. Umso erstaunlicher, dass er überhaupt stehen geblieben war.

„Du fragst dich, warum ich ihm überhaupt geantwortete habe“ stellte er auf Teas Grübeln fest.

„Schon ungewöhnlich, dass du dich mit Reportern unterhältst. Das übernehmen doch sonst eher Noah und Joey.“

„Die sind ja aber nicht hier.“

„Eben. Warum bleibst du dann sogar stehen? Das passt gar nicht zu dem, was du sonst machst.“

„Zuerst mal, weil er in meiner Sprache gefragt hat. Das ist ein Zugeständnis und sehr höflich. Für gewöhnlich quatschen die Typen dich auf englisch an und sagen nicht mal guten Abend.“

„Stimmt.“ Als Kind war sie froh, wenn ihr Kindermädchen die Untertitel vorgelesen hatte, wenn es keinen Simultanübersetzer im Fernsehen gab. Erst mit steigenden Englischkenntnissen hatte sie sich die Übertragungen ohne Übersetzer angesehen und nur selten wurde dabei etwas anderes als Englisch gesprochen. Der Reporter wusste also, dass er Seto anders behandeln musste, wenn er ein kurzes Interview wollte.

„Zum Anderen hatte er Ahnung von dem, was er fragte. Er wusste, dass ich eine Stiftung betreibe, also hat er sich offensichtlich auf das Gespräch vorbereitet. Seine Fragen waren recht harmlos für einen Reporter und er hat sich an die Regel gehalten, dass man eingangs nicht mehr als drei Fragen stellen sollte. Außerdem konnte ich dadurch ein bisschen Werbung für uns machen.“

„Das ist mir auch aufgefallen“ stimmte sie sofort zu. „Du hast ziemlich oft Kaiba Corporation gesagt.“

„Weil sie das Interview nach der Live-Übertragung sowieso kürzen und ich wenigstens den Unternehmensnamen genannt haben will. Aber jetzt genug mit dem Marketing. Wie fühlst du dich denn? Alles in Ordnung?“

„Alles bestens.“ Sie fühlte, wie er ihren Arm drückte und sanft zu ihr herabsah. „Ich bin ziemlich aufgeregt. Ich hoffe, dass ich dich nicht blamiere.“

„Mich blamieren? Dazu gehört aber mehr als gutes Aussehen und ein bezauberndes Lächeln.“

„Du bist süß“ kicherte sie und sah von ihren Schuhe aus lieber nach vorn. „Ich meine doch, weil das hier eine ganz andere Welt ist. Es war zwar immer mein Traum, hier mal herzukommen, aber eigentlich gehöre ich hier gar nicht hin. Ich bin keim Promi, nicht reich und nicht erfolgreich. Und die Gepflogenheiten der Highsociety sind mir auch nicht geläufig.“

„Aber du warst doch mit deinen Eltern auch mal auf einer Spendengala oder ähnlichen Events.“

„Ja schon. Aber da war ich mehr das Vorzeigekind, wenn sie mal ein Kind vorzeigen mussten. Das hier ist doch etwas ganz anderes.“

„Ich bin ja auch nicht oft auf solchen Festen. Das hier ist alles eine Scheinwelt und die meisten Leute sind nicht wegen des guten Zwecks hier, sondern zum Sehen und Gesehen werden und zum Lästern.“

Diese Meinung besorgte sie nur noch mehr. „Meinst du, sie lästern auch über uns? Weil du mich mitgebracht hast? Hat er deswegen nach Yugi gefragt?“

„Garantiert.“ Dennoch lächelte er sie liebevoll an, beugte sich herunter und küsste ihre Schläfe. „Aber nur aus Eifersucht. Weil du nicht nur die natürlichste Schönheit bist, sondern auch der einzig normale Mensch hier.“

„Abgesehen von dir.“

„Also wirklich“ schmunzelte er und hob tadelnd den Finger. „Man hat mir ja schon vieles nachgesagt, aber noch nie, dass ich normal wäre.“

„Verzeih. Wie konnte ich mich nur zu so etwas hinreißen lassen!“ Sie buffte ihn in die Seite und er lachte sogar kurz. Gut zu sehen, dass er trotz der zu erwartenden Menschenmenge guter Laune war. Eigentlich war die Teilnahme an solchen Anlässen eine Strafe für ihn, doch Tea glücklich zu sehen, hob auch seine Stimmung.

Dann waren sie auch schon am Ende der Halle angekommen und Tea wusste nicht ganz, welches von den drei Toren sie nun durchqueren sollte. Seto hatte ihr zwar den Grundriss der Anlage gezeigt, doch Architektur war nie ihre Stärke.

Wenigstens schien er bescheid zu wissen und steuerte nach links, wo zwei Angestellte eine Samtkordel bewachten und freundlich lächelten. Die beiden Damen trugen dieselbe Uniform wie die Garderobieren - einen schwarzen Hosenanzug oder Rock und ein weißes Hemd. Natürlich mit Namensschildern, welche sie als autorisiertes Personal auswiesen.

„Good evening, Mr. Muto“ grüßte die dunklere von beiden und und streckte die Hände aus. Seto zog eine Karte aus der Tasche des Jacketts, welches er sich wegen der Wärme über den Arm gelegt hatte. Wobei Tea nur auffiel, dass sie gar nicht daran gedacht hatte, eine eigene Jacke mitzunehmen. Und wie schön Setos Manschettenköpfe glänzten … „Mrs. Gardener is accompanying you?“ lächelte sie und sah Tea freundlich an.

„Yes.“ Seine Antwort war kurz und aussagekräftig. Seine Mine war auch nicht mehr allzu freundlich, aber sie war nun mal fremd und er begegnete Fremden noch immer sehr vorsichtig. Er war eben ein scheuer Drache.

Die Dame nickte ihrer Kollegin zu, welche auf einem Zettel etwas abhakte. Dann erst löste sie die Kordel der Absperrung, um die Gäste hindurch zu lassen und gab ihm die Karte zurück. „We wish you having a nice evening and if you have any requests, please feel free to ask for our support.“

„Thanks.“ Er wies nach vorn und ließ Tea zuerst eintreten.

Ein paar Schritte weiter fand sie sich auf einem schummrigen Gang wieder. Langgestreckt und in Halbmondform. Blankpolierter Parkettboden. Die rechte Seite war von verschiedenen Landschaftsmalereien geziert, die linke Seite führte durch offene Doppeltüren in einen Konzertsaal, welcher helles Licht und Stimmengebrummel in den Gang spülte. Die Plätze waren fast alle besetzt und noch bevor Tea sich ein vollständiges Bild machen konnte, eilte ein fleißiger Angestellter auf sie zu. Ein junger Mann, sehr jung. Vielleicht ein Schüler, der sich ein Zubrot verdiente.

„Mr. Muto. Good evening.“ Aber auch er erkannte Seto bereits und machte eine kleine Verbeugung. „It’s a honor having you and Mrs. Gardener here. If you like I would be happy to show you to your seats.“

„Wir sind spät dran. Deswegen kommt er gleich zur Sache“ erklärte er zu Tea gewandt, bevor er dem Jungen zunickte und ihm seine Einladungskarte übergab.

Der nahm sie, doch wies bereits nach vorn ohne wirklich gelesen zu haben. „This way please.“

„Thank you.“

Tea wunderte sich, dass er sie in diese Richtung führte. Beim Blick durch die offenen Saaltüren hatte sie bemerkt, dass die Bühne in der anderen Richtung lag und er sie also von dort wegführte. Seto hatte doch gesagt, er habe gute Plätze organisiert und jeder wusste, dass die besten Plätze vorn an der Bühne waren und nicht hinten. Doch sie zuckte innerlich mit den Schultern und dachte sich, dass sie im Kino und im Theater auch lieber weit hinten saß. Man konnte dort einfach besser sehen.

Seto nahm ihre Hand und legte sie um seinen Arm. Er passte die ganze Zeit auf, dass sie nicht verloren ging.

Jedoch wurden sie nicht in die hinteren Stuhlreihen gebracht, sondern zu einem Fahrstuhl, welcher bereits einladend für sie offenstand. Seto zögerte kurz, was Tea daran bemerkte, dass er einen Schritt ausfallen ließ und schluckte. Er hasste Fahrstühle. Dennoch ging er anstandslos hinein und blickte zu Boden. Er musste sich in solchen Situationen immer konzentrieren.

Zu seiner Erleichterung war die Fahrt nur wenige Sekunden lang und als die Türen wieder aufsprangen, lief ihr junger Führer sofort voraus. Er sagte zwar nichts, doch Tea kam der Gedanke, dass sie ziemlich spät dran sein mussten. Draußen hatte sie kaum Stars gesehen oder andere Gäste. Dafür war es laut im Saal und voll besetzt. Wahrscheinlich wartete man nur noch auf sie und Seto. Oder wohl eher nur auf Seto.

„We have reserved your private balcony. I hope you’ll like it.“ Der Junge zog einen Vorhang zur Seite und gab den Blick auf einen Balkon frei. Tea hatte also richtig gelegen, dass er sie von der Bühne weg geführt hatte. Doch nicht zu den schlechteren Plätzen, sondern den besten, die der Saal aufbot. Eine Loge an der Stirnseite. Dort wo die Mächtigen und Wichtigen saßen.

Als Seto sie vorgehen ließ, verschlug es ihr den Atem. Unter ihnen saßen hunderte bunte, elegante, glitzernde Menschen. Kellner huschten durch die Sitzreihen und bedienten die letzten Bestellungen. Das Orchester lag bereits in den letzten Zügen, ihre Instrumente zu stimmen und wartete auf den Dirigenten.

Rechts neben ihrer Loge war der Vorhang gegen Seitenblicke zugezogen, der daneben auch, sodass Tea nicht sehen konnte, wer ihre Sitznachbarn waren. Doch aus der dritten nickte ihr ein Mann mit blondem Haar und einem feinen, dunkelgrünen Anzug zu. Sein Gesicht etwas rundlich und seine Begleitung eine dunkelhaarige Schönheit. Da blieb ihr der Mund offenstehen, denn den erkannte sie trotz des dämmrigen Lichts sofort. Nika hätte in diesem Moment das Kreischen bekommen, denn sie liebte Leonardo di Caprio. Und er hatte seine Freundin dabei. Hier gab sich sogar die Hollywood-Prominenz die Ehre und Tea ärgerte sich nun doch ein bisschen, dass sie keinen Fotoapparat dabei hatte. Den hätte sie jetzt noch lieber als eine Jacke gegen die Abendkälte.

Auf die anderen Seite, links von ihrer Loge wanderte der Blick erst danach als Seto ihr gestikulierte, sie solle sich eine Seite aussuchen. Sie sah das ältere Ehepaar an, welches dort direkt neben ihnen in der allerbesten Loge saß. Die Dame trug ein schlicht hellgraues, mit Glitzersteinchen besticktes Kleid und ein mit Saphiren besetztes Diadem auf dem brünetten Haar. Neben ihr ein korpulenterer Herr mit Halbglatze und einem Soldatenanzug. Der Kragen gelb und die Schärpe rot. Auf seiner Brust ein paar Orden. Daneben saß ein jüngerer Mann mit freundlichem Gesicht und dunklem Bart. Auch er trug eine ähnliche Soldatenuniform und glänzende Orden. Er zückte das Opernglas, welches er an eine goldblonde Frau gab. Sie trug ein rosa Seidenkleid und ein mit roten Steinen besetztes Diadem. Erst als die Frau im hellgrauen Kleid ihr zulächelte, traf sie der Schlag. Das auf ihrem Kopf war kein Diadem, sondern eine Krone. Diese freundlichen Personen waren die norwegische Königsfamilie! Neben ihr saßen Königin Sonja und König Harald. Und daneben Prinz Haakon und seine Mette-Marit. Natürlich waren in der zweiten Reihe noch einige Personen zu sehen, wahrscheinlich Adlige oder Bodyguards oder so, doch ganz vorn, direkt neben ihrem eigenen Balkon … und sie mit Seto direkt daneben. Das hier waren tatsächlich die allerbesten Plätze, die man haben konnte. Jetzt wünschte sie sich einen Fotoapparat UND ein Erdloch.

„Tea?“ Setos Stimme drang an ihr Ohr und holte sie aus der Schockstarre. „Möchtest du dich langsam setzen? Sie warten auf uns.“

„Ähm … ja.“ Sie nahm lieber den Stuhl, der etwas dichter am Vorhang stand, damit Seto zwischen ihr und der Königsfamilie saß. Sie hätte sonst ständig hinstarren müssen.

Er gab sein Jackett an den jungen Pagen, der es über den Bügel hängte und setzte sich auf die andere Seite des kleinen Tisches. Sie beschäftigte sich eher mit der Überprüfung ihres Outfits. Saß der BH noch? Und das Haar nicht verfranst? Hatte sie ihre Tasche nicht zufällig ausgekippt? Und das Handy? Herrje! Handy ausmachen!

Ein Klirren weckte sie und der Junge stellte ihr erst ein prickelndes Glas Champagner hin, bevor er die Flasche im Eiskühler versenkte. Dazu ein Teller Schnittchen mit Fisch, Kaviar, Käse und Gurke. Seto bekam nur Orangensaft.

„Ich war so frei, dir etwas zur Stärkung zu bestellen“ erklärte er und lächelte über ihren erschrockenen Ausdruck hinweg. Höchstwahrscheinlich spürte er, dass sie sich gerade im Ausnahmezustand befand.

„Danke. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch“ erwiderte er belustigt und nickte dem Jungen zu. „Thank you. That’s everything.“

„You’re welcome, Mr. Muto. If you need anything more please just call for my colleagues standing on the outside floor for you.”

„I’ll do. Please express your father my thankful regards for this favor.”

„It’s my pleasure to have met you. Please enjoy yourself.”

Der Junge lächelte Tea nochmals an, nickte und zog dann den Vorhang hinter sich zu. Tea schwante, dass Seto wohl seine Beziehungen hatte spielen lassen, um diese Loge zu bekommen. Auch wenn sie nicht neugierig wirken wollte, ließ ihr die Frage nun keine Ruhe mehr. Zumal diese Plätze nicht nur die besten waren, sondern wahrscheinlich auch nicht mit Geld zu bekommen. Einen Platz neben der norwegischen Königsfamilie musste man sich verdienen und nicht erkaufen. Selbst Hollywoodstars saßen einige Balkone weiter.

„Seto, wen hast du bestochen, um diese Loge zu bekommen?“ fragte sie dann endlich heraus.

„Ich habe ganz freundlich gefragt“ antwortete er und nahm das Sektglas, welches mit Orangensaft gefüllt war. „Diese Loge war ursprünglich für den norwegischen Ministerpräsidenten reserviert. Doch da er kurzfristig verhindert war, waren auch seine Plätze frei.“

„Zufällig verhindert?“

„Rein zufällig“ zwinkerte er zweideutig. „Sagen wir, ich habe es mir zunutze gemacht, dass Noah und er gerade sehr angeregt über Investitionen diskutieren. Verhindert war er wirklich und er hätte eigentlich einen Vertreter geschickt, doch da meine Anfrage zum richtigen Zeitpunkt kam, brauchte er nicht lange nach Ersatz suchen.“

„Und wenn er abgelehnt hätte? Wo säßen wir dann?“

„Auch nicht weit weg von hier. Dann hätte ich irgendwen aus seiner Loge rausgekauft.“ Und das sagte er so selbstverständlich wie er es meinte. Er hielt ihr das Glas hin und setzte ein verführerisches Lächeln auf. „Lass uns auf einen wunderbaren Abend anstoßen.“

„Du bist unmöglich.“ Doch an ihm herumzumäkeln, würde überhaupt nichts ändern. Außer dass er wahrscheinlich doch noch schlechte Laune bekam. Also nahm sie den Champagner und ließ die Gläser klirren. Genau in diesem Moment ging das Licht aus und der Dirigent nahm seinen Platz ein. Sah aus als hätte man tatsächlich nur auf ihn gewartet, um den Abend beginnen zu lassen.

Chapter 26 - 30

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Chapter 31 - 35

Chapter 31
 

Seto parkte seinen auffällig silbernen Maserati, mit getönten Scheiben, breiten Reifen und Edelfelgen, neben einem schlammbespritzten Traktor, der früher vielleicht mal rot gewesen war … vielleicht auch orange … oder gelb ... Setos Wagen passte hier ebenso wenig ins Bild wie er selbst. Von der Seite lugten zwei Stallburschen aus den Pferdeboxen und von der anderen Seite zeigten einige Schulmädchen auf ihn. Mit seiner Erscheinung als Geschäftsmann mitsamt Krawatte, aggressiv schwarzer Sonnenbrille und hochpolierten Schuhen war er auf einem Pferdehof wie diesem unangepasst. Doch er hatte keine Lust dazu, extra nach hause zu fahren und sich umzuziehen, bevor er Yugi abholte. Angaffen tat man ihn auch, wenn er Jeans und Shirt trug. Also versuchte er so zu tun als würde er die Blicke ignorieren, warf die Wagentür zu und schloss mit einem leisen Piepen zu.

Mit seinem geschärften Gehör lauschte er einige Sekunden. Die Mädchen tuschelten in den Boxen über ihn und die Stallburschen über sein Auto. Doch er hörte auch das Scharren einer Ziege in einer nahen Box, hörte zwei oder drei Kaninchen durchs Gebüsch hoppeln, hörte ein paar junge Kätzchen im Scheunendach maunzen. Er musste die Geräusche nacheinander abarbeiten bis er seine Richtung erkannte. Er hörte das schnelle Trampeln von Hufen in weichem Untergrund, das laute Aneinanderschlagen von Holz und rufende Männerstimmen. Und er hörte auch endlich Yugis Stimme, welche sich dort einreihte. Ja, jetzt musste er wenigstens nicht nach dem Weg fragen.

Während er so scheinbar nichtstuend dastand, war einer der Stalljungs auf ihn zugegangen und wollte dem fremden Gast Hilfe anbieten. Doch er wurde kommentarlos links liegen gelassen als Seto sich dann doch in Bewegung setzte und an ihm vorbeiging. Er wollte sich jetzt nicht unterhalten.

Er ging den mit Stalldreck beschmutzten Steinboden entlang, bog hinter einer langen Reihe von Pferdeboxen links ab und sah zu seiner rechten Seite zwei große Hallen. Eines war eine Reithalle, in welcher zwei Mädchen das Longieren übten. Das andere eine Halle mit weiteren Pferdeboxen. Er ging in der Mitte hindurch und fand dahinter eine große Wiese und sein Ziel.

Finn und Yami saßen auf dem Holzzaun, hielten Händchen und genossen den Sonnenschein. Vor ihnen auf der Wiese einige Reiter mit breiten Helmen und kniehohen Stiefeln. Sie passten sich mit langen Schlägern und lautem Rufen einen Ball zu. Seto hatte mal auf einem geschäftlichen Termin in Arabien einem Polospiel der englischen Nationalmannschaft beigewohnt, doch Yugi spielen zu sehen, weckte sein Interesse an diesem Sport wesentlich mehr.

Zwischen den vielen Reitern fiel er gar nicht sofort auf, obwohl die anderen Männer beim näheren Hinsehen dennoch alle größer waren. Polospieler waren eben keine Jockeys. Jockeys mussten vor allem klein und leicht sein. Polospieler mussten wendig und kräftig sein, wobei auch hier ein leichter Körperbau die Geschwindigkeit erhöhte. Er stützte sich neben Yami auf den Holzzaun und sah Yugi zu. Er traf den Ball erstaunlich zielsicher und schoss ihn geschickt zu einem anderen Spieler weiter. Er wehrte sich auch erheblich als ein anderer Reiter ihn im Galopp abzudrängen versuchte. Doch stattdessen wendete Yugi sein Pferd, verpasste dem Gegner einen Check und ließ ihn stehen. So freundlich und mitfühlend er sonst immer war - beim Sport war er unnachgiebig. Sowohl beim Rennen als auch beim Polo. Offensichtlich hatte er eine Begabung in jedweder Art von Reitsport.

„Ey!“ Yami buffte ihn mit der Faust in die Seite und weckte ihn aus seinem Tagtraum.

„Was?“ murrte Seto und rieb sich den Arm. „Warum haust du mich?“

„Aha! Du redest ja doch noch mit mir. Ich dachte schon, du ignorierst mich jetzt völlig.“

„Warum? Habe ich das gesagt?“

„Eben nicht. Du kommst her, stellst dich neben mich und sagst weder Guten Tag noch antwortest du auf irgendwas.“

„Ich habe nachgedacht. Dabei aktiviert man Synapsen im Gehirn, weißt du?“

„Nachgedacht. Schon klar“ grinste Yami dreckig. „Du hast doch nur Yugis Arsch im Blick und aktivierst noch was ganz anderes als nur Synapsen.“

„Du bist ordinär, Yami.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und wandte seinen Blick wieder aufs Spielfeld. „Macht er sich gut?“

„Keine Ahnung. Ich verstehe nicht viel von Polo, aber der Trainer schreit ihn ständig an.“

„Das ist aber normal, glaube ich“ meinte Finn. „Er muss seine Jungs doch trainieren.“

„Aber Yugi ist noch nicht vom Pferd gefallen. Und ich glaube, er hat auch schon Tore geschossen.“

„Ich finde, er sieht ganz engagiert aus“ befand Seto und beobachtete die rasenden Pferdehufe. „Und er sieht aus als hätte er Spaß.“

„Glaube ich auch“ lächelte Yami. „Und die Mannschaft nimmt ihn wohl auch ganz gut auf. Jedenfalls haben seine Gegner so ihre Mühe mit ihm. Ich glaube, wenn er sich schlecht anstellen würde, dann würden sie ihn mehr schonen.“

„Sind denn Eingeweihte dabei?“

„Weiß nicht. Finn?“

„Nur zwei, soweit ich weiß“ antwortete der und räkelte sich auf dem etwas ungemütlichen Zaun. „Der Co-Trainer und ein Spieler. Der Spieler, Hansi, ist mit einer Hexe verheiratet, hat aber selbst keinerlei Kräfte. Und der Co-Trainer, Marvin, ist ein Hexer, Medium für Naturgeister. Doch seit sein Meister verstorben ist, hat er seine Kräfte aufgegeben. Die anderen Spieler kenne ich nicht, also gehe ich mal davon aus, dass sie absolut ahnungslos sind und nicht wissen, dass sie mit dem … au …“ Er stoppte kurz als hinter Seto ein weißer Schatten erschien und seine kräftige Gestalt nach vorn stieß. „…Pharao spielen. Aua, was war denn das?“

„Hoooooooooch“ seufzte Seto genervt und ließ Lady vom Rücken auf seine Schulter klettern. Sie würde es wohl niemals mehr lernen, dass sie seinen Rücken nicht als Platz für Bruchlandungen nutzen sollte. „Irgendwann brichst du dir was, Federchen.“

„Krrräääää!“ machte sie und schüttelte sich. Ungemütliche Landung, harter Rücken.

„Du mich auch.“ Dennoch kraulte er ihr Köpfchen und dann auch unter dem Flügel, den sie so eindeutig abspreizte.

„Diese Falken sind unglaublich“ bemerkte Finn. „Sind sie auch von menschlichen Seelen besessen oder woher rührt das, dass sie so menschenverbunden sind?“

„Nein. Eigentlich sind sie ganz normale Tiere“ erklärte Yami. „Aber durch die Nähe und die Bindung zu ihren Magiern erlangen sie selbst eine gewisse Magie. Nicht praktischer, sondern eher mentaler Natur. Lady liebt Seto als wäre er nicht anders als sie. Das ist das Besondere.“

„Ich habe schon davon gehört, dass Tiere gewisse Kräfte erlangen, wenn sie mit den richtigen Magiern zusammengebracht werden. Aber wirkliche Tatsachen konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Obwohl offensichtlich etwas dran ist.“

„Ich kann dir genau sagen, wodurch das kommt, dass er Zirkel keine Ergebnisse aus der Forschung mit magischen Tieren bekommt“ gab Seto bereitwillig Auskunft. „Die hohe Intelligenz und Zutraulichkeit entsteht durch Liebe. Durch echte Liebe. Von beiden Seiten. So etwas kann man nicht künstlich herbeiführen.“

Lady bestätigte ihn mit einem Krächzen und nagte an seinem Brillenbügel. Sie liebte ihn und das war absolut echt.

„Ach? Wenn du mich so sehr liebst, könntest du vielleicht etwas weniger überraschend auf mir landen?“

„Kra!“ Sie schüttelte sich und drehte den Kopf weg. Sollte heißen: Nö.

„Ja, das muss Liebe sein.“

Da ertönte auch schon der Pfiff einer Trillerpfeife und die Spieler stoppten wo sie waren. Einer sammelte den Ball ein, die anderen sammelten sich um die beiden Männer, welche auf die Wiese schritten. Sie begannen eine Unterredung in großer Gruppe und schüttelten sich die Hände.

„Es ist halb acht. Pünktlich Feierabend“ bestätigte Finn mit Blick auf die Uhr.

„Wollen wir Wetten abschließen?“ schmunzelte Yami.

„Wetten worüber?“

„Wette lieber nicht mit ihm. Egal worum“ riet Seto aus weiser Erfahrung. Mit Yami zu wetten, ging immer nach hinten los.

„Jetzt sei nicht so argwöhnisch, du Eisberg. Du machst meinem Liebhaber ja Angst“ bat er und rutschte Finn nach, da der es wagte, sich ein paar Zentimeter zu entfernen - allerdings wohl weniger wegen Seto. „Ich gehe jede Wette ein, dass Yugi jetzt beim Polo bleibt. Wer wettet dagegen?“

„Und weswegen sollte er das?“ guckte Seto skeptisch durch seine Sonnenbrille. „Als Jockey war er immer ganz glücklich und sein Vertrag läuft noch, auch wenn er im Moment beurlaubt ist. Außerdem ist Falsetto ein Rennpferd, kein Polopferd.“

„Schon. Aber Yugi geht hart auf die 30 zu und es sind nur noch wenige Jahre bis er für den Rennsport zu alt ist. Da muss er rechtzeitig umsatteln. Außerdem würdest du ihm sofort ein paar Polopferde kaufen, wenn er dich darum bittet.“

„Davon mal abgesehen.“

„Wovon mal abgesehen? Du weißt, dass ich Recht habe. Du musst Yugi nur ansehen und du weißt, dass er Gefallen am Polo findet. Da hat er mehr Feindkontakt, aber auch mehr Teamplay. Außerdem ist er für seine Größe sehr kräftig und durchtrainiert. Plus er hat ein Talent zum Pferdesport. Ich finde, Polo passt besser zu ihm.“

„Finde ich nicht“ murrte er und versenkte die Hände in den Hosentaschen als hätte man ihn persönlich beleidigt.

„Warum nicht? Du hast selbst gesagt, er sieht aus als hätte er Spaß.“

„Kann er ja auch. Als Hobby, aber nicht beruflich. Weißt du eigentlich wie viele Verletzungen es unter Polospielern gibt? Das wilde Durcheinanderreiten und dann diese Holzschläger …“

„Aha, da haben wir’s“ grinste er. „Du machst dir Sorgen.“

„Unsinn. Ich sage nur, dass Yugi jetzt mehr auf sich aufpassen muss. Immerhin hat er zwei Kinder!“

„Und einen überängstlichen Ehemann.“

„DAS STEHT ÜBERHAUPT NICHT ZUR DISKUSSION!“

„Schrei nicht so und sieh zu, dass du ihn nicht vor dem Team blamierst.“ Er wies nach vorn und Seto darauf hin, dass die Mannschaft in ihre Richtung kam. Die Männer waren von ihren Pferden abgestiegen und führten sie. Nebenbei lachten und unterhielten sie sich angeregt.

Jetzt sah auch Yugi, dass er Besuch hatte und winkte seinem Liebling mit einem Lächeln. Seto winkte natürlich zurück, wenn auch ohne Lächeln. Gewohnheitsmäßig erregte das Unverständnis und er brauchte seine Ohren nicht mal zu spitzen, um zu ahnen, dass die Mannschaft so reagierte wie alle anderen Leute auch. Einer tippte Yugi auf die Schulter und fragte, ob er den Juppie am Zaun kannte. Und Yugi würde keinen Hehl daraus machen, wie glücklich er verheiratet war. Jemand wie er, der so bodenständig, freundlich und unscheinbar war, kannte jemanden wie den da, der allein mit seiner Anwesenheit Aufsehen erregte. Von der unnahbaren, unterkühlten Aura mal abgesehen. Und obendrein auch noch eine Männerehe. Für Fremde war es eben nicht sofort ersichtlich, was zwei so unterschiedliche Menschen gemeinsam haben konnten. Das würde sich in diesem Leben auch nicht mehr ändern. Und da er direkt neben dem Zugangstor stand, mussten sie auch noch direkt an Seto vorbei, was die bisher lustige Unterhaltung zum Verstummen brachte. Manchmal lag es gar nicht an Seto, dass er mit den Leuten nicht klarkam. Häufig urteilten sie über ihn, ohne auch nur ein Wort gewechselt zu haben. Und dass er in seinem Businessdress auf einem Reiterhof erschien und seine Sonnenbrille trug, reichte schon, um ihn unsympathisch zu machen. Von dem weißen Vogel dann mal zu schweigen.

Nur Yugi war das egal. „Hallo Liebling!“ Ganz wie Seto befürchtet hatte, schämte er sich nicht und machte den kurzen Abstecher, während die anderen schon das Tor öffneten. Er streckte sich zu ihm, Seto beugte sich herunter und gab ihm einen kurzen Kuss zur Begrüßung. „Was treibt dich her? Ich dachte, du arbeitest heute lange. Wir haben doch Dienstag.“

„Ich wollte dich abholen“ murmelte er und zog sich hinter den Zaun zurück. „Hattest du Spaß?“

„Ja, ziemlich viel“ lächelte er und drehte sich zu den ungläubigen Männern, die Seto mit ihren Blicken ärgerten. „Die Kollegen haben mich nicht gerade geschont. Du siehst ja, ich bin total verschwitzt.“

„Du hast uns aber auch nichts geschenkt, Muto“ meinte einer aus der Reihe, während einige andere schon weitergingen und gen Boxenhalle verschwanden. „Also kommst du jetzt? Wenn du noch weiter rumknutschen willst, nehme ich deinen Gaul mit, bevor der sich erkältet.“

„Nein, schon fertig mit knutschen. Der Rest folgt später zuhause“ lachte Yugi und zwinkerte Seto zu. „Ich gehe nur schnell duschen und dann bin ich gleich bei dir.“

„Ging ja schnell“ unkte sein Kamerad als Yugi mit ihm ging. „Ich dachte, ihr Schwulen macht gleich rum, wenn ihr euch trefft.“

„Hättest du wohl gerne mit angesehen, was?“ Yugi verstand das als Scherz und lachte mit ihm gemeinsam.

Nur einer der Männer blieb zurück, sah erst Yugi, dann Seto und dann Yugi kurz an, stieg wieder aufs Pferd und ritt zurück aufs Feld. Allein.

„Arschloch“ zischte Seto, stellte sich in den Schatten des nächsten Baumes und verschränkte wütend die Arme.

„Was ist denn?“ guckte Yami zurück. „Seto, was schimpfst du schon wieder?“

„Ist doch egal.“

„Nein, rumfluchen gibt’s nicht ohne Grund.“ Yami krallte Finns Arm fest um nicht herunterzufallen, drehte sich auf dem Zaun um und sah Seto ernst an. „Welche Laus war’s diesmal?“

„Ist egal, Yami. Lass mich in Ruhe.“

„Wer ist ein Arschloch?“

„Er da“ nickte er auf den letzten Reiter, welcher sein Pferd auf dem Feld ausritt.

„Warum?“ blickte Yami sich zu dem um. „Hat er dich mit einem dummen Gedanken bedacht? Seto kann Gedanken hören“ erklärte er kurz zu Finn.

„Ich weiß, Atemu.“

„Weißt du, es gibt so engstirnige Menschen auf der Welt“ murrte Seto. „Eigentlich fand er Yugi ganz nett, aber als er mich gesehen hat und dass ich zu ihm gehöre, da wollte er plötzlich nicht mehr mit ihm duschen gehen. Hat wohl Angst, Yugi könnte ihn angrapschen. So ein Blödmann.“

„Was? Er hat gedacht, Yugi grapscht ihn an?“

„Ja. Und er will nicht nackt vor ihm rumlaufen. Nur weil Yugi und ich … ich hasse solche Leute. Was ist denn falsch an Yugi und mir?“

„Seto, ärgere dich nicht so“ seufzte Yami, hüpfte vom Zaun und stellte sich mit unter den Baum. „An dir und Yugi ist nichts verkehrt. Wenn der Kerl da ein Problem damit hat, dann ist das sein Problem und nicht eures.“

„Aber wie er Yugi angeguckt hat. Als wäre er schlecht oder eklig. Yugi ist nicht eklig. Und er betatscht keine anderen Männer.“

„Mein Engel, solche Leute wirst du immer wieder treffen“ tröstete Yami und legte ihm die Hand auf den Arm. „Deswegen versuche, dich nicht zu sehr den Gedanken und Gefühlen der Menschen zu öffnen.“

„Das sagst du so leicht, aber ich kann nicht immer alles ignorieren. Ich versuche es ja, aber ab und zu dringt eben doch mal eine Stimme aus der Masse hindurch. Du kannst ja auch nicht einfach aufhören zu hören. Ich bin doch kein Roboter, dem man so was wegprogrammieren kann.“

„Das wollte ich auch nicht sagen. Ich wollte nur sagen, dass du dir darüber keine grauen Haare wachsen lassen solltest. Das ist es nicht wert.“

„Eraseus, Atemu hat Recht“ pflichtete auch Finn vom Zaun bei. „Ich merke die Veränderung auch gerade. Seit ich mit Atemu zusammen bin, feinden mich plötzlich sogar Leute an, die früher mit mir beim Kneipenstammtisch getrunken haben. Es ist schwer, aber du darfst dich davon nicht runterziehen lassen. Yugi ist dir doch wichtiger als die Meinung von anderen. Oder?“

„Trotzdem ärgere ich mich. Wie kann man nur so heuchlerisch sein? Nur wegen so was denkt er gleich anders von Yugi.“

„Ey, ist doch sein Problem“ zuckte Finn mit den Schultern. „Im wahrsten Sinne. Während die anderen jetzt schön duschen, muss er noch in der Sonne vor sich hinstinken und warten bis die Dusche leer ist. Damit schließt er sich nur selbst aus der Mannschaft aus. Im Gegensatz zu Yugi, der sich doch anscheinend ganz gut einfindet.“

„Sehe ich auch so. Also guck nicht so böse.“

„Meinst du, ich habe ihn blamiert?“

„Nein, hast du nicht“ lächelte Yami. „Du bist nur einfach ein schöner Mann mit einer überwältigenden Aura. So was Großes wie dich sind die Leute einfach nicht gewöhnt.“

„Klingt nicht gerade schmeichelhaft.“

„Hey, ich stehe auf dich. Das weißt du doch.“

„Yami. Du weißt schon, dass Finn dich hört.“

„Ach, der weiß dass ich auf schicke Männer stehe. Groß, muskulös und eigensinnig. Nicht wahr, Finni?“

„Wenn du es sagst … Atemu …“

„Seto?“ flüsterte er verstohlen zu ihm auf. „Sag mir mal, was Finn gerade denkt.“

„Frag ihn doch selbst.“ Er löste sich von ihm und sah zurück zu den Reithallen. „Wie seid ihr überhaupt hergekommen? Ich habe Yugis Wagen gar nicht gesehen.“

„Dann bist du von der Hauptstraße gekommen“ vermutete Finn und zeigte über das aufgewühlte Polofeld hinüber. „Wir sind über die Felder gefahren und parken da hinten. Eigentlich fährt niemand über die Hauptstraße, weil da lauter Schlaglöcher sind.“

„Ach so. Ich parke da vorne“ zeigte er hinter sich und trat ein paar Schritte in die Richtung. „Könnt ihr Yugi sagen, dass ich im Auto auf ihn warte? Dann können wir zusammen nach hause fahren.“

„Warte mal, das wird schlecht“ intervenierte Yami. „Finn und ich sind mit seinem Motorrad gefahren und Yugi mit seinem Jeep. Wenn Yugi jetzt mit dir fährt, bleibt sein Auto stehen.“

„Könnt ihr Yugis Auto nicht zurückfahren? Finn hat doch einen Führerschein. Oder nicht?“

„Aber dann bleibt Finns Bike hier und das will ich nicht.“

Das Ding war anscheinend komplizierter als Seto gedacht hatte. „Warum denn? Wenn Finn mit Yugis Wagen fährt, fährst du mit seinem Motorrad. Wo ist da das Problem, dass ich Yugi mitnehme?“ Yami blickte auf den Boden und kickte dann den armen Baum. „Falsche Frage?“

„Jetzt musst du’s doch beichten, Atemu“ schmunzelte Finn.

„Ich habe Fahrverbot. Noch zwei Wochen lang“ schmollte Yami mit feuchten Augen. Fahrverbot war für ihn genauso schlimm wie Sexverbot.

„Fahrverbot“ wiederholte Seto wertfrei. „Warum? Bist du besoffen gefahren?“

„Quatsch. So schlimm war’s gar nicht. Der Bulle hat sich voll daneben benommen. Der war viel zu streng! Ich finde echt, wir sollten ihn verklagen! Seto, verklag die Polizei für mich!“

„Hast du dich etwa mit der Polizei angelegt?“

Yami hmpfte beleidigt und lehnte sich gegen den Baum. Darauf wollte er jetzt nicht weiter eingehen.

„Wir sind gestern Abend in eine Verkehrskontrolle geraten, weil wir minimal zu schnell waren“ beichtete Finn zu seiner Vertretung.

„Das an sich wäre ja nicht mal das Problem“ bemerkte Seto. Von minimalen Geschwindigkeitsüberschreitungen bekam man noch nicht gleich Fahrverbot.

„Das wäre auch nicht wirklich das Problem gewesen, aber wenn Atemu sich etwas weniger aufdringlich verhalten hätte, wären wir mit einem Bußgeld davongekommen.“

„Definiere aufdringlich.“

„Ich habe nur gefragt, ob es ein Polizist oder eine Polizistin ist! Das wird doch wohl noch erlaubt sein!“

„Du hast ihn nicht wirklich so etwas gefragt“ kombinierte Seto windschnell.

„Atemu hatte daraufhin nichts bessere zu tun als ihm zu erzählen, dass er mal Sex mit einer Stripperin hatte, die sich auch als Polizist verkleidet und dann erst aussieht wie ein Mann und dann doch eine heiße Braut ist. Und wenn er dann auch noch Werbung für den Swingerclub macht und …“

„Der Swingerclub ist einsame spitze!“ bestand er auf seiner Meinung. „Ich habe eine Bonuskarte! Und die wäre auch schon voll, wenn du endlich mal mitkommen würdest!“

„Atemu, ich gehe nicht in den Swingerclub!“

„Ich habe genug gehört“ bat Seto und rieb sich die Schläfen. Warum nur war jede Unterhaltung mit Yami so furchtbar anstrengend? Er konnte sich nun doch vorstellen, dass das Fahrverbot weniger von ungebührlichem Fahrverhalten als mehr von ungebührlichem Betragen gegenüber der Justiz herrührte. Und dieses Fahrverbot half ihm bei seinem beziehungsweise Yugis Mobilitätsplanung jetzt auch nicht weiter.

„Was willst du überhaupt von Yugi? Ihr seht euch doch zuhause eh“ meinte Yami.

„Ich will eben mit Yugi fahren. Ist das so schwer zu verstehen? Das habe ich so geplant!“

„Du bist ein Kindskopf, Seto“ beschloss Yami und fand darin auch die Erklärung. Seto wollte es eben so - also gab es daran kein Vorbei.

„Wenn es dir so wichtig ist, können wir dir bestimmt entgegenkommen.“ Finn stieg vom Zaun herunter und gesellte sich zu den beiden in den Schatten. „Hansi kann mein Bike auch zurückfahren. Wenn ich ihn frage, macht er das bestimmt. Atemu und ich können dann Yugis Wagen nehmen.“

„Boah, Finni“ staunte Yami. „Du gibst dein Bike einfach aus der Hand?“

„Dafür hast du was gut bei mir“ dankte Seto und reichte ihm die Hand. Er wusste, dass Finn sein Motorrad nur sehr widerwillig von jemand anderem fahren ließ. Einige Menschen hingen an ihrem Porzellan von Großmutter und Finn eben an seinem Bike. Als er Finns Hand berührte, schoss ihm ungewollt ein Bild vor Augen. Ein Gefühl der Aufregung, des Widerwillens und der Unsicherheit wallte in ihm auf und er sah Finn als Jugendlichen in einer kleinen, unordentlichen Garage stehen. Er beobachtete einen Mann mit Halbglatze und knochigem Rücken, welcher an genau seinem Motorrad schraubte und ölverschmiert über den Lenker grinste. Seine Zähne waren fast zu groß für seinen Mund, doch das Grinsen war warm und vertraut. Dann ließ er den Motor aufheulen und beide jubelten. Jetzt wusste Seto, weshalb Finn seine Maschine nicht fremdfahren ließ. Es war das, was ihn an seinen Adoptivvater erinnerte. Das Motorrad hatte ihm gehört. Deshalb hielt er es in Ehren und würde es sich, genau wie sein Vater, niemals erdreisten ein schnödes Auto zu vorzuziehen.

„Warte, hier.“ Seto zog seinen Schlüssel aus der Hosentasche und gab sie ihm. „Du kannst auch meinen Wagen haben. Als Dank, dass ich mit Yugi fahren kann.“

„Ach, jetzt nehme ich doch nicht den Jeep?“ Finn nahm den Schlüssel und bemerkte den auffälligen Anhänger. „Du fährst einen Maserati?“

„Habe ich vorgestern gekauft, aber irgendwie ist er nichts für mich.“

„Maserati ist nichts für dich?“

„Der ist mit Automatik und ich schalte lieber. Außerdem sind die Scheiben nicht entspiegelt und die Innenausstattung ist aus Leder.“

„Lederausstattung ist aber …“

„Nicht doch. Da mussten arme, kleine Tiere für sterben“ erklärte Yami. „Seto ist jetzt unter die Ökos gegangen.“

„Du würdest auch nicht gern als Bezug für den Arsch eines anderen herhalten“ konterte er beleidigt. Er und Öko? Nein, er war nur Tierschützer! Wenn überhaupt!

„Yugis Auto steht da hinter den Bäumen. Da ist ein ganzer Parkplatz.“ Nebenbei zog Yami seinen Lover schon hinter sich her und winkte Seto. „Du weißt schon, dass wir im Auto Sex haben werden?“

„Das geht mich nichts an.“ Das war ihm jetzt auch egal. Yami hatte die Beschwerde des Drachen sofort verstanden, nur Finn nicht. Der Maserati war ein spontanes Geschenk. Und was sie nun damit oder darin oder auch darauf taten, ging ihn nichts mehr an.

„Das ist seine Art, dich in seine Sippe aufzunehmen“ erklärte Yami und schlenderte mit Finn an den beiden Reithallten vorbei.

„Ach? Er hat mich aufgenommen?“ Finn drehte sich nochmals zu Seto um, aber der kam außer Sicht als Yami ihn um die Ecke zog. „War ich vorher nicht aufgenommen?“

„Nicht von ihm.“ Yami schmiegte sich an ihn und legte sich selbst Finns Arm um die Taille. „Wir wissen im Augenblick nicht genau, wer der Alphadrache im Haus ist. Entweder der alte Tato oder Seto. Und der Alphadrache muss dich aufnehmen, sonst bleibst du bei ihnen außen vor. Du bleibst dann ein störendes Anhängsel, im besten Falle eine Art Haustier. Aber indem Seto dir die Hand und den Schlüssel gegeben hat, war das ein für ihn offensichtliches Angebot. Sollte Seto in der Rangordnung über Tato stehen, hast du gewonnen.“

„So kompliziert ist das? Für mich sah das so aus als bräuchte er nur jemanden, der ihm den Wagen hinterherfährt.“

„Du darfst die Drachen nicht mit unseren Augen sehen. So kleine Gesten sind für sie ganz riesige Zeichen wie Leuchtreklame. Wenn du Seto falsch anguckst, kannst du ihn auf die Palme treiben. Und wenn du ihn richtig anguckst, hast du einen Freund fürs Leben.“

„Aha … und wie gucke ihn ‚richtig‘ an?“

„Das musst du fühlen, mein Schatz“ lächelte Yami ihn verliebt an. „Glaube mir, wenn es gut läuft, dann fühlst du es.“

„Na gut, dann werde ich mir Mühe geben.“

„Gib ihm lieber Kekse als Mühe“ riet er aus alter Erfahrung. „Bring den Drachen beim nächsten Mal ne Ladung selbstgemachter Kekse mit. So schleimst du dich am elegantesten ein. Frag Narla, sie sagt auch, dass Einschmeicheln bei Drachen über zwei Schienen läuft. Entweder übers Futter oder über Berührungen. Und da unsere Drachen sich nicht gern von Nicht-Sippenangehörigen knuddeln lassen, bring ein bisschen Futter mit.“

„Na gut, dann backe ich Kekse, wenn du heute Abend friedlich im Bett schlummerst.“

„Dann musst du mich erst mal zum Schlummern bringen. Ich backe nämlich auch gern.“

„Ich weiß … mein Magen hat sich von deinem letzten Kuchen noch immer nicht erholt.“

„Will der Liebhaber seiner Majestät damit auf subtile Art etwas ausdrücken?“

„Wow …!“ Finn schweifte hinüber zu dem Auto, welches er jetzt neben dem matschigen Traktor erkennen konnte. Dort standen bereits zwei Stallburschen und fachsimpelten über dieses silberne Schmuckstück mit den abgetönten Scheiben. Sie stoppten aber als Yami und Finn herbeikamen und mit einem leisen Piepen die Türen aufschlossen.

Yami beobachtete genüsslich wie sein Liebster mit der Hand über den glänzenden Lack fuhr und beinahe zärtlich über den Scheinwerfer fasste. Er war eben doch nur ein Mann, der sich vom Spielzeug anderer Männer beeindrucken ließ.

„Ich wünschte, mich würdest du auch mal so streicheln“ versetzte der Pharao und ließ die beiden Stallburschen hochrot anlaufen. „Mal ehrlich, Auto müsste man sein, was Jungs?“

Die beiden sagten dazu lieber gar nichts, sondern guckten ihn mit beschämt verwirrten Blicken an.

„Nein, Maserati müsste man sein“ erwiderte Finn und öffnete vorsichtig die Tür. Wie leichtgängig sie war. Er setzte sich behutsam in den dunkelblauen Ledersitz und massierte das Lenkrad. Seine Augen leuchteten, obwohl er noch nicht mal die Füße drinnen hatte. Offensichtlich gefiel ihm das Gefährt.

„Gefällt dir, was?“ grinste Yami und lehnte sich über ihn halb aufs Dach.

„Ist mal was ganz anderes.“

„Du siehst aus als wäre das ein hoch erotischer Moment für dich.“

„Kann man so sagen“ flüsterte er und strich mit der Fingerspitze über die wenigen Knöpfe der Armatur. „Ich will gar nicht wissen was der Spaß gekostet hat.“

„Wahrscheinlich weiß Seto das nicht mal selbst. So was sind Impulskäufe“ schmunzelte er ihn an. „Freu dich einfach drüber.“

„Das tue ich. Wirklich“ nickte er und stellte vorsichtig die Beine in den Fußraum. Er bewegte sich so sachte, er genoss jeden Augenblick in diesem Geschoss von Wagen. „Angenehm viel Platz.“

„Du bist fast so groß wie Seto. Ihr seid ja beide nicht gerade Erdgewächse.“ Yami freute sich darüber wie sein Geliebter das neue Terrain erkundete. Und endlich fand er mit seinen langen Beinen auf Anhieb Platz, denn er war auch nur eine Handbreit kleiner als Seto. Somit war es nicht verwunderlich, dass er diese großzügige Sitzeinstellung als angenehm empfand.

„Meinst du, er hätte etwas dagegen, wenn ich das Verdeck herunterfahre?“

„Wohl kaum. Kannst doch damit machen, was du willst.“

„Eigentlich finde ich solche Autos übertrieben protzig und unpraktisch, aber die paar Kilometer in die Stadt werde ich genießen.“

„Und dann hoffentlich auch die nach Hause und die vielen Spritztouren, die wir diesen Sommer noch machen müssen.“

„Ich glaube kaum, dass Eraseus mir seinen Wagen so oft leihen wird. Da wäre wohl schon ne ganze Keksfabrik nötig.“

„Finni?“ Da schien irgendwas nicht richtig angekommen zu sein. Drachensprache war ja auch nicht ganz einfach. Yami kam seinem Ohr aufreizend nahe und flüsterte ganz erotisch und feucht hinein: „Mein Schatz, den hat er dir geschenkt.“
 


 

Chapter 32
 

Seto währenddessen wartete geduldig auf dem Parkplatz bis Yugi aus der Dusche zu ihm fand. Leider war der Jeep verschlossen, also lehnte er sich gelangweilt an die Fahrertür und freute sich über die Tatsache, dass Yugi im Schatten geparkt hatte. Und weil Lady lieber einem Eichhörnchen nachjagte als ihm Gesellschaft zu leisten, nahm er ein paar Zweige vom Boden auf und drapierte sie der Größe nach auf der Gepäcksicherung eines auf dem Parkplatz abgestellten Autoanhängers.

Nach getaner Arbeit zündete er sich eben eine Zigarette an und ignorierte die Sportler, welche nach und nach auf den Parkplatz kamen. Die ersten beiden teilten sich eine rote Klapperkiste, der nächste stieg in einen etwas netteren schwarzen Kombi und der vierte fuhr gar gleich mit dem Fahrrad und grüßte Seto sogar so freundlich zurückhaltend, dass er ein Nicken von ihm bekam. Die nächsten beiden verabschiedeten sich voneinander, der eine fuhr mit einem dunkelgrünen Fiat davon und der andere mit Finns Motorrad. Das war dann wohl der sogenannte Hansi, dem Finn ausnahmsweise sein Baby anvertraute, um Seto einen Gefallen zu tun. Hoffentlich hatte Finn die Geste verstanden und fand an seinem neuen Auto Vergnügen. Vielleicht hätte Seto auch etwas freundlicher mit ihm sprechen können. Immerhin hatte er bisher recht wenige Worte mit ihm gewechselt und kaum Interesse signalisiert. Es war nicht leicht, ihn an Yamis Seite zu sehen. Es war nicht leicht, ihm nicht die Erwartungen an Seth aufzubürden. Finn war kein zweiter Seth und Yami sah ihn wohl auch nicht als Ersatz. Dennoch fühlte Seto sich merkwürdig bei ihren verliebten Blicken. Finn konnte nichts dafür, dass Seth sich von ihnen entfernt hatte. Er war eher dafür verantwortlich, dass der alte Pharao aus seinem Depressionstief herausgekommen war und neuen Lebensmut schöpfte. Seto beschloss, dass er sich Mühe mit ihm geben wollte. Finn war nicht schuld daran, wenn Yami und Seth auseinandergingen. Er war ein guter, ein aufrechter und charakterstarker Mann. Dennoch … zu sehen wie Yami einen anderen Mann als Seth so verliebt ansah …

„Hey! Den kenne ich!“ Seto blickte bei Yugis Stimme auf. Endlich kam auch der zum Parkplatz und hatte sogar die Haare noch nass. Der Wind trug seinen guten Duft herüber, welcher mit Essenzen von Seife und isotonischen Getränken verwoben war.

„Dann bis Freitag!“ verabschiedete sich sein Begleiter, der in des Drachens Nase nur nach billigem Duschgel und nicht halb so gut wie sein Yugi roch, mit einem Handschlag und winkte im vorbeigehen auch Seto zu. „Mach’s gut, Yugis Mann!“

„Hrm“ brummte Seto und warf ihm einen finsteren Blick zu. Doch den billigen Duschgeltypen störte das gar nicht. Der schloss seinen schwarzen Kastenwagen auf, schmiss die Sporttasche auf den Beifahrersitz, knallte die Tür hinter sich zu und raste mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. Bei dem Fahrstil hätte er sich wohl besser anschnallen sollen …

Yugi berührte zwar Setos Arm, aber verfrachtete nebenbei seine eigene Tasche auf den Rücksitz zwischen die beiden Kindersitze und hielt Seto dann den Schlüssel vor seine gekräuselte Nase. „Willst du fahren?“

„Nein?“ antwortete und fragte er gleichzeitig. Endlich wandte er seinen Blick herunter in Yugis warm glänzenden Augen. „Was glotzt du mich so an?“

„Weil du da stehst wie angewurzelt und ich nicht einsteigen kann.“

„Sag doch einen Ton“ grummelte er und trollte sich auf die andere Seite. Natürlich legte er keinen gesteigerten Wert darauf, selbst fahren zu wollen. Bei Yugi fuhr er lieber nur mit. Er mochte Yugis Fahrstil und wenn der nicht schon einen Job hätte, würde er ihn sofort als Chauffeur einstellen - und sich dafür einen Campingwagen kaufen und nur noch mobil arbeiten und nie wieder ins Büro gehen.

Als er Platz genommen hatte, grinste Yugi ihn schon an.

„Was denn schon wieder?“ motzte er und verlor sofort jeden Gedanken.

„Du hast so in dich hineingelächelt, mein Engel. Woran hast du gedacht?“

„Magst du Wohnmobile?“

„Ähm …“

„Dann frag nicht so doof.“ Also wirklich, nicht mal in Ruhe träumen durfte man. Während stur zum Fenster hinausblickte, zuckte Yugi mit den Schultern und war auch schon dabei, sein Navigationsgerät auf den Rückweg einzustellen.

„Und wie war’s?“ fragte Seto dunkel.

„Hast’s ja gehört. Ich bin für Freitag zum nächsten Training eingeladen.“ Und bei dem ganzen Gemeckere dachte Yugi sich nichts weiter. Dass Seto vor sich hinschimpfte, war ja nun wirklich keine Seltenheit. „Ich denke, solange wie wir hier sind, würde ich gern mit der Mannschaft trainieren. Ist ne lustige Truppe und ein bisschen Bewegung tut mir auch gut. Wenn sie mich überhaupt aufnehmen, heißt das. Aber ich bin zuversichtlich.“

„Muss es denn unbedingt Polo sein?“

„Warum nicht Polo?“

„Das ist so gewalttätig. Du könntest dich verletzen. Oder jemand anderes könnte dich verletzen.“

„Ich liebe dich auch.“ Darüber diskutierte er nicht weiter. Sobald er merkte, dass Seto ihm die Sache ausreden wollte, vertagte er das Diskutieren auf später. Wenn Yugi ein neues Hobby fand, bedeutete das Veränderung. Veränderung des Tagesablaufs, Veränderung des Bekannten- und vielleicht sogar Freundeskreises. Seto mochte Veränderungen nicht und deshalb würde Yugi ihm einfach vorleben, dass es nichts gab, worüber er sich jetzt Gedanken machen musste. „Fährt Finn mit deinem Auto zurück, mein Herz?“ Er lehnte sich herüber, nahm Setos Hand und lächelte ihm zu.

„Das ist nicht mehr mein Auto“ erwiderte er. „Ich hab’s ihm geschenkt.“

„Geschenkt. Den zwei Wochen alten Ferrari oder den nur einen Tag alten Maserati?“

„Zweiteres.“

„Du verschenkst einfach mal so dein niegelnagelneues Auto.“

„Der hatte Automatik.“

„Ach soooooo!“ Yugi schüttelte den Kopf. Was wunderte er sich überhaupt noch? Er kannte Seto doch mittlerweile gut genug. „Hat Finn sich wenigstens gefreut?“

„Weiß ich nicht. Hoffe mal.“

„Warum weißt du das nicht?“

„Hast du gewusst, dass er sein Motorrad von seinem Vater geerbt hat? Sein Vater hatte ein einnehmendes Grinsen und Finn hat ihn sehr geliebt. Obwohl er nur adoptiert war, waren sie eine eingeschworene Familie. Sein Vater fühlte sich an wie ein guter Mann. Finn ist sehr traurig, dass er tot ist. Eigentlich ist er ein Familienmensch, aber er hat Probleme, sich anderen zu öffnen. Zu viele Verluste haben sein Vertrauen in die Menschen getrübt. Ich frage mich, ob sein Vater verheiratet war …“

Yugi konnte Setos Gedankensprüngen mittlerweile recht gut folgen und kombinierte diese Sätze in ein passendes Bild. „Ich finde es gut, dass du dich mit Finn auseinander setzt. Ich hatte schon befürchtet, du ignorierst ihn weiter.“

„Ich habe ihn nie ignoriert.“

„Aber besonderes Interesse hast du auch nicht gezeigt. Yami hatte teilweise Bedenken, ihn mitzubringen, weil sowohl du als auch Tato ihn links liegen gelassen habt.“

„Haben wir nicht. Ich habe mich schon mal mit ihm unterhalten.“

„Aber ‚Guten Tag‘ und ‚Hast du Nini gesehen?‘ sind keine Unterhaltungen im eigentlichen Sinne, mein Herz.“

„Ich wollte nicht, dass Yami Bedenken hat. Warum hat er nichts gesagt? Oder warum hast du nichts gesagt?“

„Weil er sich wünscht, dass es von dir aus kommt.“ Yugi küsste Setos Hand und hielt sich die kalten Finger in seinen feuchten Nacken. Er liebte es einfach, das zu tun. Wenn man schon einen coolen Mann hatte, durfte man das auch ausnutzen - besonders an so warmen Tagen wie heute. „Er weiß, dass es für euch alle schwierig ist, Finn nicht als Ersatz für Seth zu sehen. Besonders für dich, weil du Seth näher stehst als jeder andere. Es ist wichtig für Yami, dass besonders du Finn als seinen Partner akzeptierst. Yami hat sich verliebt und ich denke, sein Herz hat eine gute Wahl getroffen.“

„Ich weiß, dass Finn Seth nicht verdrängen will. Er hat ein gutes Herz und er weiß genau, wo er steht. Er hat mir vorhin die Hand gegeben. Er war sehr aufgeregt. Es ist ihm wichtig, was wir von ihm denken. Er macht sich viele Gedanken über uns.“

„Du hast also seine Gefühle gelesen.“

„Ich habe vermehrt Aussetzer in meiner Beherrschung“ gab er zu und entzog Yugi seine kühlende Hand. „Ich will es nicht, aber ich muss mich immer stärker konzentrieren, um mich auf das gesprochene Wort zu fokussieren. Manchmal bemerke ich den Unterschied zum gedachten Wort, manchmal nicht. Ich habe damit zunehmend Probleme.“

„Okay.“ Das nahm er vorerst so zur Kenntnis. Was genau das bedeutete, das musste er erst genauer erfragen. „Hast du noch mehr Probleme mit deiner Magie? Oder anderen Dingen? Irgendetwas, von dem ich besser Kenntnis haben sollte?“

„Meine Sinne verwirren mich“ erzählte er und blickte gedankenversunken die Anzeige des noch ausgeschalteten Radios an.

„Du meinst deine fünf Sinne?“

„Ja … manchmal ist es schwer … ich finde mich manchmal schwer zurecht.“ Er knetete mit den Fingerspitzen seine Krawatte und mühte an der Formulierung. „Gestern bin ich im Büro gegen die geschlossene Tür gelaufen. Ich habe nicht hingesehen, aber es hat sich angehört und so gerochen als wäre sie offen. Ich habe Joey reden gehört und Svalas Kakao gerochen. Ich habe mich so sehr auf meine anderen Sinne verlassen, dass ich nicht mehr hingesehen habe. Und ich habe vergessen, dass ich alles intensiver wahrnehme als zuvor. Das hat mich erschreckt.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen. Hast du deine Beule?“

„Ja. Da“ zeigte er irgendwo in sein wieder kürzeres Haar hinein.

„Armer Liebling. Komm mal her.“ Yugi kraulte ihm den Kopf, aber nahm die Hand dann wieder herunter. Seto sagte es nicht, aber er signalisierte mit seiner verschlossenen Körperhaltung, dass er im Augenblick lieber nicht angefasst wurde. Und daran musste sich auch Yugi ab und zu halten.

„Und heute stand ich auf der Straße und habe die Orientierung verloren“ erleichterte er weiter seine Herz. „Die Geräusche, Autos auf der Straße, Handyklingeln, Stöckelschuhe … und die Gerüche von dem Griechen gegenüber, von den Kanalarbeiten, das Parfüm der Empfangsdamen, ein toter Vogel im Gebüsch … und plötzlich waren alle Farben so grell und alles hat sich so schnell bewegt und … ich dachte, ich werde wahnsinnig …“

„Was hast du dann getan?“ Offensichtlich war er aus dieser Situation irgendwie herausgekommen. Würde er es nicht beichten, wäre es ihm auch nicht anzumerken gewesen, dass er Probleme hatte.

Seto öffnete den Knopf seines Hemdärmels und zeigte Yugi eine recht frische Wunde. Eine hellrote Kruste zog sich über den schmalen, einige Zentimeter langen Schnitt. So hatte er sich aus der Situation befreit. Er hatte sich versichert, dass er noch da war, dass er noch eigene Gefühle hatte. Er flüchtete kurzfristig in alte Verhaltensmuster, die ihm eine wenn auch zweifelhafte so doch eine Sicherheit gaben. „Tut mir leid.“

„Schon gut. Und ich wundere mich noch, dass du bei diesem Wetter lange Hemden trägst …“ Das konnte er ihm nicht zum Vorwurf machen. Wie Seto sich fühlte, konnte Yugi nur mit viel Fantasie nachempfinden. Wahrscheinlich stand er unter großem Stress. Und er hatte anscheinend doch Probleme mit seiner Veränderung. Diese Probleme traten eher im Verlaufe der Zeit hervor und nicht sofort. Es wäre auch sehr verwunderlich, wenn das alles so gar keinen Effekt auf ihn haben würde.

„Ich wollte mich nicht mehr verletzen. Ich habe dir versprochen, dass ich es lasse und ich will mein Versprechen auch nicht brechen.“

„Viel wichtiger ist, dass du mit mir darüber sprichst“ tröstete er und legte zärtlich seine Hand über die verletzte Stelle. „Sobald Sethos wieder normal ansprechbar ist, kann er dir sicher helfen. Und wegen deiner sensiblen Sinne kann Tato dir vielleicht einen Rat geben. Er ist älter und seine Sinne sind wahrscheinlich ähnlich ausgereift wie deine.“

„Ich habe ihn schon gefragt“ seufzte Seto und klang weniger begeistert.

„Und?“

„Er sagte, er sei da reingewachsen und ihn störe das weniger. Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich verwirrt bin.“ Denn das zuzugeben, fiel ihm schwer.

Auch wenn Yugi sich fragte, ob es daran läge, dass er und sein älterer Sohn eventuell in Konkurrenz zueinander standen, fragte er ihn dennoch nicht. Erst mal musste er sich um die echten Probleme kümmern. Und bei Lösungen war er ähnlich kreativ wie Amun-Re. Wenn man selbst nichts tun konnte, musste man sich auf die verlassen, welche sich auskannten. „Dann fragen wir Narla.“

„Narla?“ An sie hatte Seto offenbar weniger gedacht. „Ich weiß, dass Narla auch verstärkte Sinne hat und in mir lesen kann, aber ihre Kräfte werden mit jedem Jahr schwächer … sie jagt ja nicht mehr …“

„Ich denke auch weniger an ihre Sinne als mehr an ihr Fachwissen. Niemand kennt sich so gut mit Drachen aus wie sie. Gustav hat ihr vor einiger Zeit sogar seine Aufzeichnungen über Weiße Drachen zur Verfügung gestellt. Er hat ein ganzes, dickes Buch zusammenbekommen. Ich bin mir sicher, sie kennt einen Weg wie wir deine Sinne auf ein handelbares Maß dämpfen können. Das soll keine Lösung auf Dauer sein, aber vielleicht hilft es dir, damit du keine Panikattacken bekommst und nicht gegen Türen rennst.“

„Erzähle das bitte niemandem!“

„Nein, werde ich nicht“ versprach er und streichelte seine Hand. „Wir finden eine Lösung für dich. I c h finde eine Lösung für dich. Versprochen.“

„Können wir jetzt die Klimaanlage anmachen?“

Yugi lachte und tat ihm den Gefallen. Er trat die Kupplung, ließ den Motor an und nahm den Gang heraus. Er regelte die Klimaanlage auf 16 Grad herunter und sah beim Blick nach vorn zufällig wie Lady auf einem Ast landete und einen roten Pelz auseinander pflückte. „Irgendwie habe ich auch Hunger.“

„Auf Eichhörnchen?“

„Glaubst du, sie gibt mir was ab?“

„Wohl kaum. Sollen wir irgendwo anhalten und was essen gehen?“

„Nur wir zwei?“ lächelte er ihn verliebt an.

„Vorausgesetzt, Lady will nicht mit.“ Er ließ das Fenster zur Hälfte herunter und rief hinaus: „Kommst du mit oder fliegst du selbst?“

Sie krächzte verächtlich und hob nicht mal ihren Kopf. Genau wie Seto wurde sie nicht gern beim Essen gestört.

„Sie findet schon selbst zurück.“

„Na gut, dann los.“ Er legte den Rückwärtsgang ein und wollte gerade ausparken als Seto ihm unvermittelt zwischen die Beine sprang. „HUCH?! Was ist denn jetzt los?“

„Die Transformers sind los.“ Er kramte sich tiefer, legte den Kopf auf Yugis Knie und griff weit unter den Sitz. „Ist nichts persönliches.“

„Schade. Aber, wenn du schon da unten bist, Liebling …“

Er stoppte das Kramen und drehte seine kalten Augen drohend hinauf. „Kein weiteres Wort.“

„Ach, ist aber gerade so schön.“

„Warum sieht’s überall, wo Tato war, hinterher aus wie inner Rumpelkammer?“

„Hast du’s gleich?“

„Gleich. Das Scheißding hat sich verkeilt.“ Er rutschte noch etwas tiefer und Yugi konnte nur seine Beine spreizen, um ihm noch etwas Platz zu geben. „Lass doch. Wir basteln ihn dann später von hinten raus.“

„Und wenn er sich während der Fahrt löst und nach vorne rollt und die Bremse blockiert und wir einen Unfall haben?“

„Meine Güte, deine Gedankengänge. Wenn Optimus Prime sich verkeilt hat und du ihn nicht mal manuell rausbekommst, wird er sich wohl kaum während der Fahrt lösen, geschweige denn nach vorn rollen.“

„Das ist nicht Optimus Prime. Das ist Cybertron.“

„Ist das wichtig?“

„Du solltest doch wohl wissen, was dein Sohn unter deinem Autositz deponiert.“

„Meines Erachtens nach wird Optimus Primadonna sich genauso wenig lösen und durch die Gegend rollen wie Cybertunte.“

„Yugi! Mann!“

„Bist du da gleich mal fertig? Meine Beine schlafen ein … oh, hi!“

„Was?“ Seto kam hoch und sah, dass Yugi jemandem zuwinkte. Der Typ, der extra spät duschen gegangen war, um ihm nicht noch mal zu begegnen. Ausgerechnet der fuhr gerade mit seinem Moped an ihnen vorbei und lief nicht nur wegen der Sommerwärme rot an. Er starrte zwischen Seto und Yugi hindurch, beschleunigte dann seine Fahrt und beeilte sich, dass er vom Hof kam. „Der schon wieder.“

„Tja, der hat wohl die Zeit verplant“ meinte Yugi und sah ihn im Rückspiegel davonbrausen. „Ich glaube, jetzt hast du ihn in Verlegenheit gebracht.“

„Warum ich? Ich habe nichts gemacht.“

„Der glaubt jetzt wahrscheinlich, dass du da unten sonstwas gemacht hast.“

„Was sollte ich denn da gemacht haben?“

„Na ja. Zwei Schwule im Auto, wovon der Beifahrer mit dem Kopf im Schoß des Fahrers hängt. Die Wahrscheinlichkeit, dass nach einem Transformer gekramt wird, ist sehr alarmierend, oder?“

„Natürlich, wir haben Kinder! Und dabei einen kleinen Jungen, der auf technisches Spielzeug abfährt!“

„Ach Seto …“

„Was denn? Guck mich nicht so an!“

„Der hat das gedacht, was ich mir gewünscht habe.“

„Ähm … was jetzt? Dass Cybertron nicht nach vorne rollt?“

„Der dachte, du bläst mir einen.“

„Ach so … Idiot.“ Seto schnallte sich an, ließ den Transformer wo er war, schlug die Beine übereinander und stierte aus dem Fenster. Da räumte man ein Mal auf und wurde schon der Unzucht beschuldigt. Verdammt, das ging ihm auf die Nerven.

„Du bist so süß“ schmunzelte Yugi und konnte nun endlich ausparken. Das Navi schickte ihn rechts herum, aber er bog links ab. Finn hatte ja gesagt, er solle die Hauptstraße mit den vielen Schlaglöchern lieber vermeiden. „Wo möchtest du denn essen gehen, Schatz?“

„Mir egal.“

„Jetzt schmoll nicht“ lachte er, drehte das Radio an und verfrachtete die Sonnenbrille von der Ablage auf seine Nase. „Schau mal, da hinten stehen Kühe.“

„Wo?“

„Da.“ Er zeigte nach vorn und machte Seto damit eine Freude. Eine ganze Wiese voll mit schwarzweißen Kühen. Seto liebte Kühe. „Mein Herzchen, was gibt die Kuh?“

„Milch“ lächelte Seto und behielt seine Lieblingstiere im besten Blick.

„Und die schwarzweißen?“

„Milch für Kaffee.“

„Und die braunweißen?“

„Milch für Kakao.“

„Sehr schön.“

„Irgendwie bekomme ich jetzt Appetit auf Kaffee.“

„Im Handschuhfach liegt noch Apfelsaft von Tato.“

„Ich habe gesagt Kaffee.“ Und brummend setzte er hinzu: „Und da behaupte noch mal einer, ich wäre verplant im Kopf.“

„Ja ja, ist ja gut.“ Yugi schmunzelte ihm kurz zu, aber Seto guckte weiter aus dem Fenster. Am besten ließ er ihn erst mal dampfen und wartete bis die Klimaanlage eine für ihn angenehme Temperatur hergestellt hatte.

Irgendwann lehnte er sich zurück und schien zu entspannen. Es war angenehm, ihn neben sich zu haben. Sie hatten selten einen Moment zu zweit. Meistens waren die Kinder dabei oder irgendjemand anderes oder er kümmerte sich um die Katzen oder die Falken oder im Zweifelsfalle seinen Laptop. Es war nicht immer einfach mit einem erfolgreichen Geschäftsmann, aufopfernden Vater oder Tierliebhaber verheiratet zu sein. Aber manchmal tat er auch so süße Sachen wie ihn abzuholen und spontan essen zu gehen. Endlich mal Zeit zu zweit. „Wie läuft es denn so im Büro? Wie stehen die Aktien?“

„Mittelmäßig. Die unsicheren Finanzmärkte hängen uns an den Hacken, aber wir sind gut abgesichert.“

„Ist doch prima.“

„Ja, aber viel Arbeit. Die Konkurrenz hat ihre Finanzprodukte riskanter ausgelegt und ihre Kunden natürlich verprellt. Zudem hat Joey eine Werbekampagne initiiert und genau zum richtigen Zeitpunkt platziert. Jetzt pilgern viele zu uns, weil sie doch wieder die Sicherheit und Bodenständigkeit eines großen Unternehmens wie der Kaiba Corp. suchen. Risiko ist out, sichere Geldanlagen sind in und die Anleger wissen, dass sie bei uns vortrefflich beraten werden. Gut für unseren Gewinn, aber schlecht fürs Privatleben. Viele Kunden fordern viel.“

„Habt ihr denn überhaupt nichts bei dem Bankencrash verloren?“

„Natürlich. Einige, mehrstellige Millionenbeträge“ antwortete Seto routiniert.

„Und das macht nichts?“

„Doch. Macht viel. Aber ich habe nicht nur in Risikogeschäfte angelegt. Besonders nicht die Gelder der Privatkunden. Spekulieren ist mehr so ein Spielkram von mir. Noah hat’s auch nur mit einem Nicken abgetan und gemeint, wir beschränken uns weiter auf den Kern.“

„Den Kern.“ Wovon auch immer sein Mann da sprach … „Und dein ‚mehrere Millionenbeträge-Spielkram‘?“

„Ist weg. Aber das war abzusehen, also hat’s uns nicht so hart getroffen. Noah gibt mir regelmäßig einige Budgets frei, mit denen ich dann pokern kann. Ich habe viel davon in Edelmetalle und andere Staatsanleihen umgeschichtet und damit das Minus etwas aufgefangen. Gold ist im Preis enorm gestiegen, Anleihen auch bis zu 25% und das ist so viel wie seit Jahren nicht. Gozaburo hat mir damals beigebracht, mich nicht auf die Meinungen der ‚Experten‘ zu verlassen, sondern meinen gesunden Menschenverstand zu behalten. Ob der so gesund ist, weiß ich nicht, aber mit Zahlen, Diagrammen und Wirtschaftsprognosen komme ich ganz gut zurecht.“

„Sonst wärst du ja auch nicht Vorstand für Finanzen und Entwicklung.“

„Noah könnte das genauso gut, aber der hat zusätzlich andere Qualitäten, die bei mir defizitär sind. Soziale Qualitäten.“

„Trotzdem passt dein Job zu dir. Joey kann zwar auch viel, aber ich glaube, mit Zahlen und vorausschauendem Handeln hat er’s nicht so.“

„Joey kann Leute davon überzeugen, Sachen zu kaufen, die sie eigentlich gar nicht brauchen. Wäre er nicht bei uns, würde er Autos oder Gewinnspiele verkaufen.“

„Ist das nicht etwas simpel ausgedrückt?“

„Joey ist simpel.“

„Wenn du es sagst.“

„Eigentlich wollte ich über etwas anderes mit dir reden.“ Seto machte die ganze Zeit schon nicht den Eindruck als würde ihn das Gespräch besonders interessieren. Stattdessen blickte er aus dem Fenster und schien irgendwo anders zu sein.

„Okay. Und worüber?“

„Das ist nicht so einfach.“ Er legte seine Arme um den Bauch und senkte den Blick auf den Straßenrand.

Yugi ermutigte ihn und berührte sanft seine kühle Hand. „Du weißt doch, dass du über alles reden kannst, mein Engel. Was liegt dir auf dem Herzen?“

„Ich bin nicht davon … bitte lass mich erst ausreden, bevor du dir ein Urteil bildest, ja? Kannst du das?“

„Natürlich. Ich höre zu“ versprach er und legte beide Hände ans Lenkrad. Er sah ihn auch zwischendurch nicht mehr an, um ihm das Reden zu erleichtern. Wenn er so angespannt war, musste es sehr auf sein Herz drücken.

„Ich bin nicht davon überzeugt, dass das, was Seth tut, falsch ist“ gestand er und versuchte so gut es ging, seine Worte auszuwählen. „Ich meine, natürlich ist es falsch, dass er Menschen tötet und sie unterjocht. Aber Seth ist im Grunde kein böser Mensch und deshalb glaube ich auch nicht, dass alle seine Taten böse sind.“

„Hitler hat auch einige, gute Taten begangen.“

„Yugi, du wolltest mich ausreden lassen“ bat Seto leise.

„Tut mir leid. Aber ich finde nichts Gutes daran, Menschen zu töten und den großen Überwachungsstaat zu installieren. Seth löscht Menschenleben im großen Stil aus. Er missbraucht seine Kräfte und beraubt die Menschen ihrer Persönlichkeitsrechte. Jeder, der nicht seiner Meinung ist, wird abgestraft. Wenn gute Menschen, so etwas tun, sind es in meinen Augen keine guten Menschen mehr. Ich liebe Seth, aber was er tut, kann ich nicht gutheißen.“

„Aber hast du dich jemals gefragt, warum er das tut?“

„Wir wissen alle, warum er das tut. Er sieht Yami nicht mehr als vollwertigen Pharao geachtet und sich selbst nicht mehr als vollwertigen Priester. Er will die Ordnung seines Ägyptens zur neuen Weltordnung machen.“

„Ich wusste, ich hätte nicht darüber reden sollen.“ Seto sah demonstrativ von Yugi weg und der seufzte tief. Sehr tief. Dieses Thema war immer schwierig und es gab keine Lösung. Es war wie eine Entscheidung darüber, ob die Todesstrafe gerecht war. Durfte man jemanden, der andere Menschen quälte und tötete dann auch töten, um der Gerechtigkeit willen? Es gab Anschauungen, welche dafür sprachen. Es gab aber auch Anschauungen, welche es ablehnten. Es gab Fragen, auf die es keine einzelne Antwort gab, sondern viele, welche sich widersprechen konnten. So war es auch mit Seth. Ja, er war ein guter Mensch. Und ja, er war ein Tyrann.

„Tut mir leid“ entschuldigte Yugi sich dann doch. Er wusste, dass Seto diesem Thema gespalten gegenüberstand. Auch das musste er verstehen. „Ich habe mich hinreißen lassen. Worüber wolltest du genau sprechen?“

„Ist jetzt auch egal.“

„Seto, jetzt sei vernünftig.“

„Bin ich doch. Seth ist schlecht. Punkt. Vernünftig genug?“

„Nein, du bist jetzt nicht vernünftig, sondern bockig.“ Er legte ihm die Hand aufs Knie und lenkte mit gedrosselter Geschwindigkeit um die langgezogene Kurve der Landstraße. „Liebling, es tut mir leid. Bitte sag mir, was du sagen wolltest.“

„Du bist nicht für meinen Standpunkt offen. Also kann ich’s auch lassen.“

„Liebling.“

Jetzt seufzte Seto und erweichte sich doch noch einmal. Er legte seine Hand auf Yugis, aber wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen. „Ich weiß, dass Seth böse Dinge tut. Aber ich will verstehen, warum er das tut. Ich weiß, ich habe dir versprochen, dass wenn es zu einem Aufeinandertreffen kommt, dass ich dann hinter dir stehe. Das würde ich auch. Aber ich wäre nicht davon überzeugt, dass ich das Richtige tue. Ich bin nicht Seths Meinung … aber ich bin auch nicht von deiner Meinung überzeugt.“

„Aha. Und nun?“

„Nun …“

„Was willst du nun tun? Dich bei einem Kampf gegen Seth heraushalten und wer verliert, der hatte Unrecht?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Ich sage es nur ungern, aber Seth wäre bereit, auch uns zu töten. Selbst dich und mich. Und auch wenn er Yami nicht töten würde, so würde er ihn auf einen Thron zwingen und ihn in einer Welt gefangen halten, die sein Pharao nicht will. Seth geht keine Kompromisse ein - im Gegensatz zu uns.“

„Ich will aber nicht von ihm oder uns sprechen. Wir sind immer noch eine Familie.“

„Nein, das sind wir nicht“ erwiderte Yugi mit möglichst ruhiger Stimme. „Ich liebe Seth, aber er zerstört uns.“

„Du sagst das immer mit einem Aber“ stellte Seto traurig fest. „Ich liebe Seth, aber dies. Ich liebe Seth, aber das oder jenes. Ich will das nicht. Ich liebe Seth. Ich will dieses Aber nicht mehr sagen müssen.“

„Ich verstehe dich ja, mein Engel. Du leidest unter dem, was dein Yami tut und ich kann verstehen, dass du ihn nicht aufgeben kannst. Aber Liebe bedeutet nicht Hörigkeit. Liebe bedeutet auch, sich in den richtigen Momenten dem anderen entgegenzustellen.“

„Deshalb stelle ich mich deiner Meinung entgegen“ brachte er leise heraus.

„Weil du mich liebst oder weil du Seth liebst?“

„Weil ich euch beide liebe und ich nicht zwischen euch wählen will. Ich weiß, dass ich mich im Zweifel immer auf deine Seite stellen muss. Aber ich kann nicht mit ganzem Herzen für dich eintreten, wenn ich Zweifel habe.“

„Wir drehen uns im Kreis“ befürchtete Yugi und streichelte seine Hand mit dem Daumen. „Ich verstehe dich ja, aber was schlägst du vor? Es wird nicht ewig so ruhig bleiben wie im Augenblick.“

„Ich wollte dir sagen, was ich denke“ erwiderte er und ließ den Kopf hängen. „Es hört sich für dich vielleicht merkwürdig an, wenn ich das sage, aber ich möchte mir Seths Standpunkt wenigstens ansehen. Ich möchte sehen und verstehen, was ihn antreibt. Was ihn wirklich antreibt.“

„Auch auf die Gefahr hin, dass du nichts für ihn tun kannst? Auch auf die Gefahr hin, dass er dich mit sich hinunterzieht?“

„Er ist mein Yami. Ein kleiner Teil unserer Seele ist eins und wird es immer sein. Ich bin es ihm schuldig, dass ich wenigstens versuche, ihn zu verstehen.“

„Ich will nicht, dass auch wir uns voneinander entfernen“ bat Yugi und lenkte seinen Wagen an den Straßenrand, wo er ihn anhielt und den Motor ausschaltete. „Schatz, du bist sehr naiv und leicht zu verwirren, wenn es um Gefühle geht. Ich befürchte, dass Seth dich auch ohne sein Zutun schon sehr verwirrt.“

„Vertraust du mir nicht?“

„Auch Yami hat Seth vertraut. Ich will nicht, dass wir die Fehler unserer Yamis wiederholen. Wenn Seth dich auf seine Seite zieht, kann die Welt einpacken. Und ich auch.“

„Du glaubst, ich wäre dazu in der Lage, Menschen zu töten?“

„Ja, ich glaube, dazu wärst du in der Lage“ antwortete Yugi und trieb seinem Priester damit Tränen in die kalten Augen. Dennoch sprach er sanft weiter. „Ich will damit nicht sagen, dass ich glaube, dass du es tun würdest, aber du wärst befähigt, es zu tun. Wenn jemand die Menschen bedroht, die du liebst, dann geht der Beschützer mit dir durch. Und hinterher wärst du über deine eigene Tat verzweifelt. Deswegen möchte ich nicht, dass du in die Drangsal kommst, über Leben oder Tod eines anderen zu entscheiden. Du bist mit deinem eigenen Leben schon überfordert. Deshalb möchte ich dir diese Entscheidung nicht überlassen. Überlasse bitte mir, was wir tun. Und wenn die Entscheidung falsch war, dann gib auch mir die Schuld und keinem anderen.“ Er wischte Seto eine Träne unter der Sonnenbrille heraus, aber er bekam keinen Blick von ihm. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen. Ich möchte nur, dass wir ehrlich miteinander sind.“

„Ich weiß ja, dass du Recht hast.“ Er riss sich zusammen, um möglichst verständlich zu sprechen und den Frosch in seinem Hals auszuspucken. „Warum halten wir hier?“

„Du wolltest doch einen Kaffee trinken.“ Er zeigte zum Beifahrerfenster hinaus auf ein kleines Häuschen, welches von riesigen Linden verdeckt vor einem Feld stand.

„Ist das ein Café?“

„Sieht ein bisschen urig aus, aber ist ein Geheimtipp.“ Er zog die Sonnenbrille von der Nase und lächelte seinen Liebsten besänftigend an. „Angeblich gibt es dort den besten Gugelhupf der Welt. Hat mir jedenfalls die Freundin von einem aus der Polomannschaft erzählt.“

„Besser als ihrer bestimmt, aber besser als deiner wohl kaum.“

„Du bist süß. Wollen wir reingehen?“ Auch schon, um ein bisschen von diesem schwierigen Thema wegzukommen. Das „Hm“ von Seto deutete er mal als Zustimmung und löste dessen Anschnallgurt, bevor er die Tür öffnete. „Pass auf, dass du beim Aussteigen keinen Hitzeschlag bekommst.“
 

Sie stiegen aus und gingen händchenhaltend auf das Hexenhaus zu, welches so versteckt auf Wald und Wiese stand. Das tiefhängende Dach aus dunklem Reet, die Wände aus massivem Holz und die Fenster altmodisch mit Schnörkeln beschnitzt und in Flügelfunktion. Beim Näherkommen sahen sie vor dem Häuschen einige Fahrräder stehen. An der Seite etwas versteckt standen sogar Pferde im Schatten der Bäume und rupften das Gras bis zu welchen ihre Leinen reichten. Auf der anderen Seite waren vier der fünf Parklücken mit Autos bestellt.

Beim Eintreten war das Hexenhäuschen gar nicht so leer wie man gedacht hätte. Direkt geradezu stand eine große Holztür weit offen und ließ das Murmeln einiger Leute und das Lachen von Kindern herein. Hier drinnen saß nur ein alter Mann, der sich hinter einer Tageszeitung versteckte und seine Tasse ausschlürfte. Der Tisch, die Ecke und der einzelne Stuhl passten so gut zu ihm, dass er selbst zum Inventar zu gehören schien. Alle anderen Tische waren unbesetzt, aber mit freundlichen Häkeldecken belegt und die kurzen Kerzen nicht angezündet. An den Wänden wuchtige Ölgemälde von blumigen Landschaften und zu den Fenstern heraus sah man auf das weite Kornfeld oder eben das grüne Blätterdach der Linden. Es war recht dunkel und urgemütlich. Es duftete nach Kaffee und Kuchen.

„Sieht aus wie in Urgroßmamas Wohnzimmer, was?“ scherzte Yugi über die altmodische Einrichtung.

„Süße Tischdeckchen“ bemerkte er und Yugi musste leise lachen. Nicht weil es so treffend sarkastisch klang, sondern weil es gar nicht sarkastisch gemeint war. Wahrscheinlich mochte Seto diese Spießigkeit tatsächlich.

Endlich huschte von draußen eine junge Frau herein. Bekleidet mit einer engen, weißen Bluse, einem kurzen, braunen Rock und einer Schürze, welche ähnlich aussah wie ein Tischdeckchen. Sie klemmte das leere Tablett unter den Arm und kam lächelnd auf die beiden zu, welche sich an den Händen hielten und im leeren Raum ganz verloren wirkten.

„Guten Abend“ grüßte sie und lächelte hell zu Seto hinauf. „Suchen Sie einen Tisch?“

„Nein, wir haben nur geschaut.“

„Draußen haben wir nur noch wenig frei, aber wir finden bestimmt etwas Nettes für Sie. Sonne oder Schatten?“

„Können wir nicht drinnen sitzen?“ Seto zog es nicht raus in die Sonne. Hier drin war es kühl und vor allem waren hier keine glotzenden Leute.

„Natürlich. Suchen Sie sich etwas aus.“ Sie machte eine Geste in den Raum und trat schon wieder einen Schritt zurück. „Ich bin gleich wieder bei Ihnen. Darf ich Ihnen dann schon etwas zu trinken mitbringen?“

„Ja, Kaffee. Schwarz“ bestellte er für sich und sah dann zu Yugi hinunter. „Und du?“

„Cola ohne Zitrone“ bat er und erwiderte ihr nickendes Lächeln.

„Kommt sofort.“ Und schon war sie wieder davongehuscht.

Sie suchten sich einen Tisch am Fenster. Seto zog die Sonnenbrille ab und sah hinaus zu den Pferden, welche dort gelangweilt die Fliegen mit ihren Schwänzen vertrieben. Erst als Yugi ihm die Karte hinlegte, wachte er auf und sah ihn überrumpelt an.

„Woran hast du gerade gedacht, Herzchen?“ lächelte er sanft.

„Daran wie wohl das Leben als Fliege wäre.“

„Sicher recht kurz“ mutmaßte er und öffnete seine eigene Karte. „Zu welchem Entschluss bist du denn gekommen?“

„Ich habe ja noch nicht mal reingeguckt.“

„Ich meinte doch das Leben als Fliege.“

„Ach so. Zu keinem. Habe nur gedacht, wie es wohl wäre.“

„Manchmal möchte ich in deinem Kopf Mäuschen spielen“ schmunzelte er und räumte die Kerze, den Zuckerpott und die Streuer beiseite, um Zugang zu Setos Händen zu bekommen, sobald er sie auf den Tisch legte. „Ich glaube, ich habe richtig Hunger. Hast du schon gegessen?“

„Du hast mir doch Brote gemacht.“

„Ich meine etwas richtiges nach dem Frühstück. Zum Mittag oder zur Kuchenzeit? Wahrscheinlich nicht?“

„Nein. Dann nicht.“

Nach seinem Hunger fragte er auch nicht weiter. Wenn Yugi nicht für regelmäßige Mahlzeiten sorgte, würde Seto tagelang das Essen vergessen. „Schau mal, hier gibt es sogar Kroketten. Nini wäre hoch erfreut.“

„Hier ist ja jedes Gericht mit Fleisch. Sogar in der Gemüsesuppe ist Rind drin.“

„Wenn wir fragen, machen sie dir sicher etwas ohne Fleisch“ tröstete Yugi und überblickte die Speisekarte leider weniger schnell als Seto. Der legte sie zur Seite und kannte alle Gerichte mitsamt Zusatzstoffen wahrscheinlich bereits auswendig.

„Kann ich nicht gleich die Schokotorte nehmen?“

„Nein, erst wenn du etwas richtiges im Bauch hast. Du hast seit heute Morgen nichts mehr gegessen und das ist jetzt auch schon über zwölf Stunden her. Hier, wie wäre es mit Omlette?“

„Da ist Speck drin.“

„Den kann man ja weglassen.“

„Hmpf.“

„Na gut, dann nicht.“ Yugi suchte also weiter nach etwas, was seinem krüschen Liebling schmecken könnte. Für Nini fand er sofort etwas. Kroketten, Tomatenreis, Hühnersuppe, Brotsticks und Dip. Auch für Tato. Fischstäbchen, Fleischmedaillons, Pommes, Kartoffelklöße. Nur für Seto war es schwieriger, seit er vehement fleischliche Kost verweigerte. „Schatz, wie wäre es mit Nudeln in Sahnesauce?“

„Da ist Schinken drin.“

„Wenn wir darum bitten, lassen sie den Schinken sicher weg.“

„Hmpf.“

„Hach, du bist schwierig“ seufzte er. „Du kannst dich aber auch nicht nur von Salat ernähren.“

„Aber von Sahnetorte.“

„Ernährung mit Vitaminen. Du bist ja schlimmer als die Kinder.“

„Hmpf.“

„Soooooo!“ Da war auch schon die junge Bedienung mit ihrem kurzen Röckchen und trug ihre Bestellung auf dem Tablett herbei. „Ein Mal einen schwarzen Kaffee für den Herrn Papa“ wiederholte sie und stellte Seto eine feine Porzellantasse mit Schnörkelgriff und passend verschnörkelter Untertasse hin. Und dass auf der Untertasse ein Butterplätzchen lag, freute ihn sicher auch. „Und eine Cola ohne Zitrone für den Sohnemann. Hast du dich schon entschieden, was du essen möchtest?“ Sie zückte ihren Schreibblock und ahnte gar nicht die große Wut, welche Yugi mit einem langgezogenen Atmen unterdrückte. Sie hielt ihn also für Setos Sohn. DAS WAR DOCH DIE HÖHE!!!

„Nicht?“ Sie beugte sich herab, schlug die Karte um und half dem starrenden Yugi bei seiner Auswahl. „Das kleine Schnitzel mit Pommes ist immer gut. Das kann ich dir sehr empfehlen.“

„ICH!“ sprach er laut und schlug die Karte entschieden zu. „Ich nehme ein großes Lachsfilet mit Reis und dazu eine Weißschorle.“

„Das tut mir leid. Wein darf ich dir noch nicht ausschenken. Auch nicht als Schorle.“

„Das geht schon in Ordnung. Meine Kinder sind ja beim Babysitter und mein Mann fährt mein Auto nach hause.“ Er sagte es zwar nicht klar heraus, aber jetzt merkte selbst sie wie angepisst er war. „Und bezahlen tue ich mit meiner Kreditkarte.“

„Ähm …“ Jetzt konnte sie gar nicht weiter.

„Mein Mann wird häufig jünger geschätzt als er ist“ versuchte Seto sich nun an der ungewohnten Rolle des Schlichters. „Machen Sie ihm bitte seinen Weißwein.“

„Sie …?“ Sie blickte von ihm zu Yugi und prüfte sein Gesicht sehr genau. „Es tut mir wirklich sehr leid, aber ich würde trotzdem gern den Ausweis sehen.“

„Das ist doch …!“ Trotzdem kramte Yugi seine Brieftasche heraus und zeigte seinen Führerschein nach oben. „In drei Wochen werde ich 29. Nur weil ich klein bin, heißt das nicht, dass ich ein Kind bin!“

„Oh, das tut mir wirklich furchtbar leid, Mr. Muto“ entschuldigte sie sich sofort und kritztelte verlegen auf ihrem Block. „Es ist etwas dunkel hier und so genau habe ich auch nicht hingesehen. Tut mir wirklich leid.“

„Ja, schon klar.“ Er schluckte seine Wut hinunter und schob die Karte zurück in den Ständer. „Und für meinen Mann bitte den Gemüseauflauf mit doppelt Käse, aber ohne Fleisch. Er ist Vegetarier.“

„Natürlich. Entschuldigen Sie bitte nochmals.“ So schnell sie konnte verkrümelte sie sich zurück in die Küche.

Yugi schmorte währenddessen weiter vor sich hin. Er hasste es einfach, wenn man ihn für ein Kind hielt und auch noch so behandelte. „Kinderteller. Super Idee“ zischte er vor sich hin. Dann spürte er eine kalte Hand an seinem Arm. Er hatte gar nicht bemerkt wie Seto leise aufgestanden war und neben seinem Stuhl kniete. Diese eiskalten, blauen Augen sahen ihn einen langen Moment an. Dann legte er ihm die andere Hand in den Nacken und zog ihn zu einem zärtlichen, feuchten Kuss herunter. Seto wusste auch wie sehr Yugi solche Ereignisse hasste und wie wütend er dabei wurde. Aber er sollte nicht vergessen, dass er geliebt wurde wie ein Mann.

„Schon gut“ flüsterte Yugi und legte seine Stirn an die kühle Nasenwurzel. „Es ist schon wieder gut. Tut mir leid.“

„Sie hat gedacht, dass du 15 oder so bist. Sie hat nicht so genau hingesehen. Aber du siehst älter aus. Wirklich. Ich liebe dich. Du bist ein Mann. Und ein ganz großartiger Küsser.“

„Danke, das ist lieb von dir.“

„Sie hat das einfach falsch kombiniert. Schwule Paare gibt’s hier wohl nicht so oft und sie dachte, dass wir Vater und Sohn sind und uns deswegen an der Hand halten.“

„Schon gut. Du musst niemanden in Schutz nehmen.“ Er streichelte ihm das Haar zurück und versuchte sich an einem Lächeln. „Ich bin nicht mehr wütend. Alles schon wieder vorbei.“

„Ich kann sie ein bisschen ärgern, wenn du willst. Sie könnte ausrutschen oder so.“

„Nein, lass gut sein.“ Er lehnte sich ein Stück vor und flüsterte ihm in sein empfindsames Ohr. „Meine gute Laune käme aber schneller zurück, wenn du mir nachher im Auto einen bläst.“ Er zog sich wieder zurück und lächelte ihm unverschämt süß ins Gesicht.

Seto war eh schon rot im Gesicht und so setzte er sich mit einem Murmeln zurück auf seinen Stuhl … auf die andere Seite des Tisches … weiter weg … in Sicherheit.

Allein das reichte, um Yugis Laune aufzuhellen. Setos verlegenes Gesicht war unbezahlbar.

„Ich hoffe, Gemüseauflauf mit Käse ist in Ordnung für dich“ kam er auf ein weniger errötendes Thema zurück. „Schade, dass du nicht mal Fisch isst.“

„Fisch ist auch Tier mit Seele.“

„Wenigstens verweigerst du keine Eier oder Milch. Dann wäre ich aufgeschmissen.“

„Dafür liebe ich Milch viel zu sehr. Schau mal die Tasse.“ Er hob seine Tasse an. Ganz vorsichtig hielt er den verschnörkelten Henkel zwischen den Fingerspitzen und stützte den Tassenboden mit der zweiten Hand. Auf dem kitschig geformten Porzellan war eine Art Wappenrahmen aufgedruckt und in der Mitte: „Eine Kuh.“ Darüber freute er sich jetzt.

„Schön, Liebling.“ Und Yugi bemühte sich, sich mitzufreuen und nicht schallend los zu lachen. Setos Kinderblick war zu niedlich.

„AH! Guck mal!“ Aufgeregt hob er auch die Untertasse hoch, ließ den Keks auf den Tisch kullern und zeigte Yugi das aufgemalte Bild. „Hier ist ein kleines Scheunentor drauf. Die Kuh gehört zur Scheune. Wie süß!“

„Sehr süß.“ Wobei er ihn süßer fand als Urgroßmutters Porzellan.

„Ja, sehr süß“ lächelte er zufrieden vor sich hin, stellte die Untertasse sorgsam zurück und nippte an seinem Kaffee. Dann entdeckte er endlich den Keks für sich und hielt ihn Yugi hin. „Willst du ihn haben?“

„Nein, iss ruhig.“

„Wenigstens die Hälfte?“

„Na gut. Die Hälfte.“ Sie brachen den Keks in der Mitte und schon war der Happen im Drachenschlund verschwunden und wurde mit Kaffee nachgespült. Seto besah sich noch einige Momente stillschweigend die Tasse und genoss seine kleine, heile Welt. Er liebte Kühe einfach. Sie waren sein Symbol für Mutterliebe und Familie. Eine Kuh, die Milch gab, sich um ihr Kälbchen sorgte und mit großen, dunklen Augen in die Welt blickte und doch nicht das Bedürfnis hatte, fortzulaufen. Kühe waren stark und doch friedlich und mit wenig zufrieden. Genau wie er.

„Ich liebe dich so sehr“ lächelte Yugi vor sich hin. Seto war so was von unbescholten, es stank zum Himmel. Und diese Unschuld war so umwerfend süß und so unglaubwürdig, obwohl sie echt war. Wenn man Seto sah, traute man ihm nicht zu, dass in ihm ein kleines Kind war, welches Kühe liebte und Kekse teilte. Man konnte ihn doch einfach nur lieben und mit seiner manchmal übertriebenen Art leben.

„Yugi?“ Er tauchte aus seiner unschuldigen Bauernhofwelt auf und blickte zaghaft über den Tisch. Jetzt war er wieder vernünftig. „Ich war noch nicht fertig.“

„Womit? Mit Knutschen?“

„Nein, mit Seth“ kam er auf den Punkt zurück. „Ich weiß, dass du da nicht drüber diskutierst, aber mir ist das wichtig.“

„Was soll sich denn ändern?“ Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und entgegnete seinem fragenden Blick. „Ich spreche mit dir so viel darüber wie du möchtest, aber du solltest dich da nicht reinsteigern.“

„Ich habe mir etwas überlegt.“ Er wich Yugis Blick aus und streichelte über die kaffeewarme Porzellankuh. „Du weißt, dass ich hinter dir stehe und tue, was du verlangst. Aber ich möchte mir dennoch möglichst ein eigenes Bild machen.“

„Und du hast dir was genau überlegt, mein Schatz?“

„Wenn sich die Gelegenheit ergibt und wenn Sethos wieder fitt ist, dann würde ich gern mit Seth gehen.“

„Mit Seth gehen …“ Bedeutete in diesem Zusammenhang was genau?

„Ich meine mit ihm gehen. Mit ihm mitgehen. Ich will sehen, wo er sich aufhält und was er die ganze Zeit tut. So ganz alleine ohne uns. Ich will ihm zeigen, dass ich offen bin, mir seine Sache anzusehen. Und dass ich mir ein eigenes Bild mache.“

„Dir ist klar, dass das gefährlich ist.“

„Ich weiß. Aber ich glaube nicht, dass Seth mir etwas antun würde. Er ist doch eigentlich gar kein Einzelgänger. Ebenso wenig wie ich. Ich bin es ihm einfach schuldig, dass ich versuche, ihn zu verstehen. Vielleicht finde ich einen Weg, ihm da wieder rauszuhelfen. Und wenn nicht, dann gelange ich wenigstens zu der ein oder anderen Überzeugung. Alles ist besser als diese Unwissenheit.“

„Liebling. Eben erzählst du mir noch, dass du vor Verwirrung gegen Türen rennst und jetzt willst du mit Seth mitgehen? Das ist ein denkbar gefährliches Umfeld. Allein die ganzen Zirkelleute, die Rache an uns geschworen haben.“

„Seth würde mich beschützen.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher.“ Yugi seufzte und schubste die Eiswürfel in seiner Cola nach unten. „Liebling, die Idee gefällt mir nicht besonders.“

„Das habe ich mir gedacht, aber bitte überlege es dir. Ich weiß, dass ich manchmal austicke und Dinge tue, die ich hinterher bereue. Ich weiß auch, dass ich manchmal einige Sachen nicht so schnell schnalle und auch, dass ich naiv bin. Aber ich glaube, dass es gut wäre, wenn ich eine Weile zu Seth ginge. Wenn er uns das nächste Mal begegnet, könnte er mich mitnehmen. Mokeph hat mir erzählt, dass Seth ihm schon angeboten hatte, ihn mitzunehmen. Vielleicht braucht er jemanden, dem er vertrauen kann. Jemanden, mit dem er reden kann. Ich bin es ihm einfach schuldig.“

„Es geht doch nicht um Schuld. Ich will nicht, dass dir etwas passiert, was … was nicht gut für dich ist.“

„Aber ich könnte Klarheit gewinnen. Und ich sehne mich nach Seth. Ich brauche ihn. Ich brauche ihn als mein Spiegelbild. Ich brauche seine Nähe. Kannst du mir nicht ein bisschen mehr vertrauen? Ich komme doch zurück zu dir und kann dir dann berichten. Ich tue ja nichts ohne dich. Ich will nur bei Seth sein und mir seine Gedankenwelt ansehen. Er würde dasselbe für mich tun. Ich … bitte Yugi. Bitte gib deine Erlaubnis.“

„Ich denke darüber nach“ beschloss er und reichte ihm seine Hände bis über den Tisch. „Liebling, sieh mich an.“ Er wartete bis Seto seine Tasse abgestellt und die Hände gegriffen hatte. Und bis er ihm endlich in die Augen blickte. „Ich denke darüber nach und ich bespreche es mit Yami. Wenn ich zu einer Entscheidung gekommen bin, sage ich es dir. In Ordnung?“

„Du sagst also nicht nein.“

„Ich sage, ich denke darüber nach.“

„Also ja.“

„Seto, das ist keine Entscheidung wie Sahnetorte zum Abendbrot. Das ist wichtig und sensibel. Ich denke darüber nach. Ich habe deine Argumente und deinen Wunsch verstanden. Und jetzt musst du mir vertrauen, dass ich die richtige Entscheidung treffe, okay?“

„Bitte sag nicht nein. Ich brauche Seth.“

„Ich wäge es ab. Und bis dahin versuche, dich mit anderen Dingen zu beschäftigen und vor allem, deine Magie und deine fünf Sinne zusammenzuhalten. Ja?“

„In Ordnung. Ich warte auf deine Entscheidung.“ Auch wenn er sich eine schnellere Zusage erhofft hatte. Er hatte es nicht erwartet, aber gehofft. Hoffentlich würde Yugi zu seinen Gunsten entscheiden. Jetzt lag es in seiner Hand.

„Ich glaube, unser Futter kommt.“ Er ließ Seto los als die junge Frau mit einem großen Tablett zu ihnen zurückkam.

Zuerst stellte sie Yugi seine Weißweinschorle hin. Sie war wirklich kühl und das Kondenswasser lief den Stiel hinab. „Ich möchte mich nochmals bei Ihnen entschuldigen, Mr. Muto“ bat sie und stellte auch den Lachs und den Gemüseauflauf zu beiden, reichte ihnen das Geschirr an. „Mir ist die Sache sehr peinlich.“

„Schon gut.“ Mehr Vergebung konnte er sich jedoch nicht herausquetschen. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte nicht nochmals davon angefangen.

Aber es kam noch mehr. Aus derselben Tür tappelte eine alte Dame heraus und auf ihren Tisch zu. Sie trug eine altmodische Seidenbluse mit übertrieben kleinem, blauen Karomuster, eine schwarze Strumpfhose und einen braunen Faltenrock. Ihre dunkelgrauen Haare waren zu einer Turmfrisur hochgesteckt und ihr Lippenstift einen Tick zu rot. Eine Urgroßmutter wie einem dieser kitschigen Heimatfilme entsprungen.

„Guten Abend, Mr. Muto.“ Sie deutete einen Knicks an und faltete die Hände vor dem Bauch. „Ich bin Trudi Menasson. Die Besitzerin des Cafés Trudi. Ich möchte mich nochmals persönlich für das unbedachte Verhalten Ihrer Bedienung entschuldigen. Es ist nicht unsere Art, unsere Gäste zu pikieren.“

„Ist schon gut. Die Sache ist geklärt“ nickte er der jungen Frau zu, welche neben der alten Dame in sich zusammensank.

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Muto. Dennoch möchte ich Sie heute zu uns einladen. Ihre Speisen und Getränke gehen selbstverständlich aufs Haus. Bitte suchen Sie sich auch noch einen Nachtisch aus und probieren Sie unsere kleine, aber feine Getränkekarte.“

„Die Sachen werden ihr aber nicht vom Lohn abgezogen, oder?“ Das fände er jetzt trotz allem etwas übertrieben. So böse war er ja nun auch nicht, dass die ohnehin schon schuldbewusste Kellnerin sein Essen bezahlen sollte.

„Aber nein. Gerti ist meine Enkelin“ erklärte Sie und formte ein fürsorgliches Lächeln mit ihren roten Lippen. „Sie hilft mir freiwillig während der Semesterferien. Sie bekommt dafür also keinen richtigen Lohn. Sie soll mein Café später einmal übernehmen und deshalb ist es mir sehr wichtig, dass sie den richtigen Umgang mit unseren Gästen lernt.“

„Es ist schon in Ordnung“ bat Yugi. Seto stocherte schon in seinem Auflauf und wollte offensichtlich endlich anfangen. „Wäre ich so jung wie ich aussehe, hätte mich die persönliche Ansprache sicher gefreut.“

„Zu viel Engagement kann aber auch störend sein. Deshalb möchte ich Sie auch nicht lange aufhalten und Ihnen nochmals unsere Entschuldigung überbringen. Bitte genießen Sie heute freie Kost und wenn Sie sonst noch einen Wunsch haben, sagen Sie uns bitte bescheid.“

„Ja, vielleicht gibt es da noch etwas“ fiel ihm sofort ein und wies hinüber. „Die hübsche Porzellantasse. Dürfen wir die mitnehmen?“

„Die Kuhtasse?“ freute sich Seto schon und drehte das spießige Kuhbild in seine Richtung.

„Natürlich. Davon haben wir genügend“ lachte die alte Dame. „Ich habe gehört, Sie haben gesagt, Sie hätten Kinder. Wenn Sie erlauben, würde ich ihnen gern eines unserer Sechsersets mitgeben. Dann haben Sie den ganzen Bauernhof beisammen.“

„Es gibt noch mehr davon?“ staunte Seto.

„Aber ja. Es gibt die Tasse mit der Kuh, eine mit einem Schwein, einem Huhn mit einem Küken, einem Pferd, einer Katze und einer Ziege. Die Kanne dazu ist ein Heuwagen und der Zuckertopf ist ein Sack mit Korn. Dieses Porzellan ist bei vielen Kindern sehr beliebt.“

„Aber Kinder trinken doch keinen Kaffee.“ Jetzt war Seto unbegeistert. Musste sie so herausheben, dass das eigentlich etwas für Kinder war?

„Eigentlich servieren wir darin nur warme Getränke für die kleineren Gäste. Kaffee servieren wir mit Kännchen. Da muss uns ein Fehler unterlaufen sein.“

„Tut mir leid, Oma. Ich hab’s einfach aus dem Schrank genommen“ entschuldigte ihre Enkelin sich. „Ich bringe Ihnen gern einen neuen Kaffee.“

„Nein, jetzt will ich nicht mehr.“ Jetzt war Seto mucksch. Und die Kuh war plötzlich auch doof.

„Bitte packen Sie das Kinderporzellan ein. Ich bezahle es auch“ bat Yugi dennoch mit einem Lächeln. Zuhause würde Seto sich nämlich doch darüber freuen und sich wünschen, er hätte es nicht ausgeschlagen. So hatte der ganze Ärger doch noch etwas Gutes.
 


 

Chapter 33
 

Es war eine entspannte Abendrunde. Hannes veranstaltete heute einen Büffetabend und so standen viele verschiedene Speisen auf dem Programm. Er hatte an der Hochschule einen Wochenendkurs für vegetarische Küche belegt und um das Gelernte gleich anzuwenden, präsentierte er heute eine Kostprobe verschiedener Gerichte. Und seine Dauergäste waren natürlich äußerst freiwillige Tester. Besonders Seto und Sareth waren erfreut, dass Hannes sich auf dem Gebiet weiterbildete. So bestand die vegetarische Kost nicht immer nur aus Gemüseauflauf, Eintopf oder Beilagentellern mit Soja oder Tofu. Und auch wenn Seto schon gegessen hatte, ließ er Hannes nicht im Stich und aß zum zweiten Male am heutigen Tage warm. So wenig wie ihn sein Hungergefühl störte, störte ihn auch sein Völlegefühl. Er konnte hungern und sich überfressen - ein kleines Sorgenkind.

Es hätte alles so schön sein können. Seto hatte seine neue Kuhtasse mit Scheunenuntertasse in Gebrauch und den Rest an die anderen Kinder verteilt. Dante bekam natürlich die Katzentasse. Tato wollte die Schweinetasse haben und Nini die mit dem Pferd. Risa verzichtete freiwillig und überließ Feli die Tasse mit dem Huhn und dem Küken und nahm selbst die mit der Ziege.

Allein das neue Service rechtfertigte eine vegetarische Feier. Wenn Sethos könnte, würde er sicher mitfeiern … wenn auch schweigend irgendwo am Rande mit einem Gameboy beschäftigt. Doch so packte Balthasar nur etwas zum Essen zusammen, für Sethos die Hälfte des Rührkuchens und brauste wieder davon, bevor er Tato oder Phoenix über den Weg lief. Mit den beiden wollte er noch immer nichts zu tun haben. Und Tato war zu stolz, um weiter zu Kreuze zu kriechen. Er suchte das Gespräch, aber er drängte sich nicht auf. Und Phoenix stand an seiner Seite. Er wollte gern mit Balthasar sprechen, doch der ignorierte ihn nun so wie es ihm selbst lange Zeit ergangen war.

Davon abgesehen war die Stimmung ruhig und beschwingt, die Kinder gingen anstandslos zu Bett und die Erwachsenen saßen auch bei Sonnenuntergang noch putzmunter zusammen. Solche Sommerabende hatten einfach ihre eigene Magie.

Aber selbst an diesem vergleichsweise heiteren Abend, kam das Highlight in unverhoffter Form.

Als die Tür aufging und einen neuen Gast hereinließ, schwante Tristan und Joey eine filmreife Szene. Die ersten Gäste drehten schon ihre Köpfe und die Frauenrunde am Nachbartisch begann das Tuscheln. Tjergen war ein Blickfang. Er war es gewohnt, einen Raum mit seiner Anwesenheit zu füllen und er war es auch gewohnt, angesehen zu werden. Er legte es ja darauf an. Mit braunen Lederstiefeln bis zum Knie und einer engen, beigen Jeanshose auf welcher sich nicht eine Falte abzeichnete - also keine Unterwäsche - verriet er sowohl elegante als auch schmutzige Absichten. Das kupferbraune Sommerhemd mit goldenen Rosenranken bestickt und sein langes Haar zu einem glatten, breiten Zopf geflochten. Seine dunklen, funkelnden Augen von einem Hauch goldenen Kajal umrandet. An den Handgelenken eleganten Goldschmuck und eine feine Uhr mit Lederarmband. Wenn der Herbst einen Engel hatte, sah er genau so aus. Doch wer ihn kennenlernte, merkte schnell - er war kein Engel, das war sein Job. Und wäre er kein Model, würde er als Edelnutte durchgehen.

Doch dass er mit einem verlockenden Lächeln direkt zu Noahs Tisch schwebte, war mehr als ein Job. Das war mutig, denn Mokuba saß direkt daneben und erdolchte den Eindringlich bereits mit einem nachtschwarzen Blick.

Jetzt musste Noah sich etwas einfallen lassen, wie er sowohl seinem Model, als auch seinem Geliebten nicht vor den Kopf stieß. Also blickte er Mokuba besser nicht an, dessen Gedanken konnte er sich auch so ausmalen. Stattdessen stand er auf, bevor die beiden sich zu nahe kamen.

„Ich habe geahnt, dass du hier bist, mein Lieber“ sandte Tjeren seinen Gruß voraus und streckte Noah die Hände entgegen wie man es bei einem nahen Freund täte.

„Dafür überrascht mich dein Besuch“ erwiderte der, musste seine Hände entgegen nehmen und ihn mit zwei Wangenküssen begrüßen.

„Ich hoffe doch, du bist nur positiv überrascht.“ Er strahlte ihn hell und breit an, doch seine Augen verrieten immer dasselbe. Eine falsche Äußerung und Noah würde ihm zum Opfer fallen.

„Natürlich. Ich freue mich immer, dich zu sehen, Terry.“

„Ähem!“ Mokuba räusperte laut und erhob sich. Er legte die Serviette zur Seite und nahm seinen Platz neben Noah ein, bevor er den Schönling fixierte. „Ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt. Noah?“

Und der durfte sich jetzt keine Blöße geben, sonst verlor er seine Autorität auf beiden Seiten. „Dann ist das doch jetzt die Gelegenheit.“ Er legte seine Hand an Mokubas Rücken und machte mit der anderen eine offene Geste. „Moki, das ist Tjergen Marnens. Sein Künstlername ist Terry Manison. Er ist Model und das hoffentlich neue Gesicht unserer Eros-Metroline.“

„Hm“ machte Mokuba darauf. Eigentlich interessierte ihn nicht, was der Typ tat, sondern was er von s e i n e m Noah wollte.

„Terry, und das ist mein Lebenspartner. Mokuba Kaiba.“

„Habe ich mir schon fast gedacht. Nett, dich mal zu sehen“ erwiderte das Model weniger misstrauisch und streckte ihm die Hand hin, welche Mokuba fast ergriffen hätte, wenn nicht darauf gefolgt wäre: „Schön, dass dir mein Stil offensichtlich so gut gefällt.“

„Bitte?“ Er schlug die Hand aus und allen war klar: Der Zickenkrieg war hiermit offiziell eröffnet. Es war abzusehen, dass sich die beiden behakeln würden, doch dass es ohne Umscheife zur Sache ging, überraschte. „Was soll das heißen?“

„Mein Management verfolgt die Trends der Highsociety sehr genau, aber bisher waren deine Auftritte ja ganz annehmbar. Bis auf dass ich es vermieden habe, dir auf dem roten Teppich zu begegnen. Ich hoffe, du verzeihst mir.“

„Was bitte soll das denn heißen?“

„Nun ja, das fällt doch ins Auge.“ Er wies an Mokuba hinauf und hinunter und setzte ein provokant freundliches Lächeln auf.

Wenn die beiden direkt voreinander standen, stach ihre Ähnlichkeit noch deutlicher heraus. Beide besaßen die gleiche Statur, wobei Mokuba nur ein paar Zentimeter größer war. Doch im Grunde wären sie leicht zu verwechseln. Die gleiche Frisur, die gleichen Augen, der gleiche Körper, derselbe Stil. Tjergen war ein Herbstengel in Brauntönen, Mokuba eine Elster in schwarz und weiß. Beide glichen sich als wären sie aus demselben Guss, nur unterschiedlich gefärbt. Und dass sie beide dieselben Ansprüche an einen bestimmten Mann hegten, wurde auch schnell klar.

„Nein, mir fällt nichts ins Auge“ erwiderte Mokuba und stemmte die Hände in den Rücken. „Was versuchst du mir zu sagen?“

„Oh, verstehe das nicht falsch. Ich freue mich“ betonte er übertrieben gönnerhaft. „Es gibt viele, die mich kopieren, wenn auch selten jemand so gelungen wie du. Ich wollte es dir bisher nur nicht zumuten, dir öffentlich die Show zu stehlen.“

„Ich habe es nicht nötig, jemanden zu kopieren. Ich bin so wie ich bin.“

„Doch auch erst seit kurzer Zeit.“ Er streichelte den Riemen seiner braunen Ledertasche und belastete den Stand lässig auf ein Bein. „Ich habe mir den Vergleich angesehen zwischen deinen früheren Fotos und zu jetzt. Na ja, fast jeder braucht etwas Zeit und Hilfe, um seinen Stil zu finden und mein Stil steht dir wirklich besser als dein früherer Rumpelkammerlook. Ich freue mich, wenn sich die Leute von mir inspirieren lassen. Und es ist schön, dass Noah sich nicht länger schämen muss.“

„Also, ich …“

„Da muss ich dich enttäuschen.“ Mokuba ließ Noah nicht zu Wort kommen. Der war hiermit raus aus dem Spiel und saß als Zuschauer auf der Tribüne. „Den Stil hat ein Freund von mir für mich ausgearbeitet. Das hast d u leider keine Rolle bei gespielt. Also noch mal für die Langsamen unter uns: Ich habe ich es nicht nötig, jemanden zu kopieren. Ich bin so wie ich bin.“

„Das ist schön für dich, wenn du das denkst, Moki.“

„Ja, nicht wahr? Ich muss mich nicht verbiegen und mein Geld damit verdienen, mich von fremden Leuten angaffen zu lassen. Von Prostitution halte ich nämlich nicht viel, aber jeder eben wie er kann, nicht wahr?“ Tja, sich mit Mokuba anzulegen, war eben kein Ausflug ins Disneyland. „Und du darfst mich übrigens Kaiba nennen. Moki ist nur den Leuten vorbehalten, die ich mag. Nichts für ungut.“

„Wie du meinst, da lege ich keinen gesteigerten Wert drauf. Und das mit dem Geld ist tatsächlich so eine Sache. Menschen wie ich arbeiten dafür, Menschen wie du … nun ja, nichts für ungut.“

Die taten sich beide nicht viel. Es gab wenige Leute, die an Mokubas Gehässigkeit heranreichten, aber hier war eines der seltenen Exemplare aufgetaucht. Wäre es nicht so traurig, könnte man glatt Wetten abschließen, ob Mokubas Gehässigkeit auch dieses Mal reichte, um den Konkurrenten zu vergraulen.

„Menschen wie ich tun deiner Meinung nach was genau für Geld, Fashion Victim?“ bohrte er nochmals nach und verfestigte seinen Stand. „Sprich deine Sätze bitte ruhig zu Ende, Bitch.“

Auch wenn Noah vielleicht intervenieren sollte, so stand er doch nur daneben und besah sich die Sache. Er wusste nicht weshalb, doch irgendwie mochte er den Ausdruck in Mokubas Augen, wenn er seine Ansprüche verteidigte. Er liebte es, wenn er um sich biss - solange er nur Noah nicht anzickte. Normalerweise stellte er sich dazwischen, wenn sein Schatz eifersüchtig wurde, doch Tjergen war kein hilfloses Opfer, sondern selbst mit scharfer Zunge ausgerüstet. Wahrscheinlich fand der es sogar erheiternd, Mokuba zu reizen. Also warum sollte die Sache nicht erst mal laufen? Dazwischenfunken konnte man ja immer noch.

Und Tjergen lächelte nur, ignorierte Mokuba und öffnete seine Tasche, zog eine silbergraue Mappe heraus, auf welcher das stolze KC-Logo prangte. „Noah, ich würde dich dann gern an das versprochene Glas Wein erinnern.“ Er ging den letzten Schritt auf ihn zu und legte ihm liebevoll die Mappe an die Brust, während er mit der anderen Hand die Schulter streichelte. „Ich bin hier, um dir den Vertrag persönlich zu überbringen. Ich habe unterschrieben und erwarte, dass wir das nun feiern.“

„Du hast unterschrieben?“ Das kontrollierte er lieber. Ebenso wie er lieber etwas Abstand schuf und einen Schritt seitwärst trat, bevor er noch den wutkochenden Mokuba wachrempelte. Er blätterte die Mappe auf und besah sich drei mit Klebezetteln markierte Seiten. „Tatsächlich. Du nimmst mir einen Stein vom Herzen.“

„Tatsächlich? Du bist ja süß. Ich wusste gar nicht, dass ich dir bereits am Herzen liege.“ Er zwinkerte ihn an schob spielerisch seine Unterlippe vor. Bei Noah war er natürlich gaaaaaaanz brav. Und dass sich die Vertragsverhandlungen so dermaßen in die Länge gezogen hatten, war natürlich reeeeiiiiiin geschäftlich.

„Ich hatte befürchtet, dein Manager hätte noch mehr Forderungen. Aber wenn die Sache jetzt unterzeichnet ist, kann ich wieder ruhig schlafen.“

„Ich werde nur noch die bereits zugesagten Shootings machen und mich dann ganz der Kaiba Corp. und meinem neuen Boss widmen. Versprochen.“ Er holte ihn wieder ein, berührte mit deutlichen Absichten seine Hüfte und hauchte im perfekten Monroe-Stil: „Tut mir leid, dass du meinetwegen schlaflose Nächte hattest, Mr. President.“

Das rief Mokuba auf den Plan. Und zwar ganz schnell! „Um ihn brauchst du dir wirklich keine Sorgen machen, Marylin.“ Er drängelte Noah zurück und stellte sich schützend vor ihn. „Seine Nächte sind nicht deinetwegen schlaflos. Ganz sicher nicht. Glaube mir, ich weiß es.“

„Das glaube ich dir gern. Neben dir könnte ich auch nicht ruhig schlafen.“ Dazu noch ein abschätziger Blick und die Antipathie war perfekt.

„Könntest und solltest du auch lieber nicht.“ Nein, neben Mokuba dürfte er kein Auge zu machen. Sonst wachte er vielleicht nicht wieder auf.

„Keine Angst. Mein Augenmerk gilt eher Männern, die auf meinem Niveau liegen.“ Wobei er Noah einen gierigen Blick zuwarf. Es war ihm egal wie lange Mokuba nun schon sein Partner war und es war ihm auch egal, wie gemein er reden konnte. Er wollte an Noah ran und bisher hatte er wohl immer jeden bekommen, den er wollte.

„Niveau?“ Mokuba blickte nun an ihm hinauf und hinab wie Tjergen es bereits bei ihm getan hatte. „Du hast zwar ein hübsches Äußeres, aber Niveau kann ich keines erkennen. Entschuldige, falls das jetzt unhöflich klang.“

„Keine Sorge, deine Worte perlen an mir ab.“ Er widmete sich wieder Mokuba und erwiderte den falschfreundlichen Blick. Die beiden konnten sich nicht riechen. Ein Wunder, dass sie sich noch nicht die Augen ausgekratzt hatten, doch die fliegenden Funken entzündeten gleich die Tischdecke.

„Also, mir gefällt das hier nicht.“ Noah musste irgendetwas unternehmen. Mittlerweile verfolgte schon das ganze Restaurant diese schwule Szene. Die einen amüsierten sich, andere waren peinlich berührt, wieder andere machten Wetten. Er selbst fand das zwar interessant, aber Hannes verhagelte es das Geschäft. „Bitte zügelt euch beide etwas. Ihr habt gar keinen Grund, eure …“

„Halt dich da raus, Hase“ fuhr Mokuba ihm übers Maul und verschränkte lässig seine Arme. „Tjergen, ich will dich mal aufklären. Noah und ich sind seit über zehn Jahren ein glückliches Paar und du hast nicht die geringste Chance, ihm auf die ein oder andere Weise näher zu kommen. Also mach deinen Job, zieh dich aus und lass dich mit Hautcremes ablichten oder stakse in Mailand in Alienklamotten herum und lass dich von fetten, alten Säcken haushalten, aber sei so gut und geh uns nicht auf den Sack.“

„Du hast ja eine interessante Meinung von meinem Leben. Daran merkt man, dass du keine Ahnung hast, was Repräsentation bedeutet. Also lass mich dich aufklären, Süßer.“ Er hängte die Daumen in seine enge Hose und seine braunen Augen funkelten vor Erregung. Er genoss den Kampf. „Ich bin etwas realisitischer und suche mir meine Liebhaber aus. Und anstatt mich, wie du, haushalten zu lassen, arbeite ich für mein Vermögen. Also bleib du dabei und rühme dich mit deinem Nachnamen. Gib das Geld aus, welches andere für dich verdienen und spiel die Beziehungsnutte für deinen Gönner. Aber tu der Welt einen Gefallen und gib nicht auch noch damit an.“

„Du bist ein ganz armes Würstchen. Weißt du das eigentlich? Du tust mir leid.“ Auch wenn Mokuba nicht einen Hauch von Mitleid zeigte. „Du baggerst vergeblich. Noah interessiert sich nicht einen Deut für dich und du merkst es nicht mal.“

„Das sah in den letzten Tagen anders aus“ entgegnete er mit einem Seitenblick auf Noah. Der öffnete zwar den Mund, aber wurde jedes Mal wieder unterbrochen.

„Für dich wahrscheinlich. Du merkst es doch gar nicht, wie du dich anbiederst. Noah wird mich nicht für einen wie dich verlassen. Nicht mal für einen schnellen Fick auf’m Bahnhofsklo oder wo du es sonst so mit deinen Freiern treibst. Also träume weiter von m e i n e m Traummann und mach’s dir selbst.“

„Sorry, du spielst hier leider keine Rolle.“ Er legte die Schultern zurück und trat in einen aktiven, aber noch recht entspannten Stand. „Im Gegensatz zu dir bin ich weltgewandt, erfahren und sehr strebsam. Ich kann mich auf internationalem Parkett bewegen, ohne mich zu blamieren. Noah und ich spielen auf einer Ebene miteinander, die ein kleiner Junge mit einem Schandmaul wie deinem gar nicht verstehen kann.“

Mokuba trat ganz dicht zu ihm und machte sich groß, löste jedoch nicht seine kräftig vor der Brust liegenden Arme. „Erstens bin ich größer als du und soweit ich weiß auch ein Jahr älter. Wer ist hier bitte der kleine Junge?“

„Moki, bitte.“ Noah versuchte, zu intervenieren, doch die beiden würden nicht damit aufhören bis einer die Schlacht gewonnen hatte. Und dass Seto daneben saß und sich das betrachtete wie alle anderen am Tisch auch, half nicht weiter. Das hier war zwar Noahs Problem, doch zwei von der Sorte wuchsen ihm über den Kopf.

„Äußerlich ist an dir nichts auszusetzen, dafür siehst du mir zu ähnlich. Aber klein bist du im Kopf.“ Tjergen lächelte ihm frech ins Gesicht und seufzte herablassend. „Weißt du, Süßer, es gibt zwei, vielleicht drei Arten von Menschen. Ich will es dir mit einem Sinnbild verdeutlichen.“

„Nur zu.“

„Noah ist eine Königin. Er hat eine natürliche Anziehungskraft und weiß wie man niedere Geschöpfen für sich einspannt und hoch über ihnen, über den Dingen steht. Er ist eine geborene Königin, genau wie ich eine bin. Dann gibt es eine Unmenge von gewöhnlichen Arbeiterinnen. Das ist der Großteil der Menschheit. Sie tun alles, um einer Königin nahe sein zu dürfen, um ihr zu dienen und sie anzubeten. Und dann“ betonte er mit einer wegwerfenden Geste, „dann gibt es noch das Krabbelgetier außerhalb des Stocks. Primitives Leben, das keine Ahnung hat um die Ehre, auf derselben Wiese wuseln zu dürfen. Noah und ich, wir sind Königinnen in unserem Stock. Und du, nun ja, du bist im besten Falle ein Mitglied des Kriechgetiers, das von unten raufglotzt und denkt, es wäre von derselben Gattung, nur weil ab und zu etwas Honig auf es herabtropft.“

„Boah!“ Das entwich Joeys Mund, doch alle dachten dasselbe. Das war so ziemlich das Härteste, was Mokuba sich jemals hatte anhören müssen.

„Du siehst also, ich brauche keine eheähnliche Lebensgemeinschaft, um mit Noah verbunden zu sein. Denn wir sind von Natur aus einander nahegestellt. Nur eine Königin kann eine andere verstehen.“

„Also, Tjergen. Bitte höre mal“ bat Noah, doch Mokuba streckte den Arm aus und hinderte ihm am Weitergehen. Das regelte er alleine. Und das sicher nicht so diplomatisch wie Noah es tun wollte.

„Sagst mir, ich sei nicht erfahren und hast selbst keine Ahnung. Du hast eine wichtige Gruppe vergessen. Kann daran liegen, dass du solche Menschen in deinem Leben nicht kennst“ lächelte Mokuba und hatte die Beleidigung besser weggesteckt als erwartet. Oberflächlich jedenfalls. Jetzt holte er zum Konter aus. „Da gibt es noch die Drohnen. Die Drohnen sind nicht nur die unangefochtenen Liebhaber ihrer Königin, sondern verteidigen den Stock auch gegen Eindringlinge. Und besonders fremde Königinnen sollten sich vor ihren Stacheln fürchten.“

„Du meinst, ich soll mich vor deinem Stachel fürchten?“ Er hob ein Lachen an, legte den Kopf zurück und lachte ihn aus. Dann seufzte er und wischte sich eine imaginäre Träne vom Kajalstrich, während er mit offenen Lippen weiterlächelte. „Moki, du bist süß. Wenn’s ums Stechen geht, habe ich weit mehr Königinnen auf weit mehr Wiesen gestochen als du.“

„Die Kunst liegt darin, die Königin nicht zu stechen, sondern sich auf die richtige Art und Weise stechen zu lassen, wenn du das Wortspiel verstehst. Und meine Königin wird sich ganz sicher nicht auf fremden Wiesen umsehen.“

„Ach? Glaubst du das?“ Tjergen blickte an ihm herab und blieb spöttisch auf seiner Körpermitte hängen. „Nun, mit deinem kleinen Stachel … wahrscheinlich fehlt dir die Vergleichsmöglichkeit. Manchmal sehnen sich die Königinnen nach ebenbürtigen Partnerinnen zum Stechen UND Gestochenwerden. Wenn du das Wortspiel verstehst.“

„Langsam wird mir das zu blöd.“ Jetzt wurde Mokuba sogar rot auf den Wangen und die Wut sprang ihm aus seinen nachtfunkelnden Augen. Und Noah verbot er mit einer Geste nochmals das Sprechen. „Verpiss dich, Flittchen. Sonst bekommst du gleich einen Stachel zu spüren, den du noch nicht kanntest.“

„Du nimmst mein Sinnbild ja wirklich sehr ernst“ schmunzelte er. „Mag sein, dass du dich stark fühlst, aber irgendwann wird Noah sich jemanden nehmen, der ihm ebenbürtig ist und mit dem er sich in der Öffentlichkeit zeigen kann. Jemanden, der in sein öffentliches Leben passt. Jemanden wie mich. Und nicht einen naiven, minderbemittelten, mitleiderregenden Waisenjungen wie dich.“

„Halt die Schnauze, du Nutte! Du weißt gar nichts von meiner Familie!“

„Und du weißt nicht, wo dein Platz ist. Dein Glück, dass du einen großen Bruder hast, der sich den richtigen Adoptivnamen gesucht und dich mitgenommen hat. Ohne den guten Namen Kaiba säßet ihr beide auf der Straße. Du armer, kleiner, heimatloser Prolet mit Schandmaul.“

„Pass auf, was du sagst!“

„Letztlich bist du in Noahs Leben doch nicht mehr als ein Mitleidsakt. Traurig, dass du das nicht erkennst.“

„Tjergen!“ Jetzt wurde Noah trotz Redeverbot deutlich. „Das geht zu weit. Stopp das.“

Mokuba zitterte am ganzen Körper und vor Wut fiel ihm für drei Sekunden keine Antwort auf Tjergens freches Grinsen ein. Doch dann änderte sich seine Stimmung plötzlich. Er entspannte sich und überblickte den kurzen Abstand zu dem Model mit einem gönnerhaften Lächeln. Er war für einen Augenblick so relaxt, dass es selbst Noah die Sprache verschlug.

„Heeyy“ grinste Mokuba und wandte sich halb ab. Doch dann blitzte es in seinen schwarzen Augen, er ballte die Faust, schoss herum und traf den anderen mitten ins Gesicht.

Auf ein Knacken folgte ein schmerzlicher Aufschrei des Getroffenen. Tjergen drehte sich fast um sich selbst, bevor er auf den Fußboden fiel und sich die Hände vors Gesicht hielt. Sofort spritzte das Blut zwischen den Fingern hindurch und besprenkelte den Holzboden.

„MEINE NASE! OH GOTT, MEINE NASE!“ schrie er und kämpfte sich auf die Knie.

„Mokuba!“ Noah wusste nicht, von wem er nun mehr geschockt war. Von Tjergens verbalen Tiefschlag oder von Mokubas rechtem Haken. Auf jeden Fall kniete er sich instinktiv zu dem Verletzten hinab und hielt ihn an den Schultern fest, damit er aufrecht sitzen konnte. Selbst die anderen zuckten auf ihren Plätzen und waren zum Teil aufgesprungen, um dazwischen zu gehen.

Doch Mokuba grinste selbstzufrieden und bewegte prüfend seine Hand, betrachtete seine erfolgreichen Knöchel. Ein Schlag reichte ihm schon. „In den Filmen tut das immer weh, aber so eine Nase ist weicher als man denkt.“

„MEINE NASE! SPINNST DU? DU HAST MIR DIE NASE GEBROCHEN!“ schrie er außer sich und versuchte ihn anzusehen. Noahs Hilfeversuch war ihm in diesem Moment egal.

„Pech. Da ist die Königin von der Drohne wohl aus dem Stock gestochen worden.“

„Oh Gott … meine Nase …“ Der Schock lähmte ihn und seine Augen suchten schwindelig nach einem Anhaltspunkt. „Mein Gesicht … meine Nase …“

„Hey, ganz ruhig. Nicht zu fest draufdrücken“ versuchte Noah zu helfen und legte den Arm um ihn. „Kann mal jemand einen Arzt rufen?! Hannes!“

Der hing schon am Telefon und telefonierte einen Krankenwagen herbei.

Noah konnte die gefallene Königin noch festhalten, bevor Tjergen in seinen Armen zusammensackte und das Bewusstsein verlor. Nicht nur der Schock, sondern auch der plötzliche Blutverlust waren zu viel.

„Mokuba! Du kannst ihm doch nicht Nase brechen. Tickst du noch richtig?“

„Er hat es herausgefordert“ erwiderte er zufrieden und küsste seine Faust. „Niemand hat das Recht, so über meine Familie zu sprechen.“

„Und du hast nicht das Recht, ihm sein Leben kaputt zu machen. Mit einer schiefen Nase, ist seine Karriere beendet.“

„Ach, die Ärzte flicken das schon wieder hin. Eine Schönheits-OP mehr oder weniger fällt bei dem auch nicht mehr auf. Und wenn du denkst, ich mache ihn wieder heil, kannst du das vergessen.“ Unberührt nahm er die Zigaretten vom Tisch und drehte sich um. „Ich bin dann oben, wenn noch was sein sollte.“ Und so ging er beschwingt die Treppe hinauf und machte sich aus dem Staub. Noah hatte zwar keine Szene bekommen, aber dafür mal die Erfahrung, was passierte, wenn man Mokuba machen ließ.

„Hätte nicht gedacht, dass er so einen Schlag hat“ urteilte Tato nüchtern, während Mokeph trotz seiner Verbundenheit zu seinem Hikari nach Tjergen sah und wenigstens die starke Blutung zum Stillstand brachte. Bis die Sanitäter vor Ort waren und ihn ins Krankenhaus brachten.
 


 

Chapter 34
 

Seto klopfte nur kurz an der Tür, bevor er sich selbst hereinließ. Mokuba saß auf der Fensterbank, qualmte hinaus und streichelte Happy Birthday, welche es sich schnurrend auf seinem Schneidersitz gemütlich gemacht hatte.

„Bitte leise mit der Tür, Danti schläft“ sagte er und aschte in den Aschenbecher. „Die Klinke klemmt.“

Seto schloss also leise hinter sich und hörte an dem Knacken, dass die Klinke sonst lauter einrasten würde. Er trat näher und setzte sich auf die Fensterbank, Mokuba gegenüber zu dessen Füßen. Sofort flatterte Lady auf den Baum davor und sah den beiden beim Sitzen zu. So blieben sie einige Momente still und sahen, dass bereits ein Krankenwagen in der Auffahrt parkte und zwei Sanitäter ins Restaurant huschten.

„Ich weiß, ich hätte ihn vor dir nicht schlagen sollen“ begann Mokuba und zog ruhig an seiner Zigarette. Er wusste, dass Seto beklemmende Gefühle bekam, wenn er körperliche Gewalt sah. „Tut mir leid, dass du das sehen musstest.“

„Nein, er hatte ne Schelle verdient.“

„Bitte?“ Er machte runde Augen und sah seinen großen Bruder verwundert an. „Du findest, das war in Ordnung?“

„Zum Teil. Er hat sich wirklich zu viel rausgenommen.“

„Finde ich auch“ nickte Mokuba entschlossen. „Keiner redet so über meine Familie. Er hat’s wirklich nicht anders verdient.“

„Aber nur zum Teil“ wiederholte Seto und strich Happy Birthdays Rücken. „Ich musste mich erst beruhigen bis ich dir nachgehen konnte. Du hast mich ziemlich geschockt.“

„Also doch. Tut mir leid, Seto.“ Er nahm seine Hand und drückte sie. „Ich weiß, dass du so etwas nicht sehen kannst. Tut mir leid, dass ich nicht an dich gedacht habe.“

„Nein, darum geht es nicht.“ Er entzog ihm seine Hand und schon flatterte Lady herüber, landete auf dem Fenstersims und kletterte seinen Arm hinauf, um ihm beizustehen. Auch Mokuba sah, dass in Setos eisblauen Augen etwas unsicheres lag. Er mochte diesen Blick nicht.

„Tut mir leid, Seto. Ich konnte nicht anders … du hast doch selbst gesagt, er hat’s verdient. Aber ich … tut mir leid, dass du dabei warst.“

„Es ist nicht der Faustschlag, der mich erschreckt hat.“ Er blickte aus dem Fenster und auf die schaulustigen Passanten, die sich den Krankenwagen besahen. „Es hat mich erschrocken, dass du dich dabei so gut gefühlt hast.“

„Ich …“ Im ersten Moment verstand er das nicht. Seto bekam Panikattacken, wenn er auch nur einen Boxkampf im Fernsehen sah. Geschweige denn eine Prügelei auf der Straße. Und nun das.

„Du hast Recht, niemand darf so über uns sprechen“ fuhr er mit gesenkter Stimme fort. „Mir ist auch schon die Hand ausgerutscht. Das kann passieren, wenn man nicht weiter weiß und sich schwach fühlt. Dass du ihn geschlagen hast, ist zwar nicht richtig, aber verständlich. Unverständlich ist mir jedoch, dass du dabei solch eine Genugtuung empfindest, andere zu verletzen.“

„Ich empfinde dabei keine Genugtuung. Ich bin Heiler. Ich verletze andere Menschen nicht gern.“

„Und doch habe ich gespürt, wie ein Hochgefühl in dir aufkam.“ Er blickte ihn an und forschte im Gesicht seines kleinen Bruders. „Du kannst mir nichts vormachen. Du hast dich gut dabei gefühlt. Zu hören wie seine Nase bricht und das Blut … du hast nicht mal ansatzweise Mitleid oder Schuld gefühlt.“

„Warum denn auch? Er ist ein Arschloch sondergleichen.“

„Und doch ist er ein Mensch und du hast ihm Schmerzen zugefügt.“

„Ja, aber …“

„Nein, es gibt kein Aber.“ Er zog seinen Kopf zurück als Lady ihn am Ohr knabberte. Das mochte er jetzt gerade nicht. Da tröstete sie eben weiter seine Haarspitzen. „Du hast ihn geschlagen, weil du nicht wusstest, wohin mit deiner Wut. Das war nicht richtig, aber noch zu rechtfertigen. Aber dass du dich danach so gut gefühlt hast, hatte nichts mehr mit Noah oder mit Wut zu tun. Du hast dich gut gefühlt, weil du ihm Schmerz zugefügt hast. Weil du Macht über ihn hattest. Es war dasselbe Gefühl, welches ich kenne.“

„Du meinst, du fühlst dich auch manchmal so?“

„Ja, schon oft.“ Doch in seinen Augen lag keinerlei Verbrüderung mit diesem Gefühl der Genugtuung. „Nur dass ich derjenige bin, der auf der anderen Seite steht.“

Mokuba sah ihm tief in die Augen und dachte nach, während er dieses kaltwarme Blau betrachtete. Doch erst als Seto seinen Blick abwandte, stellte sich allmählich Erkenntnis ein, was sein großer Bruder ihm schonungsvoll zu sagen versuchte.

„Seto, du … was genau willst du sagen?“

„Du hattest denselben Blick wie sie“ hauchte er und verbarg sein Gesicht, indem er zum Fenster hinaussah. „Wenn sie es tat, hatte sie denselben Ausdruck wie du. Selbstzufrieden und besessen von Macht.“

„Wie kannst du so etwas sagen?“ Mokuba schmiss Happy Birthday von seinem Schoß und stand auf. Er lief ein Mal zur Badezimmertür und wieder zurück. „Wie kannst du so etwas sagen? Ich bin nicht wie sie! Wie kannst du das behaupten?“

„Leise, Dante schläft.“

„Wie kannst du mir so etwas unterstellen? Sieh mich gefälligst an.“ Er stützte sich auf Setos Knie und zwang ihn zu einem Augenkontakt. „Ich bin nicht wie sie und das weißt du. Wie kannst du nur an sie denken, wenn du über mich redest?“

„Hör auf, damit. Lass mich los.“

Mokuba fühlte wie Seto hart wurde und er sah wie er seine Schultern hochzog. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er mit seinen Gefühlen kämpfte. „Tut mir leid.“ Also nahm er langsam die Hände weg und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Die schmeckte ihm nun auch nicht mehr. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht anschnauzen.“

„Schon gut.“

„Nein, es ist nicht gut. Mann, Seto.“ Er seufzte und verschränkte die Arme vor dem Bauch. „Ich habe eh schon genug Probleme mit meinem Spiegelbild. Ich will aber nicht, dass du sie siehst, wenn du mich ansiehst. Du als Letzter.“

„Aber du bist ihr sehr ähnlich. Du hast viel von ihr.“

„Trotzdem. Ich will nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden. Besonders nicht von dir. Ich hasse sie und das weißt du. Ich bin ein Heiler, ich studiere Medizin. Ich will den Menschen helfen und nicht … nicht wie sie sein.“

„Sie ist krank. Sie kann nichts dafür, dass sie so ist.“

„Das ist doch egal. Sie hatte kein Recht, das mit dir zu tun. Tjergen da unten, dieser arrogante Fatzke, der hat’s verdient. Der ist kein hilfloses Opfer im Gegensatz …“

„Sag’s ruhig. Im Gegensatz zu mir“ ergänzte er mit tonloser Stimme.

„Mann, Seto. Ich liebe dich. Das weißt du.“

„Ich weiß.“ Er kraulte Ladys warme Brust und ihr sanftes Gurren wirkte tröstend. Sie beruhigte seine Nerven mehr als jedes Medikament.

„Ich würde niemals Spaß daran finden, jemand hilflosem Gewalt anzutun.“

„Ob hilflos oder nicht ist egal. Dir ist die Hand ausgerutscht, weil du aufgebracht warst. Bis dahin verstehe ich es ja. Aber ich verstehe nicht, weshalb du danach so zufrieden warst. Und du kannst mir nicht sagen, du hättest kein Glücksgefühl empfunden.“

„Ja, vielleicht habe ich mich gut gefühlt. Aber nur weil er es verdient hatte. Er hat schlecht über uns geredet, ohne zu wissen, was wir erlebt haben. So etwas darf er sich nicht rausnehmen. Ich lasse mich weder von dir noch von Noah haushalten. Er hat doch keine Ahnung! Wie kann er sich so etwas rausnehmen?“

„Aber du sagst es doch. Er wusste nicht, wovon er spricht. Heute ist er es, der redet und dem du eine scheuerst. Morgen ist es jemand anderes und irgendwann hast du es nicht mehr unter Kontrolle.“

„Du weißt, dass ich nicht so bin wie sie. Ich raste nicht aus, nur weil mich jemand mal schief anguckt.“

„Tust du nicht?“ Seto blickte ihn vorsichtig an.

Mokuba spürte, dass er das zu Recht sagte. Er hatte sein Temperament nicht immer unter Kontrolle und wenn man erst die eine Hemmschwelle, einen schlichten Faustschlag, überwunden hatte, war die nächste Schwelle nicht weit. Dennoch … „Seto, ich werde Dante niemals schlagen. Ich werde ihn nicht mal hart anfassen. Egal wie schlecht er sich benimmt. Ich kann niemandem, den ich liebe etwas antun.“

„Das sagst du heute. Mama war auch nicht immer so. Mama war früher auch lieb. Auch sie hatte Träume und gute Wünsche für ihre Familie.“

„Du tust mir weh, wenn du das sagst. Seto.“ Er kniete sich vor ihn und legte ihm behutsam die Hände auf die Knie. „Ich bin nicht wie sie.“

„Ich weiß. Sonst könnte ich auch nicht so mit dir sprechen.“ Er berührte Mokubas Hände, die ihm so warm vorkamen. „Wenn du wie sie wärst, würden dir meine Worte nichts bedeuten.“

„Aber das tun sie. Das weißt du.“

„Ich weiß. Und nur deshalb kann ich dich bitten.“ Er streichelte Mokubas Hände und betrachtete sie. So lange Finger und so feingliedrig. Genau wie ihre. „Bitte achte auf deine Aggression. Wenn du andere verletzt und dich dabei gut fühlst, dann stimmt etwas nicht. Ich weiß nicht wie es bei Mama damals anfing, aber irgendwann wurde sie krank und hatte es nicht mehr im Griff. Ich habe keine Angst vor dir, aber ich habe Angst um dich. Ich will nicht, dass du auch krank wirst.“

„Ich bin nicht wie sie“ wiederholte er nochmals. Auch wenn er die Sorge als berechtigt ansah. Seine neuen Leidenschaften mit Noah und dann das hier. Es passte zu gut zusammen. Auch wenn das Gefühl, welches er zu Noah empfand ein weitaus anderes war als das, was er gegen Tjergen hatte.

„Ich weiß, ich bin nicht der Richtige das zu sagen, aber du musst dich dem stellen, was damals passiert ist. Du hast Dinge erlebt, die ein Kind nicht erleben sollte.“

„Seto. Bitte nicht darüber reden.“

„Lass mich dir das trotzdem sagen, ja?“ Er begegnete endlich wieder seinem Blick und wich nicht aus. „Du darfst dich aus Situationen in denen du dich hilflos oder gereizt fühlst, nicht mit Gewalt befreien. Heute ist es vielleicht jemand, der sich an Noah ranmacht und der es vielleicht sogar verdient hat. Aber du weißt nicht, wer es das nächste Mal ist und irgendwann trifft es jemanden, den du auch seelisch verletzt. Es tut mir leid, dass du damals alles mit ansehen musstest. Dass ich dich nicht davor beschützen konnte.“

„Du warst doch selbst noch ein Kind.“

„Trotzdem hätte ich auf dich aufpassen müssen. Und jetzt muss ich Verantwortung für das übernehmen, was du damals erlebt hast.“

„Unsinn, ich hätte DICH beschützen müssen!“ Er stand auf und schon wieder stieg dieses Gefühl in ihm hoch. Dieses hässliche, kaltbrennende Gefühl. „Ich habe doch gesehen, wie du … wie du auf dem Tisch lagst und sie … sie hat dich festgehalten und ich habe nichts getan, um dir zu helfen! Ich hätte reingehen können, ich hätte schreien können, ich hätte alles machen können, aber nicht einfach nur dastehen! Wäre unsere Nachbarin nicht gekommen, wer weiß ob du das überlebt hättest! Und ich stand einfach nur daneben! Ich werde nie wieder einfach so daneben stehen! Ich werde mir nie wieder etwas gefallen lassen oder zusehen wie jemand anderes …!“

„Aber deshalb darfst du nicht aggressiv werden“ sprach Seto wesentlich ruhiger. Er wusste, dass das alles tiefer in Mokuba lag als der es wahrhaben wollte. „Anfangs ist auch Mama nur die Hand ausgerutscht und es tat ihr leid. Ich will nicht sagen, dass du Dante irgendwann auf dem Tisch festhältst, aber du hast ein Problem mit deiner Hilflosigkeit und das hat sich heute nur verfestigt.“

„Glaubst du?“

„Ich weiß es nicht. Ich bin kein Psychologe“ antwortete er sanft. „Mokuba, ich bin nicht der einzige, der eine schlimme Kindheit hatte. Ich weiß, dass du dich nach deinem Schlag unglaublich gut gefühlt hast. Nur deshalb wühle ich das noch mal auf. Ich mache mir Sorgen und deshalb … Mokuba, bitte such dir jemanden, der dir hilft, das zu verarbeiten. Du schiebst das seit Jahren vor dir her, aber es wird nicht besser.“

„Du meinst also ich entwickle ein Aggressionsproblem?“

„Ich meine gar nichts. Ich weiß nur, dass du Sachen gesehen und gehört hast, die kein Kind so einfach wegsteckt. Und seit ein paar Minuten weiß ich, dass du in Situationen, in denen du dich hilflos fühlst und wenn keiner eingreift, dass du dann so reagierst wie du es damals gesehen hast. So wie ich in meiner Hilflosigkeit die Dinge einfach über mich ergehen lasse, so handfest wehrst du dich. Nur weiß ich, dass ich Probleme habe mit meinen Erlebnissen abzuschließen. Aber ich glaube … ich glaube, du solltest auch anfangen, an dir zu arbeiten. Nicht mir zuliebe und vielleicht nicht mal dir zuliebe. Aber für Dante.“

„Ich werde Dante niemals etwas tun. Niemals. Niemals.“ Er blickte zum Fenster und sah wie der Krankenwagen um die Ecke bog. Und Setos Worte bekamen langsam einen Sinn. Ja, er fühlte sich großartig als er Tjergen zum Schweigen brachte. Doch vielleicht war die Sache an sich nicht so großartig wie sie sich anfühlte. Sich zu wehren war okay, aber nicht okay war es, sich an dem Leid anderer zu freuen. Vielleicht hatte Seto Recht. Heute war sein Faustschlag vielleicht noch zu begründen, aber wäre er das morgen auch noch? Wenn Dante in seiner Unwissenheit ein Messer in die Hand nahm und Mokuba Angst um ihn bekam, war er wirklich so sicher, dass es keinen Klaps gab? Und wenn es einen Klaps gab wie weit weg war dann noch die Hemmschwelle zu einer Ohrfeige? Und wenn Dante sah wie Mokuba sich mit Schlägen gegen andere wehrte, würde er das nicht auch übernehmen? Würde er das falsche Verhalten nicht kopieren wie es jedes Kind tat? So wie Mokuba es unbewusst tat?

„Ich weiß, dass du ein guter Vater bist und Dante über alles liebst“ sprach Seto langsam. „Aber Mama hat mich vielleicht auch mal lieb gehabt. Und vielleicht irgendwo ganz tief in sich drin hat sie mich vielleicht immer noch lieb und kann es nur nicht zeigen.“

„Hör auf. Ich will das nicht mehr hören“ bat Mokuba und kämpfte die Tränen zurück.

„Mama hatte niemanden, der zwischen sie und ihre Wut getreten ist. Mama war alleine. Du bist das nicht. Und allein deshalb …“

„Seto, hör auf.“ Es wühlte ihn auf, wenn Seto so liebevoll über ein Monster wie sie redete. Ja, vielleicht war sie nicht immer böse und vielleicht war sie einsam, aber letztlich war sie ein Monster geworden. Eines, welches er hasste für all das, was sie ihren Kindern angetan hatte. Ihre Tochter hatte sie sterben lassen, ihren einen Sohn fast zu Tode gefoltert und ihrem dritten Kind nur falsche Liebe gegeben. Und ob er es nun wahrhaben wollte oder nicht - er war nun mal ihr Sohn. Und er wollte nicht sein wie sie. „Ich glaube nicht, dass ich irgendwann mal Hand an irgendjemanden legen werde … jedenfalls an niemanden, der es nicht verdient hat. Aber du bist mein großer Bruder und wenn du mich bittest, dass ich mal mit meinem Psychologen rede, dann tue ich das.“

„Mein Gewissen wäre auf jeden Fall ruhiger“ antwortete er und setzte eine Atempause. Mokuba kam es vor als wäre Seto nun etwas erleichtert. „Es tut mir leid, dass ich dich damals nicht davor beschützen konnte, dass du all das mitbekommst. Dein Leben hätte anders sein sollen.“

„Und mir tut es leid, dass ich nichts getan habe“ erwiderte auch er. „Ich habe es gewusst und doch hatte ich nie den Mut, mich jemandem anzuvertrauen. Wenn ich geredet hätte, wäre es vielleicht einfacher geworden.“

„Du warst noch ein Kind. Es ist ganz normal, dass du nichts tun konntest. Du wusstest genauso wenig wie man damit umgehen sollte wie ich. Dennoch mache ich mir Vorwürfe. Ich habe geahnt, dass du es wusstest und habe immer gesagt, es wäre nichts. Anstatt dir zu helfen, habe ich dich angelogen und verhindert, dass du über deinen Schmerz sprichst. Das war falsch.“

„Nein, es war nicht falsch. Du hast mir damit Kraft gegeben.“

„Und doch habe ich nie darauf bestanden, dass du darüber sprichst. Weder mit mir noch mit einem Erwachsenen. Ich hätte das alles nicht verdrängen dürfen. Dann wäre es vielleicht auch dir leichter gefallen und du wärst nicht so wütend. Ich war dir kein gutes Vorbild.“

„Ich habe schon damals geglaubt, dass du der stärkste Mensch der Welt bist. Und das glaube ich immer noch.“ Er kam zwei Schritte näher und berührte Setos Schulter, bevor er Ladys Kopf kraulte. „Wir sind beide ziemlich verkorkst, oder?“

„Tja“ seufzte er und erwiderte den schnäbelnden Kuss seiner Falkendame, die alles tat, um ihn zu trösten. „Ich bin froh, dass du das so aufnimmst. Ich dachte, du schimpfst, wenn ich dir das sage.“

„Ach Seto. Wann schimpfe ich denn schon mit dir?“

„Na ja …“

„Okay. Wenn’s ernst ist, meine ich“ lachte er und sah ihn lieb an. „Darf ich dich drücken? Oder magst du das gerade nicht?“

„Doch, das halte ich aus. Komm her.“ Er breitete die Arme aus und Mokuba beugte sich zu ihm, setzte sich letztlich aber auf seinen Schoß, um ihn richtig zu umarmen. Seto war gesund kühl und fühlte sich fest und breit an. Der perfekte Beschützerbruder mit einem unendlich weichen Wesen. Und es war gut zu wissen, dass man sich aussprechen konnte. Auch über die Dinge, welche man lieber verschweigen würde.

Er löste sich erst wieder als er spürte, dass Seto ihn sanft fortdrückte. Zuerst dachte er, dass es ihm zu viel wurde, doch dann sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung und dann nach einem Kopfdrehen Noah in der Tür stehen. Angelehnt an den Rahmen mit Hand an der kaputten Klinke.

„Wie lange stehst du da schon?“

„Seit dem ‚Wir sind verkorkst‘-Eingeständnis.“

„Und dann beschwere dich noch ein Mal, dass ich in Voyeur sei.“

„Das hier ist übrigens auch mein Schlafzimmer“ gab er zu bedenken und ließ sich selbst herein. „Hat unser Bruder dir die Leviten gelesen oder muss ich das noch erledigen?“

„Wir haben wahrscheinlich über was anderes gesprochen als du denkst.“ Er rutschte von Setos Schoß neben ihn, faltete die Hände und blickte fromm zu Boden. „Okay, leg los. Mach mich zur Schnecke.“

„So macht das keinen Spaß mit dir.“ Noah nahm auf dem Bett Platz, womit er ihm fast gegenüber saß. Seinem Gesichtsausdruck zu folgern, war er nicht mal ansatzweise so sauer wie Mokuba vermutete.

„Bist du nicht sauer, weil ich schon wieder einen deiner Freunde gedisst habe?“

„Tjergen zähle ich nicht zu meinen Freunden. Ich mag ihn, aber wir sind ne Zweckgemeinschaft“ erklärte er und schlug die Beine übereinander. „Bis auf deinen rechten Haken fand ich die Sache eigentlich ganz amüsant.“

„Hä?“ Da kam Mokuba nicht mehr mit. Und dass Happy Birthday ein forderndes „Mauwau!“ hinzufügte und zurück auf seinen Schoß sprang, klärte die Sache auch nicht. „Ich dachte, du wärst super angepisst.“

„Anpissen tut mich nur der da“ nickte er zur Seite. Dort versuchte gerade sein Lieblingskaterfeind in den Kleiderschrank zu krabbeln - wahrscheinlich um sich über Noahs Hemden herzumachen, die er im wahrsten Sinne des Wortes … nun ja.

„Hello! Pfui!“ Der Kater blieb stocksteif stehen und erstarrte zur Salzsäule. Vielleicht sah Herrchen ihn dann nicht mehr? „Raus aus dem Schrank! Du spinnst wohl!“ Doch als er sich noch immer nicht bewegte, gab er seiner treuen Katze einen Klaps, die dann auch sofort lossprang und ihren Gemahl in den buschigen Schwanz biss. So fest, dass er jaulte und den nächstbesten Weg ins Badezimmer nahm, wo auch das korrekte Örtchen für sein Vorhaben stand.

„Er tut das nur, um mich zu ärgern.“

„Ich habe doch gesagt, Kastration bringt nichts.“

„Okay, zurück zum Thema“ schloss er und widmete sich wieder den Dingen, die er sofort klären konnte. „Dir ist doch wohl klar, dass Tjergen dich jetzt verklagen wird.“

„Meinst du?“

„Ja, hör mal.“ Er zog die Augenbrauen zusammen. „Du hast gerade dem Top-Model unseres Jahrzehnts die Nase gebrochen. Du glaubst doch wohl nicht, dass er das auf sich sitzen lassen wird.“

„Der hat doch garantiert Versicherungen, die sowas abdecken.“

„Ja sicher, aber verklagen wird er dich trotzdem. Das ist dasselbe als würdest du einem Fußballer das Bein brechen.“

„Finde ich nicht. Ein Fußballer kann dann seinen Job nicht mehr machen. Tjergen kann immer noch Körpermodell sein.“

„Das erkläre mal seinem Anwalt.“

„Quatsch, das erklären ihm unsere Anwälte.“

„U n s e r e Anwälte?“ wiederholte Noah skeptisch. „Ich bin nicht derjenige, der ihm die Karriere ruiniert hat.“

„Ich meine, die Anwälte, die uns immer bei so was vertreten.“

„Du meinst, die Anwälte, die Seto, Joey und mich für die KC vertreten. Soweit ich weiß, hast du überhaupt keine Anwälte, Kleiner.“

„Aber du besorgst mir welche.“

„Wie gesagt, ich habe keinen so dollen Haken wie du.“

Jetzt wurde Mokuba flau im Magen. Wenn Noah ihm keinen guten Anwalt engagierte, konnte er sein Medizinstudium in den Wind schießen und erst mal Jura im Schnelldurchgang machen. Und selbst dann sah es noch dunkel aus. Und ein Blick zu Seto zeigte auch nicht viel Mitleid. Die Suppe hatte er sich selbst eingebrockt.

„Jetzt sieh nicht so bange drein. Wir regeln das schon“ löste Noah seine Gemeinheit auf und lächelte ihn beruhigend an. „Wir bezahlen einfach den Vergleich und gut ist. Viel mehr Sorgen mache ich mir um unser Image.“

„Image?“

„Wenn die Presse rausbekommt, dass mein Freund Top-Models verprügelt, ist das ein gefundenes Fressen. Das liegt mir viel mehr auf der Seele als ein paar Millionen.“

„Tut mir leid, dass ich euch immer Probleme mache“ entschuldigte er sich und sah auch zu Seto. „Wirklich, tut mir leid.“

„Um mein Image brauchst du dir keine Sorgen machen. Das kann nicht übler werden.“

„Aber meines. Da habe ich lange für gelächelt bis mich alle für einen netten Kerl halten“ sprach Noah ernst.

„Super ey. Ne Standpauke gleich von beiden“ seufzte Mokuba und strich sein Haar zurück. „Das habe ich wohl verdient.“

„Wundert mich, dass du so schuldbewusst tust“ meinte Noah und beugte sich leicht zu ihm vor. „Willst du mir keine Szene machen?“

„Szene? Warum?“

„Du bist ja lustig, Häschen. Bei jedem Mann machst du mir Szene, selbst wenn der 50 Jahre älter ist als ich. Und da kommt so ein leckerer Kerl, der so absolut meinem Geschmack entspricht und dir obendrein noch gleicht wie ein Klon und das juckt dich nicht?“

„Warum? Hattest du was mit ihm?“

„Ich habe mich recht oft mit ihm getroffen und ihn sogar ins Bett getragen als er betrunken war. Und er hat mir schöne Augen gemacht.“

„Aber gehabt hast du nichts mit ihm. Ich meine Sex.“

„Natürlich nicht!“

„Dann ist doch alles gut“ zuckte er mit den Schultern.

„Also, jetzt wundere ich mich aber auch“ musste Seto erstaunt zugeben. „Dieses Model sah dir verdammt ähnlich und entspricht so genau Noahs Vorlieben, dass es fast verständlich wäre, wenn er weich würde und das kratzt dich nicht?“

„Nein, überhaupt nicht“ betonte Mokuba noch mal.

„Aber du bist doch sonst so eifersüchtig.“ Noah wollte es sich nicht anmerken lassen, aber ein bisschen enttäuscht war er schon. „Lassen deine Ansprüche auf mich langsam nach? Ist es wegen der Fältchen an meinen Augen?“

„Du hast Fältchen an den Augen?“

„Sag bloß, das hast du noch nicht gesehen? Ich bin runde 30 und …“

„Unsinn, du hast keine Falten, du Spinner.“

„Wer hier spinnt, bist du“ meinte Seto. Ausnahmsweise durfte er nun auch mal jemand anderen als Spinner brandmarken. „Hat dir jemand das Gehirn gewaschen? Dass dieser Tjergen Noah ins Bett locken wollte, habe sogar ich mitbekommen.“

„Eben genau deshalb mache ich mir keine Sorgen.“

„Ich werde verrückt“ rief Noah aus, raufte sich die Haare und fiel rückwärts aufs Bett zurück. „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“

„MAUA!“ Und Happy nahm sofort die Gelegenheit Noahs Bauch für sich zu erobern.

„Das kann ich dir ganz einfach erklären.“ Zur Abwechslung wusste Mokuba sogar mal, was mit ihm los war. Er wechselte den Platz und setzte sich auf Noahs Beine, um ihm direkt von oben ins Gesicht zu sehen. „Eben genau der Fakt, dass Tjergen mir so ähnlich ist, lässt mich so ruhig bleiben.“

„Und weshalb, wenn man fragen darf? Du weißt, dass ich auf die Art Mann wie ihn abfahre. Bei solchen Typen werde ich willenlos.“

„Du wirst bei Typen wie mir willenlos, mein Schatz“ lächelte er selbstsicher. „Wenn du mich betrügen wolltest, würdest du dir jemanden suchen, der dir etwas bietet, was du nicht hast. Es müsste jemand sein, der besonders männlich ist, rau und vielleicht mit Körperbehaarung.“

„Ierk“ verzog Noah das Gesicht. Allein der Gedanke an behaarte Männerbrüste jagte ihm eine Gänsehaut in den Nacken.

Happy wurde das zu aufregend. Sie rutschte von Noahs Bauch und sprang zurück auf die Fensterbank. Vielleicht wollte Seto ja mit ihr kuscheln.

„Siehst du?“ schmunzelte sein Häschen. „Ich entspreche doch voll und ganz dem Bild, das du in deinen Träumen siehst. Ich bin schlank, habe volles, langes Haar, dunkle Augen und einen schlichten, eleganten Stil. Außerdem bin ich eine dominante Zicke. Und das alles von Natur aus. Warum solltest du dir also den Stress machen und mich mit Tjergen betrügen? Bei mir bekommst du ganz legal das, worauf du stehst. Auch die ganz üblen Dinge“ betonte er mit hochgezogener Augenbraue. Wusste er doch schließlich, dass Seto hinter ihm saß. „Wenn du dir ein Abenteuer suchst, dann mit jemandem, der dir etwas bietet, was ich dir nicht biete. Aber solange du dich mit Typen abgibst, die genauso sind wie ich, mache ich mir keine Sorgen. Mit denen treibst du es nicht und weißt du auch warum?“

„Ähm … warum?“

„Weil du zu praktisch denkst“ grinste er. Er kannte doch seinen Noah. „Du holst dir nicht unter größter Anstrengung das, was du bereits hast. Das wäre nicht ökonomisch. Und deswegen weiß ich, dass Tjergen dich nicht ins Bett kriegen würde. Solange du noch auf Typen wie mich abfährst, ist alles in Ordnung.“

„Du erstaunst mich immer wieder“ konnte Noah da nur sagen. Er hatte eine Szene erwartet wie es sie niemals eine zweite gegeben hatte. Und dabei war Mokuba vollkommen entspannt.

„Tatsächlich?“ lächelte er, beugte sich vor und hielt Noahs Hände neben dessen Kopf auf die Matratze gedrückt. „Dann sage mir mal, weshalb du ihn wollen würdest und nicht mich?“

„Ähm … ich weiß nicht?“

„Siehst du? Du würdest mich nicht mit so einem betrügen. Weil ich deine Gelüste bereits kenne. Und weil ohne mich müsstest du dir eine männliche Domina suchen, welche deine kleinen, schmutzigen Wünsche erfüllt und das fiele dir äußerst schwer.“

„Ooooookay“ sprach Seto langsam und erhob sich. „Das ist wohl der Moment, in dem ich mich ausklinken sollte.“

„Ach, komm schon“ schmunzelte Mokuba. „Du weißt doch, dass Noah und ich es treiben wie die Karnickel. Und mein Hase hat so eine leckere Möhre.“

„Ja schon, aber … Moki, musst du das jetzt sagen? Die Bilder werde ich ja nie wieder los“ erwiderte er mit einem verzweifelten Blick. „Du bist mein Bruder und Noah auch. Allein der Gedanke daran, wie ihr … nein, ich gehe“ winkte er ab und schwankte zur Tür. Er wollte das alles gar nicht wissen.

„MAU?!“ Ging der jetzt etwa auch?

„Dann komm doch mit, Happy.“

„Krrrriiiiiiiiiiia!“ machte auch Lady einladend.

„Aber Moki“ schmunzelte Noah nun ihn an. „Du weißt schon, dass Seto und Yugi auch so manche Sachen miteinander tun, ja? So mit Möhren in …“

„Noah!“ Und davon wollte Mokuba nun nichts hören. Er wollte sich nicht mal vorstellen wie Seto dabei aussah, wenn Yugi ihn … „NEIN! Das will ich mir nicht mal vorstellen!“

„Na ja, wie du schon gesagt hast“ zwinkerte Seto seinem kleinen Bruder ein letztes Mal zu. „Die Kunst besteht nicht darin, zu stechen, sondern sich auf die richtige Art und Weise stechen zu lassen.“

„Aaaaah! SETO! Musstest du das sagen?“ Er hielt sich den Kopf und fiel qualvoll aufs Bett. „Böse Bilder im Kopf. Bööööse Bilder. Super, danke ey!“

„Nichts für ungut“ lachte der und zog leise die Tür hinter sich zu. Er hörte seinen kleinen Bruder drinnen noch seine bösen Bilder vertreiben, doch Seto fiel da noch etwas viel wichtigeres ein. Das konnte er nicht einfach so im Raume stehen lassen. Also öffnete er die Tür nochmals und schaute hindurch. „Übrigens Moki.“

„Was denn noch?“ Der schälte sich gerade von Noahs Schoß und richtete sein Haar.

„Du warst zwar schlagfertig, aber Drohnen haben keinen Stachel und verteidigen tun sie auch nichts. Sie dienen allein der Befruchtung.“

Und damit Mokuba es nicht sagen musste, ging glücklicher Weise gerade Joey über den Flur und gab im Vorbeigehen seine übliche Meinung ab: „Drache, du bist so ein Klugscheißer.“

Und der erwiderte routiniert: „Klappe, Idiot. Ich kann nichts dafür, dass du dumm bist wie ein Stück Brot.“

„Dafür will mich die ganze Welt.“

„Bitte?“ Auf dem Regal neben der Tür stand eine leere Blumenvase zur Dekoration. Diese drehte Seto schnell auf den Kopf und verfolgte Joey dann über den Flur. „Was sollte denn dieser unqualifizierte Kommentar?“

„Das war sehr qualifiziert, Mister. Hast du noch nie was von der Organisation ‚Brot für die Welt‘ gehört? Es ist also keine Beleidigung, wenn du mich Brot nennst.“

„Die Betonung lag nicht auf Brot, sondern auf dumm.“

„Ach, lass das doch. Im Gegensatz zu dir hat man sogar mit Bernd dem Brot mehr Spaß.“

„Mit mir kann man sehr wohl Spaß haben!“

„Womit denn? Mit Rumsitzen und Schmusen? Oder mit Schokolade futtern? So langsam zweifle ich eh daran, ob du überhaupt männliche Hobbys hast.“

„Natürlich habe ich männliche Hobbys!“

„Ja? Welche denn?“

„Ich … ähm …“ Ja, welche denn?

„Siehste. Nicht männliche Hobbys, höchstens Hobbys mit Männern. Das ist schwach, Drache. Echt schwach.“

„Du hast ja auch keine männlichen Hobbys!“

„Habe ich sehr wohl!“

„Welche denn?“

„Ich … ähm …“ Touché. „Ich spiele Videospiele!“

„Ich ENTWICKLE Videospiele!“

„Wenigstens liege ich beim Sex oben wie jeder anständige Mann!“

„Wieso behauptest du ständig, ich sei kein echter Mann?“

„Weil du in jeder Hinsicht wie ne Frau bist. In Hobbys und im Bett.“

„Was ich im Bett mache, geht dich gar nichts an.“

„Wünschte ich ja auch, aber du bist so laut, dass man gar nicht drumrum kommt!“

„Wenigstens muss ich nicht darum betteln, mal Sex zu bekommen!“

„Du wechselst das Thema, Alter. Geh erst mal deine Happy-Pillen einschmeißen, sonst kann man ja gar nicht mit dir reden.“

„Nur weil ich in meinem Niveau gar nicht bis zu dir runtersinken kann. Kein Wunder, dass du mich nicht verstehst!“

„SETO! JOEY! TÜR ZU!“
 


 

Chapter 35
 

„Ich hasse Krankenhäuser“ seufzte Mokuba. Sie waren an der richtigen Tür angekommen, Noah hatte sogar einen gigantischen Blumenstrauß dabei. Dennoch hatte er Flaute im Magen. „Wiederhole doch bitte noch mal, warum ich mich bei Tjergen entschuldigen soll.“

„Weil du ein guter Mensch bist, der seine Fehler bereut.“

„Die Variante ‚Damit er dich nicht verklagt‘ hat mir besser gefallen.“

„Davon abgesehen, solltest du Krankenhäuser nicht hassen. Du studierst doch Medizin, mein Häschen.“

„Ich werde aber kein praktischer Arzt, sondern Wissenschaftler.“

„Die müssen auch mal ins Krankenhaus. Und wenn es nur ist, um sich zu entschuldigen. Also los jetzt.“ Er klopfte an die Tür, wartete drei Sekunden und öffnete sie dann langsam.

Sobald er seinen Kopf hereinsteckte, hörte Mokuba ein glücklich nasales „Noah!“.

„Guten Morgen, Terry. Komm.“ Er ging hinein und ließ Mokuba nach sich eintreten.

„Und dein Anhängsel“ stellte die nasale Stimme weniger erfreut fest.

„Wir haben dir Blumen mitgebracht. Dunkelrote Rosen. Du liebst doch Rosen, oder?“

„Danke.“

Noah gab dem Kranken zwei Wangenküsse und legte die Blumen auf dem Teewagen neben dem Bett ab. Mokuba schloss zwar die Tür, aber hielt noch etwas Abstand. Das sonst so hochgestylte Model sah plötzlich ganz anders aus. Tiefe Augenringe und ein dicker Verband um die Nase. Jetzt sah Mokuba, dass auch über seiner Lippe ein Pflaster haftete. Das Haar war zwar streng geflochten und mit einem gewissen Fettglanz. Nur das kurzärmlige, hellbraune Shirt wirkte modisch, auch wenn die Krankenhausdecke mit ihrem hellgrünen Bezug einen krassen Kontrast bildete.

„Wie geht es dir?“ Noah zog zwei Stühle herbei und zwang Mokuba mehr oder weniger, sich herzusetzen. Was er dann auch tat. Da musste er jetzt durch.

„Geht so“ antwortete Tjergen mit gequetschter Stimme. „Sie haben mein Nasenbein geschient, aber es ist ein Splitterbuch und muss noch mal operiert werden. Und meine Lippe musste auch genäht werden. Und eine leichte Gehirnerschütterung habe ich auch. Ganze Arbeit.“ Er warf Mokuba einen undeutlichen Blick zu. „Meine saubere Karriere kann ich jetzt an den Nagel hängen.“

„Das bekommen wir wieder hin“ versprach Noah und Mokuba musste tatenlos zusehen wie er Tjergens Hand griff. „Ich lasse dir noch heute den besten Chirurgen einfliegen, er sitzt bereits im Flieger hierher. Und die Kaiba Corp. wird an ihrem Werbevertrag mit dir natürlich festhalten.“

„Wenn ich nicht selbst davon zurücktrete“ eröffnete er und lehnte sich zurück. „Um ehrlich zu sein, habe ich im Augenblick wenig Lust, mit deiner Bagage noch etwas zu tun zu haben.“

„Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe“ versuchte Mokuba sich an einer Entschuldigung. „Es ist mit mir durchgegangen. Ich weiß, dass es dafür keine Entschuldigung gibt, aber ich wollte dich nicht so hart treffen.“

„Hast du aber. Und das ganz großartig.“

„Du hast aber auch sehr verletzende Dinge gesagt“ verteidigte Noah sein Häschen. Wenn auch mit sehr freundlicher, fast zärtlicher Stimme. „Mokuba und Seto haben keine leichte Vergangenheit. Und das hast du geahnt.“

„Trotzdem habe ich niemanden berufsunfähig gemacht. Wenn du hier bist, um mich zur Schnecke zu machen, kannst du dir das schenken, Noah.“

„Nein, wir sind hier, um uns zu entschuldigen“ sagte Mokuba erneut. „Um mich zu entschuldigen.“

„Und natürlich, um nach dir zu sehen, Terry. Hast du alles, was du brauchst?“

„Ja, alles wunderbar“ tat er das ab und winkelte seine Beine unter der Decke an. „Du brauchst dich auch nicht um mich zu kümmern. Mein Freund fliegt heute von Moskau nach Miami und macht hier eine Zwischenlandung. Ich denke, ich werde dann erst mal zu ihm gehen bis sich meine beruflichen Perspektiven geklärt und mein Gesicht sich normalisiert haben.“

„Du hast einen Freund?“ horchte Noah auf. „Warum hast du mir das nicht erzählt?“

„Ich muss es ja nicht gleich an die große Glocke hängen.“

„Aber ich … ha ha ha.“ Er fasste sich an die Stirn und fand sich selbst etwas albern. War er doch davon ausgegangen, dass Tjergen gewisse Absichten hegte. „Tut mir leid, wenn ich das so lächerlich zugebe, aber ich hatte das Gefühl, du wolltest mich ins Bett kriegen.“

„Wollte ich auch“ gab er zu und störte sich nicht daran, dass Mokuba direkt daneben saß. „Ich würde auch immer noch nicht aufgeben.“

„Aber …“ warf Mokuba mehr verwirrt als eifersüchtig ein. „Wenn du doch einen Freund hast, warum machst du dich dann an Noah ran?“

„Josh schläft ja auch mit anderen.“ Und auch wenn er das so frei heraus sagte, sah man einen Ausdruck in seinen Augen, der nicht zu ihm passte. Er wirkte verletzlich, weich. Und gar nicht mehr so stark und dominant wie noch gestern. Er langte nach den Blumen und pflückte eines der dunkelroten Rosenblätter ab.

„Und wie ist er so?“ fragte Noah freundlich. „Ich meine, ob er weiß, dass du weißt, dass er mit anderen …?“

„Wir haben eine offene Beziehung. Anders als ihr anscheinend“ erwiderte er und warf einen abfälligen Blick zu Mokuba, bevor er sich wieder an Noah wandte. „Josh war Kanadier, bevor er sich in den USA hat einbürgern lassen. Er arbeitet für Industrial Illusions, auch ein Grund, weshalb ich es dir nicht erzählt habe. Beziehungen zur Konkurrenz machen meine Kunden nicht gerade scharf auf Verträge mit mir.“

„Na ja“ zuckte Noah mit den Schultern. War ja nun auch nicht mehr zu ändern. Und Tjergen sah nicht gerade aus wie ein Industriespion. Dazu war er viel zu auffällig. „In was für einer Position ist denn dein Freund?“

„Er leitet derzeit den gesamten russischen und eurasischen Markt. Wenn ich in Europa bin, sehen wir uns recht häufig.“

„Ich glaube, deinen Josh kenne ich“ eröffnete Noah tatsächlich überrascht. „Du meinst Joshua McGanner. So ein Mittfünfziger mit dunklem Haar und einer Vorliebe für wuchtige Accessoirs?“

„Ja, sein Schmuck ist immer ziemlich protzig. Er zeigt gern, was er hat“ lächelte Tjergen soweit es sein Verband zuließ.

„Dann reden wir von demselben. Da hast du dir aber eine gute Partie gesichert. McGanner ist als harter Hund verschrien und davon abgesehen mehr als gut betucht.“

„Ja, an Geld und Ansehen mangelt es ihm nicht. Wahrscheinlich wird er sogar in die USA zurückbeordert und übernimmt dann die Leitung der Konzernstrategie.“

„Pegasus ist seine Strategie heilig“ nickte Noah anerkennend. „Mit McGanner zieht er wohl jetzt die autochthone Karte. Gut zu wissen, dass sich da in Zukunft etwas ändern wird.“

„Was ist autochthon?“ fragte Mokuba mittenrein.

„Das bedeutet soviel wie bodenständig. Pegasus hat in den letzten Jahren eine sehr aggressive Strategie gefahren und uns einige Markteile abgekämpft. Er ist aber häufig ein zu hohes Risiko eingegangen und hat dabei so manche Niederlage einstecken müssen. Wenn McGanner jetzt dieses Ressort übernimmt, wird Industrial Illusions demnächst für uns härter. Ich denke, er wird sich mit uns dann auf keine spontanen Grabenkämpfe mehr einlassen, sondern uns ‚den Kleinkram‘ überlassen und die KC somit eher bei den Großkunden angreifen. McGanner gibt sich bekanntlich nur mit den großen Brocken ab.“

„Schwere Geschütze also“ schlussfolgerte Mokuba.

„Deswegen möchte er auch nicht, dass seine Homosexualität öffentlich wird“ bat Tjergen ernst. „Das würde seinem Ansehen schaden. Du weißt wie das in solchen Kreisen zugeht, Noah. Das hier ist ein privates Gespräch. Ich hoffe, du kannst das trennen.“

„Ich bin auch ganz privat hier, Terry“ lächelte er ihn freundlich an. „Ich weiß auch, was du meinst. Ich kann mir mein Outing leisten, weil die Kaiba Corp. gut im Markt etabliert ist und ich selbst als junger und moderner Manager dastehe. Bei alteingesessenen Genossen wie McGanner ist das anders. Die halten sich natürlich an ihre konservativen Kreise. Muss schwer für dich sein, wenn er dich verheimlicht.“

„Geht ja nicht anders“ zuckte er mit den Schultern. „Er hat noch große Pläne und da kommt ein jüngerer Freund wie ich eben nicht gut an.“

„Dennoch. Für mich stand es nie zur Diskussion, meinen Freund zu verheimlichen“ sagte er und legte seine Hand auf Mokubas Knie.

„Ja, aber Seto hat Yugi auch lange geheim gehalten“ widersprach Mokuba. „Ich kann schon verstehen, dass das nicht bei jedem so einfach ist. Und bei dir gucken auch einige Leute komisch. Wärst du kein Kaiba und würde die Kaiba Corp. nicht dir gehören, hätten wir es auch schwerer.“

„Seid ihr denn glücklich?“ fragte Noah und kam zurück zu Tjergen, welcher in seinen Fingerspitzen das Rosenblatt zerrupfte. „Eine offene Beziehung ist nicht gerade einfach zu führen. Besonders da er um einiges älter ist als du.“

„Er hat seine Liebhaber und ich meine. Das war nie anders“ antwortete er.

„Und das funktioniert?“ fragte Mokuba erstaunt. „Bist du nicht eifersüchtig?“

„Doch. Sehr.“ Er lächelte schwach und rollte das Blatt zwischen den Fingern zu einem kleinen Klumpen zusammen. „Aber was soll ich machen? Ich will ja auch nicht meine Karriere für ihn aufgeben. Aber jetzt … vielleicht ist das ein Zeichen, mein Leben noch mal zu überdenken.“

„Du meinst, du würdest jetzt deine Karriere für ihn aufgeben?“

„Mit ner schiefen Nase und ner vernarbten Lippe, habe ich schlechtere Karten gegen die Konkurrenz. Beauty-Kampagnen kann ich mir damit ganz abschminken. Außerdem glaubt in der Öffentlichkeit doch niemand, dass ich verprügelt wurde. Sie werden es als missglückte Schönheits-OP auslegen. Und nach dem Gossip kann ich meine Beziehung mit Josh ganz knicken. Dann bekennt er sich nie zu mir. Einen Skandal kann er nicht gebrauchen.“

„Du hast aber noch immer unseren Eros-Vertrag“ beharrte Noah darauf. „Joey Wheeler ist ein talentierter PR-Mensch. Der strikt dir jedes Image, dass du haben willst.“

„Vielleicht bin ich mein Image ja auch leid. Auf die Dauer ist Perfektion ziemlich anstrengend.“ Er schnippte das kaputte Blatt fort und pflückte sich ein neues ab. „Ihr habt da gestern etwas gesagt, was mir zu denken gab. Ich habe keine Drohne, die mich verteidigen würde. Vielleicht will ich auch gar keinen ganzen Bienenstock, sondern einfach nur einen einzigen Menschen, bei dem ich mich beschützt fühle. Ich habe niemals hartnäckig versucht, eine verpflichtende Bindung mit Josh aufzubauen. Vielleicht sollte alles so kommen, damit ich erkenne, wie wichtig er mir ist.“

„Du bist gar nicht so gehässig wie ich dachte“ stellte Mokuba fest und traf Tjergens weichen Blick. „Du hast ein zartes Herz.“

„Das sind die Schmerzmittel. Die schlagen aufs Gemüt“ winkte er ab und schnippte auch das nächste Blatt fort. „Ist ja auch egal, was ich euch erzähle. Wenn ich euch verklage, habe ich eh ausgesorgt, so what?“

„Das klingt schon mehr nach dir“ lachte Noah und legte ihm fürsorglich die Hand auf den Arm. „Lassen die Drogen nach? Brauchst du neue?“

„Ne Flasche von deinem Rotwein könnte ich gut vertragen“ meinte er und stupste das Glas auf dem Teewagen angewidert von sich. „Das Gesöff hier ist grausam. Ich weiß nicht mal was das ist, aber Fruchtsaft ist das bestimmt nicht.“

„Wir bringen dir ein paar Getränke vorbei“ versprach Noah lächelnd. „Wenn dir noch etwas einfällt, schick mir ne SMS. Hast ja meine Handynummer.“

„Versprich nicht zu viel. Mit dem kleinen Finger gebe ich mich nicht zufrieden. Ich bevorzuge andere Körperteile.“

Mokuba könnte eifersüchtig werden, aber irgendwie wurde er es nicht. Er hatte Mitleid mit Tjergen. Aus irgendeinem Grunde. Er wirkte nun gar nicht mehr so hart und gemein. Die gebrochene Nase schien mehr in ihm ausgelöst zu haben als nur das drohende Gewäsch der Presse. Er schien seine Niederlage anerkannt zu haben und scherzte mit Noah, anstatt ihn anzubaggern. Mokuba wusste nicht weshalb, aber er empfand ihn gar nicht als nervend.

„Kann ich dich mal etwas fragen?“ fragte Mokuba frei heraus. „Bist du nun eigentlich richtig schwul oder bist du bi?“

„Mein Manager verkauft mich als bi, damit die Frauen sich Hoffnungen machen. Aber ich bin schwul“ antwortete er ohne Umschweife. „Und du?“

„Ich weiß das gar nicht. Ich habe Noah, mehr brauche ich nicht.“

„Und wenn Noah eine Frau wäre?“

„Dann würde ich ihn trotzdem lieben. Und könnte endlich mal oben liegen.“

„Details wollen wir jetzt nicht weiter besprechen“ fuhr der dazwischen. Nicht, dass die beiden jetzt auch noch begannen, sich anzufreunden. Das wäre nicht nur zu viel des Guten, sondern einfach zu viel überhaupt.

Die Tür ging auf und ein Herr kam herein. Er hatte rasiertes Stoppelhaar, einen dunklen Schnauzbart und recht kleine Augen. Er trug einen schwarzen Anzug und ein hellgelbes Hemd darunter, eine rote Krawatte und eine auffällig teure Armbanduhr.

„Ah, Mr. Kaiba.“ Er ging zu Noah, der sich erhob und ihm die Hand schüttelte. „Wie schön, dass Sie Terry einen Besuch abstatten.“

„Das ist doch selbstverständlich. Mr. Dwight, Sie kennen meinen Lebensgefährten?“

„Nicht persönlich. Aber schön, Sie kennen zu lernen, Mr. Kaiba.“ Er schüttelte auch Mokuba die Hand und das Lächeln blieb hinter seinem Schnauzer versteckt. „Ich bin George Dwight, Terrys Manager.“

„Guten Tag“ nickte er und setzte sich wieder.

„Mr. Kaiba“ wandte er sich wieder an den Ersten. „Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, würde ich gern noch mal über den Vertrag mit Ihnen sprechen. Terrys Pläne werden sich eventuell ändern und wir sollten aufgrund der neuerlichen Ereignisse die Konditionen anpassen.“

„Natürlich. Ihr kommt hoffentlich einen Moment ohne mich aus“ bat er und folgte dem Schnauzer zur Tür. „Und schlagt euch nicht die Köpfe ein.“

„Ich weiß, wo der Notknopf ist“ scherzte Tjergen zurück und sank erst zurück als sich die Tür schloss.

Es entstand ein langer Moment des unangenehmen Schweigens. Tjergen pflückte ein neues Blütenblatt und Mokuba überlegte angestrengt, worüber er reden konnte.

„Willst du wirklich deinen Vertrag mit der KC lösen?“ fragte er dann besorgt.

„Das weiß ich noch nicht. Mal sehen was die nächsten Wochen mit meinem Freund ergeben.“

„Aber Noah hat schon fast die ganze Kampagne auf dich ausgelegt. Ich habe mit Joey gesprochen und ich weiß, dass schon alles geplant ist. Das wäre doch die Chance für dich, auch in die Filmbranche einzusteigen.“

„Vor allem wäre es für die Firma deines Liebhabers ein herber Verlust“ stach er gezielt zurück. „Wenn er mich nicht bekommt, muss er alles umplanen und Eros Metro geht nicht pünktlich an den Start. Imageschaden inklusive operativer Verluste. Soviel verstehe ich von BWL auch.“

„Nein, nicht deswegen. Noah ist nicht so. Er hofft wirklich, dass du wieder Fuß fasst und dass diese doofe Sache deine Karriere nicht ausbremst.“

„Und selbst wenn ich mich für ein Leben bei Josh entscheide, wären die KC-Pläne noch zu retten.“ Er sah Mokuba ernst an und sprach sehr deutlich. „Warum modelst du nicht für Eros?“

„ICH?!“

„Natürlich. Jede Kampagne, die auf mich passt, passt auch auf dich. Noah bräuchte nicht groß umplanen. Meinen Namen durch deinen zu ersetzen, das schafft jeder Praktikant. Und stell dir die Schlagzeilen vor. ‚Noah Kaiba ersetzt Top-Model durch Liebesgefährten. Eros Metro wird zur Intimsache. Lesen und sehen Sie mehr auf Seite 4 …‘“

„Nein, das Modelbusiness ist nichts für mich“ stritt er sofort ab. „Zu oberflächlich, zu passiv. Ich studiere lieber weiter Medizin und bewege mein Hirn statt meinen Arsch.“

„Willst du etwa sagen, ich hätte keinen Grips?“

„Nein, das will ich nicht sagen“ zickte er zurück, aber atmete ein Mal tief durch und beherrschte sich. Er durfte sich nicht mehr so leicht herausfordern lassen. „Tjergen … ich darf doch Tjergen sagen.“

„Wenn du das aussprechen kannst.“

„Ich habe mir dein Buch angesehen und es ist großartig. Du bist so wandlungsfähig und hast so einen starken Ausdruck. Du verbiegst deinen Körper, das habe ich noch nie gesehen. Selbst wenn ich es wollte, bräuchte ich Jahre bis ich dein Format erreiche. Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich kann mich nicht so leicht anpassen wie du. Das soll nicht negativ behaftet sein, aber ich bin zu arrogant, um jemand anderen darzustellen als mich selbst. Deshalb könnte ich deinen Job gar nicht machen.“

„Das nehme ich mal als Kompliment.“ Schnipp, pflück, das nächste Blatt.

„So war’s auch gemeint. Bitte lass den Vertrag nicht platzen. Das wäre schade. Nicht nur für Noah, sondern auch für dich. Die KC ist das Beste, was dir passieren kann.“

„Jetzt will ich dich auch mal was fragen“ erwiderte er und blickte ihm kurz in die Augen, dann zurück auf das Blütenblatt. „Ich habe gerade so einen Gefühlstripp, deswegen bilde dir nichts drauf ein. Aber wie schaffst du es, dass Noah dich liebt?“

„Wie ich das schaffe?“

„Ja. So wie er dich ansieht, so hat mich noch niemand angesehen.“ Er legte seinen langen Zopf über die Schulter und strich mit dem Blütenblatt über seine gebräunte, jetzt blasse Haut. „Was tust du, damit er sich zu dir bekennt? Was tust du, damit er dir treu bleibt und sich nicht einen anderen nimmt?“

„Um ehrlich zu sein, tue ich gar nicht viel.“

„Wie arrogant.“

„Ich weiß. Aber so ist es einfach“ erklärte er. Langsam dämmerte ihm, dass das, was ihn und Noah verband, nicht selbstverständlich war. Eine feste Partnerschaft war für ihn so normal, dass er sich kaum noch vorstellen konnte, dass es Menschen gab, welche einsam waren. So einsam wie Tjergen. Er hatte wahrscheinlich in jeder Stadt einen anderen Liebhaber, aber der Mann, den er liebte, der bekannte sich nicht zu ihm. „Noah und ich lieben uns. Dafür gibt es keinen Grund. Ich gebe mir zwar Mühe, dass er mich äußerlich ansprechend findet und versuche im Bett kreativ zu sein, aber im Grunde ist das unnötig. Ich arbeite zwar für die Beziehung, aber ich nehme das nicht als Arbeit wahr. Ich freue mich einfach, wenn es ihm gut geht. Ich will, dass Noah glücklich ist, weil er für mich der Mensch ist, den ich am meisten liebe.“

„Und er? Dann macht er niemals irgendwelche Kompromisse für dich?“

„Doch, Noah macht viele Kompromisse. Ständig gibt er meinem Willen nach. Er hasst Tiere und ich habe echte Charakterkatzen. Er hasst Kinder und wir haben einen Jungen adoptiert.“

„Ihr habt adoptiert?“ Er schnippte das Blatt nicht fort, es fiel von selbst herunter. Das war noch nicht in die Öffentlichkeit gedrungen und entsprechend überrascht war er.

„Ja. Dante Kaiba. Er ist knapp vier Jahre alt und seit etwa einem halben Jahr bei uns. Wir sind ja nicht verheiratet, deswegen wird Noah ihn als Einzelperson adoptieren. Aber der behördliche Weg ist lang. Wir machen es publik, wenn die rechtlichen Fragen geklärt sind.“

„Und wie ist er so? Euer Sohn?“

„Er ist das süßeste Kind, das du dir vorstellen kannst. Und er ahmt Noah in jeder Hinsicht nach. Warte.“ Er zückte sein Handy und zeigte Tjergen ein Foto von seinem Süßen. Sein Lieblingsfoto. „Das ist Dante. Da hat er Noahs Krawatte um und sein Jackett an.“

„Er ist … auffallend.“

„Ja, ich weiß. Dunkle Haut und blondes Haar sind eine seltene Kombination.“

„Nein, ich meine er hat … auffallend grüne Augen. Oder wirkt das nur so?“

„Nein. Er hat ganz leuchtende Augen.“

„Er sieht aus als würde er gleich mit an den Schreibtisch springen wollen.“

„Das würde er wahrscheinlich sogar. Er liebt Noah abgöttisch. Wenn du ihn fragst, was er mal sein will, wenn er groß ist, wird er antworten, dass er Noah sein will. Dante ist einmalig. Und das daneben ist Valentine. Das ist sein Kater. Die beiden sind unzertrennlich.“

„Also auch ein Katzenliebhaber.“

„Das hat er nicht von Noah“ lachte Mokuba und steckte das Handy weg. „Und du? Hast du auch Familie?“

„Ja, habe ich. Aber wir sehen uns nicht oft.“

„Oh … das tut mir leid.“

„Braucht dir nicht leidtun. Ich bin kein Familienmensch. Das mit Familie und Freunden … das ist nicht so meine Sache.“ Und wieder war da der einsame Ausdruck in seinen Augen.

„Du bist auf nem richtigen Gefühlstripp, was?“

„Passiert manchmal. Geht auch wieder vorbei“ tröstete er sich selbst und griff in die Schublade des Teewagens. „Aber ich bin letztes Jahr Onkel geworden. Ich zeige dir mal meine kleine Nichte.“

„Du hast eine Nichte?“

„Ja, Erla Marnens. Sie ist jetzt bald ein Jahr alt, aber sieht schon aus wie meine Schwester. Sie … oh.“

„Was?“ Er versuchte aufs Handy zu schielen, aber es war zu weit weg.

„Mein Freund hat versucht, anzurufen. Ich dachte, er sitzt schon im Flieger. Moment kurz, ja?“

„Soll ich rausgehen?“

„Nein, bleib sitzen. Er will bestimmt nur sagen, wann er mich abholt.“ Er drückte ein paar Tasten und wartete. Er pflückte sich noch ein Rosenblatt und knetete es nervöser als zuvor. Er war offensichtlich sehr erwartungsvoll an die kommende Zeit mit ihm. Mokuba war erleichtert, dass er anscheinend außer Sex gar nichts von Noah gewollt hatte und somit kaum eine Gefahr darstellte. Außerdem freute er sich, dass jemand unterwegs war, der Tjergen auf seinem Gefühlstripp begleitete. „Dobre den, my darling!“ begrüßte er das andere Ende und lächelte breiter und echter als Mokuba gedacht hätte. Die ersten Worte erkannte er ja noch als russisch, doch die nächsten verstand er nicht. Vielleicht gestattete Tjergen auch deshalb, dass er blieb - er verstand ja eh kein Wort.

Mokuba tippte ein bisschen auf seinem Handy herum, um nicht ganz so neugierig und belauschend zu wirken. Am Rande fragte er sich, was das für ein merkwürdiger Sprachzauber war, der hier herrschte. Eigentlich sprachen doch alle die Sprache des Pharao. Das war so eingerichtet. Doch Tjergen konnte auf russisch telefonieren. Und englische Lieder wurden auch nicht übersetzt. Dennoch war das gesprochene Wort meist immer dieselbe Sprache. Das war viel trickreicher als Mokuba denken konnte.

Als Tjergens Stimme sich veränderte, blickte er vorsichtig zu ihm. Er hatte den Arm um sich geschlungen und antwortete nur noch einsilbig. Seine Augen waren feucht und es schien, er würde gleich in Tränen ausbrechen. Er senkte das Gesicht und nickte während er antwortete. Nur die letzten Worte verstand Mokuba dann wieder. „Ich dich auch. Bis dann.“ Er legte auf und senkte das Handy auf die Bettdecke. Seinen Kopf hob er nicht erneut.

„Tjergen?“ Mokuba rutschte zu Noahs Stuhl auf und legte seine Hände auf die Matratze. „Ist was passiert?“

„Er kommt nicht“ flüsterte er. „Er ist ohne mich nach Miami geflogen.“

„Aber er wollte doch einen Abstecher machen.“

„Die Zeit hat er nicht. Der Job ruft.“

„Wie gemein. Dann hätte er doch wenigstens bescheid sagen können.“

„Hat er doch.“ Er lächelte und wischte sich die beschämenden Tränen fort. „Ist auch egal. Ich bin erwachsen, ich komme auch so zurecht.“

„Aber du liegst im Krankenhaus und dein Freund … macht er sich denn keine Sorgen?“

„Eine gebrochene Nase ist nicht lebensbedrohlich.“ Er rang um seine Fassung und Mokuba hatte das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen. Diese Absage verletzte ihn. Er überlegte, ob er vielleicht eine feste Bindung wollte. Er überlegte, ob er seine Karriere aufgab, um im Schatten eines anderen zu leben. Er wünschte sich, dass sein Freund sich um ihn kümmerte und ihm diesen speziellen Blick schenkte, den Noah seinem Mokuba schenkte. Doch alles, was er bekam, war ein Rückruf und nicht mal einen Strauß Blumen vom Versanddienst. Tjergen hatte eine Liebschaft, keine Liebe. Und wahrscheinlich niemanden, der ihn besuchen kam.

„Tjergen, tut mir leid, dass er abgesagt hat.“

„Muss es nicht. Es ist ja nicht so als wäre das neu für mich. Er hat nun mal viel Arbeit und keine Zeit für so was. Und mir geht’s ja auch nicht wirklich schlecht, ich … ich … ich will doch nur mal, dass er … er ist befördert worden … ich kann ja nachfliegen nach den USA und mit ihm anstoßen.“

„Aber mit einer Gehirnerschütterung ist das keine gute Idee.“

„Die ganze Sache ist keine gute Idee. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist.“ Er lachte. Obwohl er weinte. Tjergen war einsam. Und er war verliebt. Unglücklich. Er hatte keinen Noah, der seine Katzen akzeptierte und ein Kind adoptierte. Er hatte Joshua McGanner. Den harten Hund. Er hatte ihn, solange es in den Terminplan passte. Und wenn ein Krankenhausaufenthalt ungelegen kam … dann kam kein Noah, der an seinem Bett saß. Mokuba verspürte auf einmal unendliche Dankbarkeit dafür, dass das Schicksal ihm einen Mann wie Noah zugedacht hatte.

„Tjergen.“ Er wollte ihm etwas sagen wie ‚Du bist nicht allein‘ oder ‚Wir können Freunde sein‘. Aber alles klang so abgedroschen, nachdem er doch der Grund für all das hier war. „Wir können darüber reden, wenn du möchtest.“

„Danke.“ Er legte das Handy zurück in die Schublade und ließ sich tiefer ins Kissen sinken als zuvor. „Ich glaube, es ist besser, wenn ihr jetzt geht. Ich fühle mich nicht gut.“

„Tjergen … ich weiß, es klingt abgedroschen, aber wenn du reden willst, dann rufst du an. Ja?“

„Nein, werde ich nicht“ antwortete er leise. „Sag Noah, ich mache seine Kampagne. Und der Chirurg kann auch kommen. Es bleibt alles beim Alten.“

„Tjergen …“

„Danke, dass ihr hier ward. Die Blumen sind sehr hübsch.“

„Ich stelle sie dir noch ins Wasser, okay? Wo sind die Vasen?“

„Das macht die Schwester. Geh nur.“

„Ich will dich jetzt aber nicht so sitzen lassen.“

„Hier geht’s mir gut. Danke, dass ihr hier ward.“

„Aber Tjergen …“

„Danke, dass ihr hier ward.“ Er blickte aus dem Fenster und war ab sofort nicht mehr ansprechbar. Er wollte jetzt niemanden sehen. Erstrecht nicht einen glücklichen öffentlichen Lebenspartner.

„Okay, ich hab’s verstanden.“ Er erhob sich von seinem Stuhl und nahm das Model mit gebrochenem Herzen nochmals in Augenschein. „Tjergen, ich weiß, dass es kitschig klingt und ich der Letzte bin, der das sagen sollte, aber wenn du jemanden brauchst, dann ruf mich wirklich an. Ja?“

„Bin ich in deinen Augen so mitleidserregend?“ Mit dunkel funkelnden Augen entgegnete er dem gütigen Blick. „Dein Mitleid kannst du dir sonstwo hinstecken. Ich bin keines eurer Sozialprojekte.“

„Ich würde das nicht Mitleid nennen. Eher Mitgefühl“ erwiderte er mit ernsterer Stimme. „Und davon abgesehen, kann ich mir vorstellen, dass wir uns gut verstehen würden. Also wenn du mich anrufen willst, freue ich mich. Wenn nicht, dann lass es eben bleiben. Gute Besserung.“
 

Mokuba zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit einem Seufzen dagegen. Dieses Treffen war doch schon ein bisschen besser verlaufen als das letzte. Zumindest hatte er ihm dieses Mal nichts gebrochen. Und warum er Tjergen auf eine etwas eigenwillige Weise seine Freundschaft angeboten hatte, das konnte er sich auch nicht erklären. Vielleicht war es wirklich Mitleid. Aber auch vielleicht, weil sie viele Ähnlichkeiten miteinander hatten. Nicht nur äußerlich.

Er atmete aus und sah Noah am Ende des Ganges mit dem Schnauzbart sprechen. Sicher würden beide erleichtert sein, dass Tjergen sich nun doch nicht ins Privatleben zurückzog. Schade nur, dass es sein Privatleben war, welches keinen Rückzug zuließ und ihm das Herz brach.

Er ging zu den beiden hinüber, welche ihre Unterhaltung unterbrachen.

„Moki, alles in Ordnung?“

„Ja, alles prima.“ Er hängte sich gleich an Noahs Arm und verspürte eine tiefe, innere Dankbarkeit dafür, dass er einen Arm hatte, an welchen er sich hängen konnte.

„Du siehst traurig aus, Häschen. Habt ihr euch schon wieder gestritten?“

„Nein, nicht so richtig.“ Er lehnte sich an ihn und sah den Schnauzbart an. „Tjergen sagt, er macht die Kampagne für die KC. Es soll alles beim Alten bleiben.“

„Der Junge macht mich fertig.“ Der Manager fasste sich an die Stirn und lockerte dann seine Krawatte. Sein Schützling machte ihm das Leben nicht gerade leicht.

„Nun ja, Mr. Dwight“ lächelte Noah ihn zufrieden an. Für ihn war es gut, wenn der Vertrag so blieb wie vereinbart. „Wenn noch etwas sein sollte, rufen Sie mich gern an. Sie haben ja meine Nummer, oder?“

„Natürlich. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, Mr. Kaiba.“ Er schüttelte ihm die Hand und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Terry ändert häufig seine Meinung, aber bei der Arbeit ist er zuverlässig. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“

„Ich wusste, dass er keine einfache Person ist. Ich kenne Männer wie ihn“ antwortete er in einem geschäftlichen Ton. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin sicher, niemand wird die Vertragsschließung bereuen. Hauptsache, er wird jetzt gesund und kann seine letzten Kunden bedienen, bevor er sich uns widmet.“

„Natürlich. Vielen Dank für ihre Geduld.“

„Und bitte benachrichtigen Sie mich, nachdem der Chirurg eingetroffen ist“ bat er noch halb im Gehen. „Wir werden selbstverständlich für sämtliche Behandlungs- und Folgekosten aufkommen.“

„Ich halte Sie auf dem Laufenden. Danke für Ihren Besuch, Mr. Kaiba. Mr. Kaiba.“ Er nickte den beiden nochmals zu, bevor er sich mit schnellen Schritten zurück ins Krankenzimmer beeilte.

„Was ist los?“ Nun legte Noah seinen Arm um Mokubas Hüfte und küsste ihn sanft auf die Stirn. „Rede schon. Ich sehe doch, dass irgendwas nicht stimmt.“

„Nein, es stimmt einfach alles“ erklärte er und schmiegte sich an Noahs Brust, legte beide Arme um ihn. „Ich habe ein wunderbares Leben. Abgesehen von einem großen Bruder, der immer für mich da ist und der mir eine liebevolle Familie gibt, habe ich einen Partner, der mich über alles liebt und einen gesunden Sohn. Weißt du eigentlich, dass das, was wir beide haben, etwas ganz Besonderes ist?“

„Natürlich weiß ich das.“ Er strich ihm durch das lange Haar und küsste seinen Scheitel. „Auch ich habe einen großartigen Partner, der zu mir steht und mich von Herzen liebt. Und der mir ein tolles Kind geschenkt hat. Natürlich weiß ich, wie besonders das ist. Ich sage es dir vielleicht nicht jeden Tag, aber ich liebe dich mehr als alles andere in meinem Leben und ich bin dem Schicksal dankbar dafür, dass es uns zusammengeführt hat.“

„Ich denke, du glaubst nicht an so was wie Schicksal?“

„Wenn ich dich sehe, fange ich langsam an, daran zu glauben“ lachte er und knuddelte ihn. „Ich habe mich quasi in mein Schicksal gefügt.“

„Ach! So ist das, ja?“ Er schubste ihn spaßig weg und ordnete sich seine Haarpracht, die Noah mal wieder durcheinander gebracht hatte. „Na warte, komm du mir nach hause.“

„Siehst du? Genau das meine ich.“ Er nahm Mokuba in den Arm und küsste seine Wange. „Und wie kommt Terry nun dazu, so schnell seine Meinung zu ändern? Will er nicht mehr mit McGanner nach Miami?“

„Er will wohl schon, nur sein Macker will nicht“ erklärte Mokuba betrübt. „Er ist ohne ihn geflogen. Ich habe das Gespräch nicht richtig mitverfolgt, aber es klang als wäre es ihm ziemlich egal, dass Tjergen im Krankenhaus liegt. Es sei ja keine lebensbedrohliche Verletzung oder so.“

„Das passt zu ihm“ seufzte Noah. „Armer Terry. Muss schwer sein, wenn man sich in so einen eisernen Mann verliebt.“

„Du würdest sofort kommen, wenn ich im Krankenhaus läge. Egal wie wichtig der Job ist. Oder?“

„Mokuba Kaiba!“ hob er tadelnd den Finger. „Ich bin beleidigt, dass du mich das überhaupt fragst. Oh! Hallo!“ Noah winkte zu Mokubas Rückseite.

„Wem winkst du?“ Der drehte sich um und sah, dass dort Tristan und Nika vor dem Fahrstuhl standen und etwas ratlos herübersahen. „Tristan und Nikolas. Was machen die denn hier?“

„Fragen wir einfach.“ Noah nahm Mokuba an der Hand und ging zu den beiden hinüber. „Tag. Seid ihr uns gefolgt?“

„Nein, wir wussten gar nicht, dass ihr hier seid“ antwortete Nika und sah sich noch immer nach allen Richtungen um. „Welche Station ist das denn hier? Ich sehe keinen Informationsschalter.“

„Soweit ich weiß, sind hier nur Patientenzimmer“ antwortete Noah. „Wo wollt ihr denn hin?“

„Zu einem Dr. Bachsen.“

„Bechsson“ korrigierte Nika Tristans Falschauskunft.

„Oder zu dem. Wir haben heute Morgen einen Beratungstermin.“

„Beratungstermin?“ schaute Mokuba neugierig. „Nikolas, willst du jetzt doch wieder eine Hormontherapie machen? Willst du nicht wenigstens warten bis wir die letzten von Mariks Schriften durchforstet haben?“

„Nein, für einen neuen Spießrutenlauf bin ich noch nicht bereit“ antwortete sie und nahm Tristans Hand. „Wir wollen uns über eine homologe Insemination informieren.“

„Warum benutzen heute alle Leute so schwierige Worte?“

„Das bedeutet, wir wollen uns über so eine Art künstliche Befruchtung informieren“ erklärte Tristan etwas genauer. „Wir haben das besprochen und sind zu dem Schluss gekommen, dass Nikolas früher oder später auf die ein oder andere Weise wieder eine Frau sein wird und damit unfruchtbar. Also wollen wir zumindest sein Sperma aufheben, um vielleicht doch noch gemeinsame Kinder zu bekommen.“

„Dann seid ihr hier aber falsch“ meinte Noah und drückte den Knopf am Fahrstuhl, bevor er die Tafel neben den Schiebetüren studierte. „Ich denke mal, ihr müsst in die Gynäkologie oder Urologie. Die sind beide auf der zweiten Etage. Das hier ist die neunte.“

„Aber die Schwester sagte doch, wir sollen uns oben an der Information melden und neben der Neun ist das große I für Information“ guckte Tristan Nika an. „Oder kriege ich da was durcheinander?“

„Nein, da hast du Recht“ bestätigte sie. „Aber die Dame hatte einen starken Akzent. Ich habe sie auch kaum verstanden.“

„Wir kriegen schon raus, wo ihr hinmüsst“ beschloss Noah und stieg als erster in den Fahrstuhl. Er drückte auch den Knopf für die zweite Etage. „Nikolas, woher kommt der Sinneswandel? Hattest du dich nicht dagegen entschieden, deine Spermien konservieren zu lassen?“

„Ja schon. Aber damals habe ich noch anders gedacht.“ Sie hielt Tristan fest an der Hand. Den Mann, der ihr Leben verändert hatte. „Ich habe immer gedacht, wenn ich mein Geschlecht ändere, ist es meine Schuldigkeit an die Natur, mich nicht auch noch vermehren zu wollen. Ich hatte auch immer ein bisschen Angst, dass meine Kinder vielleicht so verwirrt werden wie ich.“

„Ich habe dich da eh nie verstanden“ warf Tristan ein.

„Es hätte mir auch gereicht, wenn unsere Kinder nur Tristans Gene haben“ ergänzte sie. „Aber er ist anderer Meinung. Und nachdem es ja nun neue Perspektiven gibt“ sagte sie und warf Noah einen vielsagenden Blick zu. Tatos Weissagung hatte ihr doch zu denken gegeben und sie anscheinend hergeführt.

„Ich finde auch, du solltest dir trotz allem die Möglichkeiten offenhalten“ argumentierte Tristan. „Wer weiß, ob wir in zehn Jahren nicht doch Kinder von dir haben wollen? Du sprichst doch immer vom Schicksal und vielleicht ist diese Sache ein Wink des Schicksals.“

„Warum glauben jetzt plötzlich alle vernünftigen Leute ans Schicksal?“ schüttelte Mokuba den Kopf.

„Tato hat ihm aus der Hand gelesen“ nickte Tristan auf Nika. „Niemand will mir sagen, was dabei rauskam, aber seitdem besteht Nikolas darauf, dass wir uns über die Konservierung seiner kleinen Arbeiter informieren.“

„Ich denke auch, dass das eine gute Sache ist“ pflichtete Noah bei und wies auf die sich öffnenden Türen, worauf sie alle ausstiegen. „Sich zu informieren, kann nicht falsch sein. Und selbst wenn du später als Frau keine Kinder mehr von dir selbst haben möchtest, zwingt dich auch niemand, dein eigenes Sperma zu nutzen. Sich alle Türen offen zu halten, schadet nicht.“

„Sei glücklich, dass du einen Mann hast, der so zu dir steht“ war Mokubas Meinung dazu.

„Ich weiß. Ich bin glücklich“ versprach sie und blickte ihren Schatz verliebt an. „Und wenn Tristan sich später Kinder von mir wünscht, soll er sie auch haben.“

„Das sehen wir dann. Erst mal informieren wir uns. Schwieriger als Sperma einzufrieren, ist wahrscheinlich eher, eine Leihmutter zu finden.“

„Ich würde ja zuerst an Tea denken“ schlug Mokuba vor. „Die kriegt hundert Pro nur gesunde Kinder.“

„Nein, nicht jemand aus der Familie“ beschloss Tristan schon jetzt.

„Das sehe ich auch so“ schloss sich Nika an und kratzte ihr stoppeliges Gesicht. „Es würde nur Probleme geben, wenn wir jemanden fragen, der uns nahe steht.“

„Du sollst dich nicht ständig kratzen.“

„Ja ja“ murrte sie und nahm die Hände runter. „Ich hasse dieses Gefühl im Gesicht. Gerade rasiert und schon wieder Dreitagebart. Ich rasiere mir lieber die Beine als das Gesicht.“

„Da hinten ist die Information“ zeigte Noah den Gang entlang. „Sollen wir noch warten und euch dann wieder mit nach hause nehmen?“

„Nein, nicht nötig“ seufzte Nika mit schwerer Stimme. „Ich glaube, ich muss mir hinterher doch mal ein paar eigene Klamotten kaufen. Ich meine, welche in denen ich nicht aussehe wie eine Transe.“

„Du stellst dich also darauf ein, noch länger als Mann zu leben?“

„Die Phase, dass ich krampfhaft Damensachen tragen muss, habe ich hinter mir. Damals war das wichtig für mich, um mir über meine Sexualität bewusst zu werden. Aber im Augenblick will ich nicht angestarrt oder beschimpft werden.“

„Und was sagt dein Mann dazu?“ schaute Mokuba den an.

„Der steht zu mir. Egal, was ich tue“ antwortete Nika für ihn. „Wahrscheinlich steht er im Augenblick mehr zu mir als ich zu mir selbst.“

„Mach dir nicht so viele Gedanken. Sei froh, dass du …“

Tristan konnte seinen Satz nicht bis zum Ende bringen als ihre Gruppe von einer Krankenschwester gesprengt wurde. „Was machst du denn noch hier?“ Sie war eine schlanke, blonde, sehr hübsche Frau mit großen Augen und … grooooßen Augen, die fast aus ihrem Dekolleté hüpften. Und sie postierte sich direkt vor Mokuba, ignorierte, dass noch andere Leute um ihn herumstanden.

„Ich?“ drehte der sich um und erwiderte ihren Blick mit Verwirrung. „Sprechen Sie mit mir?“

„Natürlich mit dir. Du bist lustig.“ Einen belustigten Eindruck machte sie nicht. Stattdessen zückte sie das Schreibbrett unter ihrem Arm, blätterte ein paar Zettel um und beäugte Mokuba sehr eingängig. „Bist aus dem OP gelaufen? Der Anästhesist ist doch schon bei dir gewesen.“

„Bei MIR?“ Mokuba zeigte auf sich. Er sah die anderen an, doch die konnten ihm auch nicht wirklich helfen.

„Vielleicht verwechseln Sie uns“ riet Noah. „Wir sind eigentlich nur zufällig hier. Oder habt ihr einen Termin auf den Namen Kaiba gemacht?“

„Nein, auf Taylor“ antwortete Tristan.

„Häh?“ guckte jetzt die Krankenschwester mit den großen Augen verwundert. „Weder noch.“

„Wie weder noch?“ wollte Mokuba jetzt wissen. „Was genau wollen Sie denn von mir?“

„Du kommst mir heute irgendwie komisch vor. Siehst auch ganz schön fertig aus. Sorry für die Feststellung.“ Sie blätterte ihre Unterlagen nochmals durch, prüfte sie ganz genau. „Aber du hast deinen Termin nicht abgesagt. Hier steht es. Heute um halb elf. Oder hast du es dir doch im letzten Moment anders überlegt?“

„Was zum Geier lesen Sie denn da?“ Mokuba schnappte ihr das Schreibbrett weg und las selbst.

„Nicht! Das sind vertrauliche Daten!“

„Mokeph Gardener?“ Er blickte auf und sah sie ernst an. „Sie verwechseln mich wirklich. Ich bin nicht Mokeph. Ich bin Mokuba.“

„Bitte?“ Jetzt kam auch sie nicht mehr mit.

„Mokeph ist so eine Art Zwilling von mir“ erklärte er und gab ihr die Unterlagen zurück. „Warum hat er denn einen Termin heute? Und dann auch noch mit Anästhesist.“

„Du bist nicht Mokeph? Du siehst aber haargenau aus wie er.“

„Na ja, die Haare sind schon anders.“

„Gute Frau“ mischte sich nun Noah ernsthaft ein. „Wir kennen Mokeph sehr gut. Und zu hören, dass er heute eine Operation hat, besorgt uns nun ein wenig. Wofür genau ist er denn hier?“

„Tut mir leid, das darf ich Ihnen dann wohl nicht sagen. Martha!“ Sie winkte einer anderen Schwester. Der Kleidung und des Alters nach zu urteilen, wohl ihre Vorgesetzte. Die rundliche Frau mit der mintgrünen Arbeistkleidung und dem verrutschten Make-Up kam herüber und nickte den vieren mit einem freundlichen „Guten Tag“ zu. „Anna, was ist denn los? Du solltest doch nur die Medikamente für Mr. Gravsson holen.“

„Martha, er hier sieht doch original aus wie Mokeph.“

Sie wandte ihre kritischen Augen auf Mokuba und nahm dann ihre eigenen Unterlagen zur Hand. „Das kann nicht sein. Mr. Gardener wird gleich in den OP geschoben. Ich war eben noch bei ihm.“

„Vielleicht können Sie ja etwas Licht ins Dunkel bringen“ bat Noah in seinem diplomatisch geschäftsmännischen Ton. „Wir sind Angehörige von Mr. Gardener und haben gerade erfahren, dass er wohl hier liegt. Ist ihm etwas zugestoßen?“

„Nein. Noch nicht“ antwortete sie gleichgültig und überflog nochmals die Patienteninformation. „Ist einer von Ihnen Noah Kaiba?“

„Ja, ich“ meldete Noah ruhig zurück.

„Mr. Gardener hat Sie als Vertrauensperson eingetragen. Für den Fall, dass bei seiner Operation Komplikationen auftreten, dürften wir uns an Sie wenden. Er hat Sie nicht in Kenntnis gesetzt?“

„Ich wünschte, er hätte es.“ Jetzt wurde ihm doch etwas band. „Weshalb ist er denn nun hier? Was für eine Operation?“

„Lassen Sie uns etwas beiseite gehen“ bat die Oberschwester und zog ihn hinter einen Broschürenständer, damit die Gruppe nicht den Fahrstuhl blockierte. Sie blickte nochmals, nur zu aller Sicherheit in die Akte und war sich ganz sicher. „Ich darf Ihnen eigentlich keine Auskunft geben. Haben Sie vielleicht Ihren Ausweis dabei? Führerschein, Reisepass, irgendetwas?“

„Natürlich.“ Er kramte seinen Führerschein heraus und sie kontrollierte schnell den Namen.

Mit einem „In Ordnung“ gab sie ihn zurück und machte einen Haken auf ihren Unterlagen. „Mr. Gardener lässt heute Morgen eine Vasektomie vornehmen. Das ist ein Routineeingriff, der ambulant erfolgt. Wenn also alles normal verläuft, können Sie ihren Freund in ein paar Stunden wieder mit nach hause nehmen. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“

„Wiederholen Sie doch bitte noch mal, was genau das für eine OP ist“ bat er geschockt. Es konnte ja sein, dass er sich verhört hatte …

Chapter 36 - 40

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Chapter 41 - 45

Chapter 41
 

„Liegst du schon im Bett?“ fragte Narla verwundert. Sie kam gerade aus der Dusche und sah, dass Joey bereits die Bettdecke aufgeschlagen und sich hingelegt hatte. Sie warf einen Blick auf die Uhr und setzte hinzu: „Es ist doch nicht mal neun Uhr.“

„Ich dachte mir, ich lege mich schon mal bereit.“ Er zuckte machomäßig mit den Augenbrauen und Narla wusste sofort, was er wollte. „Du kannst das Badetuch ja mal von dir werfen, Süße.“

„Warum fällt dir das immer dann ein, wenn ich was anderes vorhabe?“

„Was was anderes?“ Er blickte sie verwundert an und rutschte ans Bettende. „Was denn? Was anderes mit mir oder was anderes ohne mir?“

„Hast du die Kleine ins Bett gebracht?“

„Ja, habe ich. Antwortest du jetzt mal auf meine Frage?“

„Eigentlich sollte ich das gar nicht müssen“ meinte sie und legte das Handtuch auf die Heizung.

„Baby! Sexy!“ Dieser flache Bauch, diese hammermäßigen Brüste, diese Wahnsinnsbeine! Und erst diese Bäckchen! Doch er freute sich zu früh. Sie tat das nur, um an den Kleiderschrank zu gehen. „Ey, wieso ziehst du dir Unterwäsche an?“

„Manchmal könnte ich dich echt knutschen, Joseph.“

„Was bist du so komisch heute? Ich bin extra schon ins Bett gegangen. Und Little Joey schläft auch schon. Der Abend gehört uns.“

„Uns sind aber heute nicht du und ich“ seufzte sie und schloss den BH. „Erinnerst du dich noch, was ich dir heute Mittag erzählt habe?“

„Als wir telefoniert haben?“

„Nein, als wir zusammen in der Mondkapsel saßen.“ Manchmal war er echt zu langsam für diese Welt. „Natürlich als wir telefoniert haben.“

„Du hast gesagt, dass ich heute Joey ins Bett bringen soll. Ich dachte, wir haben danach Zeit für Sexy Mama und Big Papa.“

„Machst du das eigentlich extra. Dieses selektive Hören?“ Sie zog sich eine hellblaue Jeans über und musste schon etwas quetschen bis ihr Arsch ganz drin war.

„Für wen ziehst du die sexy Hose an? Hast du einen Liebhaber?“

„Joseph.“ Sie schlug sich an den Kopf und sah über ihre Schulter zurück. „Ich habe gesagt, du sollst das Baby ins Bett bringen, damit ich ausgehen kann. Mit Nika und Tea und Sari und Noah zur Ladiesnight im Kino. Leider kann Marie nicht mit, weil sie sich vor Rückenschmerzen kaum rühren kann. Aber wir bringen ihr Popcorn mit. Und nach dem Film gehen wir noch was trinken.“

„Mit Sari?“

„Ja, Sari ist auch eine Lady.“

„Nein, ich meine zum Trinken. Sie trinkt doch gar nicht.“

„Es gibt ja auch alkoholfreie Cocktails, du Blitzmerker.“ Sie hielt die Luft an bis der verflixte Jeansknopf endlich zuging, ließ vom Kleiderschrank ab und kletterte zu ihm aufs Bett, setzte sich auf seinen Schoß und wuschelte ihm liebevoll durchs Haar. „Warum bist du so durch den Wind, mein Bärchen?“

„Bin ich das?“

„Ich habe das Gefühl, du hörst mir heute gar nicht richtig zu. Was ist los?“

„Ach, eigentlich gar nix.“ Er schlang die Arme um sie und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Sie rutschte noch etwas näher und kraulte seine blonde Wuschelmähne, küsste ihn zwischendurch und seufzte tief.

„Tut mir leid, Schatz. Ich würde ja hier bleiben, aber ich habe Nika versprochen, dass ich mit ihr feiern gehe. Es hat sie etwas enttäuscht, dass sie organisch doch keine richtige Frau geworden ist. Und ihr Sperma konnte sie auch nicht rechtzeitig konservieren lassen. Das ist ein doppelter Rückschlag für sie. Deswegen müssen wir sie aufheitern. Nur wir Ladies.“

„Ist ja auch okay. Hast du mir ja gesagt. Ich hab’s nur irgendwie nicht gehört.“ Er seufzte und fuhr mit den Händen ihren Rücken hoch. Am liebsten würde er diesen sexy blaugestreiften BH gleich wieder aufmachen.

„Ich komme ja wieder zurück. Heute Nacht irgendwann“ versprach sie, drückte ihn weg und gab ihm ein Küsschen auf die Lippen. „Wenn du solange wartest, bin ich dann auch lieb zu dir. Ganz besonders lieb. Okay?“

„Okay.“

Sie sah ihn an und er lächelte auch. Aber sie kannte ihn zu gut, um ihm die Fröhlichkeit abzunehmen. „Was ist los? Du siehst fertig aus. Harter Tag im Büro?“

„Ja, schon … Seto hatte schlechte Laune heute.“

„Hat er das nicht immer?“

„Nein. Heute war er richtig mies drauf.“ Er küsste ihren Hals und ließ sich dann wieder gegen ihre warme Brust sinken. „Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass er mir aus dem Weg geht. Und sein Blick war irgendwie … ich weiß auch nicht. Ich kann’s nicht beschreiben, aber irgendwie war er komisch heute. Wir haben doch kein Neumond, oder?“

„Nicht, dass ich wüsste. Hast du ihn darauf angesprochen?“

„Nein“ seufzte er und sah sie kurz an, bevor er sich wieder an sie schmiegte. „Er mag das nicht, wenn man ihn so auf den Kopf zu fragt. Wahrscheinlich würde er mir nicht mal antworten. Ich kenne ihn.“

„Aber wenn man merkt, dass bei Seto was im Busch ist, ist es meistens schon zu spät.“ Soweit hatte sie ihn auch durchschaut. „Vielleicht solltest du doch mal mit ihm reden. Oder Noah bitten. Mit Noah redet er doch auch immer.“

„Nee, wenn ich Noah auf ihn ansetze, killt er mich. Also Seto meine ich. Ich warte noch mal bis morgen ab und wenn er dann immer noch so ist, dann rücke ich ihm auf die Pelle. Vielleicht ist er ja grundlos mies drauf.“

„Meinst du, es könnte an Yugi liegen?“

„Yugi?“ An dem lag es selten, wenn Seto sich mies fühlte. Meistens war Yugi eher derjenige, der ihn wieder aufbaute.

„Na ja, an seiner Veränderung“ erklärte sie genauer. „Seto hatte sich an Yugi gewöhnt. Ich könnte mir vorstellen, dass er diesen körperlichen Wandel weniger leicht wegsteckt als er vorgibt. Drachen mögen keine plötzlichen Veränderungen.“

„Vielleicht. In Setos Liebesleben stecke ich nicht so drin … ich muss mal bis morgen abwarten. Vielleicht mache ich mir nur schon wieder zu viele Sorgen um ihn. Ich habe nur einfach ständig Angst, dass ihm was passiert. Oder … oder dass er sich was antut.“

„Das kann ich verstehen“ tröstete sie und streichelte seinen Nacken. „Er ist immerhin dein bester Freund. Natürlich sorgst du dich um ihn.“

„Nicht nur weil er mein bester Freund ist. Er ist nur einfach emotional total labil. Und an so Tagen wie heute bekomme ich einfach Angst, dass er wieder Dummheiten macht.“

„Wenn sich das nicht ändert, kann ich ihm mal auf die Pelle rücken. Vielleicht kann ich ihn leider deuten als du.“

„Das mag er ja noch weniger“ seufzte er und drückte sich an sie. „Kriege ich wenigstens einen richtigen Kuss, bevor du mich zum Strohwitwer machst?“

„Oh! Armer, einsamer, verlassener Mann. Komm her.“ Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, beugte sich herunter und drückte ihre Lippen an seine. Jetzt tat es ihr tatsächlich etwas leid, dass sie ihn allein ließ. Er machte sich Sorgen um seinen Drachen und wollte etwas abgelenkt werden. Und sie machte sich ausgehfein. Aber Nika konnte sie auch nicht hängen lassen. Ihr war diese Ladiesnight enorm wichtig. Und Joey war in ein paar Stunden ja auch noch da.

Ein leises Klopfen schallte an der Tür und raubte Joey auch noch diesen kleinen, vertrauten Moment. Narla ließ sich zu leicht ablenken.

„Ich bin gleich unten!“ rief sie zurück als die Tür aufging und überraschender Weise keines der Mädels, sondern Yugi hereinschaute.

„Oh“ machte er große Augen. Narla oben ohne im Bett auf Joeys Schoß. Das sah nach etwas anderem aus. „Entschuldigt, ich wollte nicht stören.“

„Du störst nicht. Leider“ antwortete Joey mit Seitenblick auf seine Freundin, welche schon wieder vom Bett sprang und sich ein Shirt aus dem Kleiderschrank griff. „Was denn los, Mann?“

„Ich wollte nur fragen, ob Seto was zu dir gesagt hat.“

„Gesagt? Nee, was denn?“ Er setzte sich aufrecht hin und sah ihn sorgenvoll an. Jetzt ging das bei Yugi noch weiter mit dem Sorgenmachen.

„Na ja, er ist noch nicht zuhause und ans Handy geht er nicht ran. Ich dachte, vielleicht hat er noch einen späten Termin bekommen oder so?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Er lehnte sich zur Seite, griff seinen handyähnlichen Computer und tippte etwas ein. „Er hatte nur heute Morgen einen Telefontermin, aber den hat Noah übernommen. Ansonsten war nix. Aber ich finde, er war sowieso komisch drauf heute.“

„Wieso komisch?“

„Yugi“ seufzte Narla und öffnete die Tür weiter. „Komm doch ganz rein.“

„Na gut.“ Er kam also ganz ins Zimmer und setzte sich ans Bettende. „Wieso war er komisch?“

„Wieso weiß ich nicht. Aber er hatte ziemlich schlechte Laune heute.“

„Hat er das nicht immer?“

„Ja, aber nicht so! Manno!“ Keiner verstand, was er meinte. Narla drückte dieselben, doofen Sprüche.

„Joey meint, er hat komisch geguckt und war kurz angebunden“ übersetzte Narla und kämmte sich die nassen Haare durch. „War denn was zwischen euch heute Morgen, was ihm die Laune hätten verhageln können?“

„Nichts, weswegen er Grund zur Sorge gegeben hätte“ überlegte Yugi. „Er war zwar zuerst etwas überfahren, aber nachdem er von Sethos zurück war, schien er ausgeglichener. Also bei mir hatte er keine außerordentlich schlechte Laune.“

„Meinst du denn, dass er das so einfach wegsteckt?“ fragte Narla.

„Was wegsteckt?“

„Na ja.“ Sie wies an ihm hinauf und hinunter und sagte damit eigentlich alles. „Meinst du nicht, dass ihn das erschreckt?“

„Meinst du, mich hätte das nicht erschreckt als ich so aufgewacht bin?“

„Du weißt doch, was ich meine.“

„Ja, ich weiß.“ Er zog die Beine aufs Bett und sah Narla nachdenklich an. „Ich hätte schon erwartet, dass er erst mal etwas auf Abstand geht. Das wäre nur normal für ihn gewesen. Aber er war eigentlich ganz zutraulich … vielleicht war ich auch zu euphorisch, um etwas zu bemerken, aber er würde keinen Sex mit mir haben, wenn ihn etwas stören würde. Also kann er so verschreckt nicht sein.“

„Ach Mann, Yugi“ seufzte Joey und kratzte sich am Kopf. „Was haben wir uns da nur angelacht? Ständig muss man sich Sorgen um ihn machen.“

„Aber er ist so furchtbar niedlich“ lächelte Yugi. Die Mühe, die man sich mit Seto gab, gab er sich im Gegenzug ja auch. Und er gab alles wieder zurück. Auf seine Art. „Na gut, wenn er nicht ans Handy geht, muss der Anrufer eben zum Handy gehen“ beschloss er und stand vom Bett auf. „Ich fahre ihn einfach im Büro abholen. Kannst du mit auf meine Kinder achten?“

„Klar, kein Thema. Bin ja sowieso allein heute Abend.“ Doch Narla schmunzelte nur über seinen vorwürflichen Blick und verzog sich ins Badezimmer. „Ich lege Joey einfach zu Tato ins Bett und plündere Setos Süßigkeitenverstecke, okay?“

„Danke, hast was gut bei mir.“ Er machte sich auf den Weg in sein eigenes Zimmer und überlegte dabei, was seinem Liebling schon wieder über die Leber gelaufen sein könnte. Wenn er Yugis Anrufe nicht beantwortete, war das schon ein negatives Signal. Aber hatte er irgendwelchen Druck ausgeübt, den Seto nicht verkraftete? Ja, er war sehr euphorisch und vielleicht einen Tick zu glücklich über sein neues Aussehen. Aber er hatte Seto doch gefragt, ob alles in Ordnung sei. Und wenn ihn etwas erschreckt hätte, hätte er sich niemals auf Sex eingelassen. Nicht nur, dass er sich nicht darauf eingelassen hätte, sondern es hätte doch auch gar nicht funktioniert. Seto konnte keine erotischen Gefühle empfinden, solang er emotionalen Ballast mit sich herumschleppte. Sex und Liebe gingen bei ihm Hand in Hand und wurden durch Harmonie zusammengehalten. Vielleicht war ihm irgendetwas passiert oder es war ihm irgendetwas gesagt worden, worüber er sich wieder den Kopf zerbrach …

Eine Überraschung erlebte er jedoch als er zurück ins Zimmer kam. Wessen Klamotten lagen dort über dem Stuhl und wer kletterte da gerade mit Pyjama ins Bett?

„Liebling?“ Er musste ihn also gar nicht abholen. „Ich habe dich gar nicht kommen hören.“

„War leise … die Kleinen schlafen.“ Er zog die Decke über sich und drehte ihm den Rücken zu.

„Willst du schon schlafen? Bist du so müde?“

„Hm.“

„Och, Schatzi.“ Trotzdem war da irgendwas komisch. Normalerweise begrüßte Seto ihn wenigstens und fragte, was die Kinder den Tag über gemacht hatten. Aber dass er grußlos ins Bett verschwand, war selten. Er kletterte also zu ihm, zog die Decke ein Stück herunter und sah in seine geschlossenen Augen. „Ist alles in Ordnung, Liebling?“

„Hm …“

„Bekomme ich keinen Kuss?“

Seto seufzte und öffnete seine blauen Augen. Er sah wirklich müde aus. „Yugi, entschuldige.“ Er kam ihm ein Stück entgegen und erwiderte den vorsichtigen Lippenkuss. „Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch, mein Engel.“ Er streichelte über sein Haar und kraulte es, während er sich ganz dicht neben ihn legte. „Du bist ja wirklich total erschlagen. War dein Tag so anstrengend?“

„Hm … ja.“

„Was war denn los?“

„Nix.“

„Aber du bist doch sonst nicht so spät. Und ans Handy bist du auch nicht rangegangen.“

„Akku alle …“

„Hattest du Tato nicht versprochen, ihn heute ins Bett zu bringen?“

„Hm …“

Yugi seufzte. Das war mal wieder so eine ‚Alles aus der Nase ziehen‘-Aktion. „Du vergisst deine Versprechen doch sonst nicht. Was ist los?“

„Hmmm …“

„Liebling?“

„…“

„Liebling?“ Er streichelte ihm über die Wange, aber Seto atmete nur langsam aus, ließ eine kurze Pause und atmete dann gemächlich und tief wieder ein. Der war weg für heute. „Herrje, du musst ja todmüde sein.“ Er küsste ihn auf die Stirn und zog die dünne Decke über seine Schulter. Wenn er so furchtbar müde war, war es besser, ihn schlafen zu lassen. Sonst würde man eh kein anständiges Wort aus ihm herausbekommen. Dann eben morgen. Hauptsache, er war nach hause gekommen.

Yugi rollte sich vom Bett und wollte noch die letzten Arbeiten erledigen, bevor auch er ins Bett ging. Leise ging er in Tatos Zimmer und holte die schmutzigen Klamotten vom Tage, besonders die Socken, von denen er heute ganze drei Paar verteilt hatte. Sobald Yugi ihm Strümpfe anzog, lief er ohne Schuhe herum, ärgerte sich dann, dass die Strümpfe schmutzig wurden und holte sich ein neues Paar. Na ja, lieber so als wenn er ganz barfuß herumlief und auf der Straße in irgendwas reintrat.

Als er wieder herauskam, hörte er neben sich ein geflüstertes „Hey“ und sah Joey samt Baby neben dem Bett stehen und auf den schlafenden Drachen deuten.

„Er hat sich rein geschlichen, während ich bei dir war“ antwortete er und holte den Wäschekorb aus dem Badezimmer.

„Und schläft schon?“ wunderte auch Joey sich. „Er hat doch bestimmt noch gar kein Abendbrot gegessen.“

„Er war todmüde. Ist gleich eingeschlafen, sobald er lag.“

„So viel ist doch gar nicht los im Moment“ meinte er und beobachtete wie Yugi Setos Strümpfe aufhob und sie auch in den Wäschekorb tat. Danach das Hemd. „Willst du jetzt noch waschen gehen?“

„Muss ich. Die Kinder haben fast nichts mehr im Schrank. Tato hat einen Sockenvebrauch wie ein kleines Land und Nini zieht sich öfter um als ihre Barbie. Und Seto will ja auch frische Klamotten anziehen. Und ich muss meine neuen Sachen auch erst mal waschen, bevor ich sie anziehen kann.“

„Du bist echt die perfekte Hausfrau, was?“

„Das würde ich nicht sagen“ lachte er und nahm die Hose vom Stuhl. „Ich habe nur keine Lust, mir das Gemeckere meiner Familie anzuhören, wenn die Kleiderschränke leer sind. Nicht wahr, Liebling?“

Aber der antwortete gar nicht, sondern schlief einfach weiter seinen blauen Traum.

„Siehst du? Keine Widerworte.“

„Sag mal“ guckte Joey skeptisch. „Kontrollierst du immer Setos Hosentaschen?“

„Routine. Bei den Kinder schaue ich auch immer, ob noch irgendwas da ist, was nicht in die Waschmaschine gehört. Seto lässt leider genauso gern Papiertaschentücher in den Taschen wie meine Kinder irgendwelchen Kleinkram, der dann die Maschine verstopft. Ein Mal hatte Tato eine ganze Hosentasche voller Gipspulver vom Nachbarn geklaut. Das wäre was geworden. Du wäschst nicht oft Wäsche, oder?“

„Wenigstens das macht Narla für mich. Was ist das?“

„Keine Ahnung.“ Bei seiner Routinekontrolle fand Yugi etwas, was eindeutig kein Taschentuch, kein Kleingeld, kein Gips oder sonstiger Kram war. Es war eine Rippe von Tabletten. Ursprünglich waren hier fünf Tabletten, kleine weiße Kügelchen, eingeschweißt. Doch von denen waren nur noch zwei vorhanden. „Das ist kein Aspirin.“

„Yugi, sind das neue Happy-Pillen?“

„Kann nicht sein. Sein Antidepressivum ist grünlich. Das hier ist was anderes.“ Er drehte die Rippe um und las vor: „Zolpiclon … kennst du das?“

„Yugi, ich und Medikamente. Ich erkenne Aspirin und Hustensaft und das war’s auch schon. Ach ja, und Renni räumt den Magen auf kenne ich auch.“

„Ja ja, schon gut.“

„Vielmehr wundert mich, was Seto sich da wieder reinpfeift. Ich denke, er nimmt keine Tabletten, ohne das mit dir abzustimmen. Das hattet ihr doch damals mit seinem Therapeuten so besprochen, oder nicht?“

„Ja, weil er suchgefährdet ist“ antwortete Yugi und versenkte die Hose im Wäschekorb - ohne Tabletten. „Ich google das mal. Hast du noch so lange Zeit?“

„Als wenn ich jetzt ruhig schlafen könnte, Mann. Ich lege die Kleine eben hin, ja?“

„Ja ja …“ Yugi machte sich währenddessen daran, seinen Laptop hochzufahren und nach diesem ominösen Medikament zu suchen. Als Joey sich neben ihn auf die Couch setzte, hatte er auch schon erste Ergebnisse. „Wenn ich die ganzen Fachbegriffe mal außen vor lasse, verstehe ich, dass das ein Schlafmittel ist.“

„Warum nimmt Seto Schlaftabletten?“

„Das verrät Wikipedia mir natürlich nicht.“ Er klappte den Laptop wieder zu und sah besorgt zum Bett. Warum nahm Seto Schlaftabletten und sagte nichts? Und dann auch gleich drei auf ein Mal. Kein Wunder, dass er so schnell weggeschlummert war.

„Ist er denn in psychologischer Behandlung?“

„In Domino war er. Aber dann natürlich nicht mehr“ gestand Yugi und fingerte ratlos an den Tabletten herum. „Ich dachte, er hätte diese Alleingänge abgestellt. Er kann doch nicht einfach irgendwelche Tabletten nehmen.“

„Sind Schlafmittel nicht verschreibungspflichtig?“

„Wenn Seto was haben will, kriegt er es auch.“

„Nein, ich meine, nicht dass er ne Überdosis intus hat. Drei Tabletten von fünf klingt ziemlich viel.“

„Ich glaube nicht, dass man so schnell davon sterben kann. Aber ich hole mal vorsichtshalber Mokuba. Passt du auf Seto auf?“

„Weglaufen wird er wohl jetzt nicht“ meinte Joey, aber setzte sich dennoch ans Fußende des Bettes, um den schlafenden Drachen zu bewachen.

Yugi indessen huschte hinüber zur nächsten Tür und klopfte kurz. Weil man ja nie wusste, was da drin gerade gemacht wurde, wartete er auf eine erlaubende Stimme von innen und ging dann erst hinein.

Noah war gar nicht anwesend, dafür lag Mokuba auf dem Sofa, Happy End auf seinem Bauch und hielt das Telefon ans Ohr. „Hey, Yugi“ lächelte er und kraulte das dunkle Wuschelfell seines Katzenmädchen. „Was ist?“

„Kannst du kurz auflegen? Ich brauche dich mal.“

„Du, sorry. Ich muss aufhören“ entschuldigte er zum anderen Ende. „Ja, kannst du machen, der ist aber gleich weg. Ladies Night im Kino. … Natürlich! Und du grüß deinen Macker von mir. … Ja, mache ich. Tschaui tschaui!“ Er legte auf und schmiss das Handy zwischen die Kissen. „Schöne Grüße von James. Er und Enrico sind im Urlaub bei seiner Familie in England.“

„Danke. Kannst du kurz mit rüberkommen?“

„Was los, Yugi? Du siehst blass aus.“ Natürlich setzte er die kleine Katze hinunter und ging ihm nach. „Ist was wegen Seto?“

„Der Kandidat hat hundert Punkte.“

„Oh je. Noah meinte schon, er hätte heute ne merkwürdige Laune gehabt. Hat er sich schon wieder die Arme zerkratzt?“

„Das habe ich jetzt nicht kontrolliert.“ Sie kamen schon im Schlafzimmer an und Mokuba sah den Drachen neben Joey selig schlummern. Natürlich war das auf den ersten Blick kein Grund zur Sorge.

„Und was fehlt ihm?“

„Nichts. Er hat eher ein bisschen zu viel.“ Yugi gab ihm die angebrochenen Tabletten und Mokuba las auch zuerst die Rückseite. „Das sind Schlaftabletten“ erklärte er zusätzlich.

„Na ja, noch bin ich kein Arzt“ entschuldigte er und gab die Tabletten zurück. „Hat er denn die ganzen drei Pillen genommen?“

„Davon gehen wir mal aus. Er ist jedenfalls ins Bett gegangen und war sofort weg.“

„Ach, mein großer Bruder und seine Drogen“ seufzte er und setzte sich neben ihn aufs Bett. Er griff um ihn herum und legte die Hand auf seine Stirn.

„Hat er Fieber?“ wunderte Joey sich sofort.

„Nein, ich muss mich konzentrieren. Kannst du mal einen Moment ruhig sein?“

„Immer werde ich angemacht“ murmelte er, aber hielt dann wenigstens die Klappe.

Mokuba hielt die Hand an der kühlen Stirn und spürte sich in ihn hinein. In seinen Körper, in seine Organe, in seine Blutbahn. Wenn er auch kein ausgebildeter Arzt war und vielleicht nicht der weltbeste Heiler, so konnte er zumindest von etwas Erfahrung und Naturtalent leben.

„Sein Herz schlägt ganz normal. Und er atmet gut. Schmerzen hat er auch nicht“ erklärte er und zog die Hand zurück. „Ich spüre zwar die lähmende Wirkung des Medikaments, aber schaden wird es ihm nicht. Seine Leber beginnt schon, das Schlafmittel abzubauen. Ein kräftiger Kerl wie er braucht wohl schon eine erhöhte Dosis, um so weg zu knacken. Ich kann sein Blut reinigen, wenn du willst. Yugi?“

„Nein, lass ihn schlafen“ seufzte er und strich sich über die Stirn. „Ich schnappe ihn mir morgen früh.“

„Was könnte denn der Grund sein, dass er Schlaftabletten nimmt? Wusstest du davon?“

„Nein, ich hatte keine Ahnung“ musste er zugeben und betrachtete sein Sorgenkind mit Mitleid und Bange. „Aber es muss irgendetwas vorgefallen sein, dass er so was macht. Aus Spaß würde er das nicht tun. Er hat sich mit Absicht betäubt, das ist mal klar.“

„Sonst ist aber nichts.“ Joey hatte die Decke gelüpft und sich seine Arme angesehen. Da war zumindest noch alles heil. „Getan hat er sich nichts.“

„Schlaftabletten“ seufzte Mokuba ebenso besorgt. „Er weiß doch, wie leicht er von so was abhängig wird. Da hätte er auch gleich wieder Koks schnupfen können.“

„Er denkt sich eben immer was neues aus“ meinte Joey.

„So neu ist das nicht“ korrigierte Yugi. „Vor einigen Jahren hat er schon mal angefangen, Schlaftabletten zu nehmen. Damals habe ich es aber rechtzeitig spitz bekommen und Seth hat über unsere Medikamente einen Zauber gelegt, der ihn abgeschreckt hat. Seitdem habe ich doch seine Medikamente zugeteilt. Mache ich eigentlich heute immer noch.“

„Er flüchtet aber gern in solche Betäubungszustände, bevor er Amok läuft“ machte Mokuba sich Gedanken. Er wusste genau wie sein großer Bruder tickte. Und er wusste auch, dass irgendetwas in ihm sehr aufgewühlt sein musste und auch, dass er leicht zu solcherlei Verzweiflungstaten neigte. „Sollen wir den anderen etwas sagen, damit sie auf ihn achten?“

„Das wäre ihm überaus peinlich. Und ich will ihn nicht schon wieder bloßstellen“ entschied Yugi sofort. „Lass uns die Sache nicht überdramatisieren. Ich werde morgen mit ihm sprechen und dann sehen wir weiter.“
 

Die Nacht über fand Yugi keinen Schlaf. Immerzu musste er darüber nachdenken, was es sein konnte, was seinem Liebling so auf der Seele lastete, dass er zu Tabletten griff. Nach all den Jahren und nach all den Strapazen und all den Liebesschwüren musste Seto doch wissen, dass es nichts gab, worüber er nicht sprechen konnte. Sie hatten gemeinsam seine Traumata in den Griff bekommen, sie waren durch seine Drogensucht gegangen, hatten den Alkohol verbannt und den Tod überwunden. Es gab kaum etwas, was das toppen konnte. Und dennoch waren Yugis Sorgen dieselben wie damals.

Natürlich hatten Setos verschiedenen Ärzte nie etwas beschönigt. Yugi wusste, dass es niemals leicht für ihn sein würde. Er würde immer Gefahr laufen, einen Rückfall zu haben oder als Ersatz neue Psychosen zu entwickeln. Yugi konnte ihm keinen Vorwurf machen, denn er tat dies nicht mit Absicht. Wer solch eine Kindheit, wer so viel Hass und Verachtung und Demütigung erlebt hatte, für den war das Leben nun mal anders. Noch dazu, wenn man ein solch sensibles Wesen besaß. Und dennoch wünschte Yugi sich, dass ihre harmonischen und stabilen Zeiten einfach mal etwas länger andauerten.
 


 

Chapter 42
 

Am nächsten Morgen machte Yugi die Kinder leise für den Kindergarten fertig. Er wollte Seto nicht wecken, sondern ihn von selbst aufwachen lassen, in Ruhe frühstücken und in möglichst entspannter Atmosphäre mit ihm über alles sprechen.

Doch als er die Kinder zu Mokuba in den Wagen gesetzt hatte und danach mit einer Kanne Kaffee zurück kam - war Seto verschwunden.

Hinterlassen hatte er nur einen Zettel: ‚Yugi, musste dringend ins Büro. Ich liebe dich über alles. Seto.‘ Wieder hatte er sich einem Gespräch entzogen und sich an ihm vorbeigeschlichen. „Das macht er extra!“

Also schrieb er ihm eine SMS: ‚Können wir nachher gemeinsam Mittagessen? Ich möchte mit dir sprechen. Ich liebe dich.‘

‚Tut mir leid. Ich habe heute viel zu tun. Vielleicht heute Abend. Kuss.“

‚Lieber Seto. Das war keine Bitte.‘

Es dauerte einige Momente, doch dann erhielt er sogar eine Antwort: ‚Ich bin gegen ein Uhr bei dir.‘

Und vorsichtshalber noch eine SMS an Joey und Noah - sie sollten ihn im Auge behalten, damit er nichts dummes tat …
 

Im Büro las Noah die SMS von Yugi. ‚Bitte passt heute auf den Engel auf. Ihr wisst schon. Ich zähle auf euch, Yugi.‘

‚Wird erledigt. Kuss, Noah.‘

Er legte gerade sein Handy beiseite als es an seiner Tür klopfte. Joeys Klopfen war ein schnelles Aufeinanderfolgen von drei Knöchelklopfern. Svalas Klopfen war meist nur ein Doppelklöpfchen, welches weniger Frage als Ankündigung war. Seto war der einzige, der drei Male mit dem Fingernagel klopfte. Und so wusste Noah sofort, dass sein heutiges Sorgenkind vor der Tür stand. Und was für ein Glück, dass sein Häschen ihm immer alles erzählte.

„Komm rein, Seto!“

„Woher weißt du, dass ich es bin?“ fragte er und blieb im Türrahmen stehen.

„Weibliche Intuition.“ Noah lächelte und schob das Handy an den Rand des Tisches als sei gar nichts los. Doch er konnte nicht umhin zu bemerken, dass Seto heute schlecht aussah. Sein Haar war stumpf und er wirkte ungeduscht. Seine Kleidung saß nicht so perfekt wie sonst und er war blass, fast bleich. Wer ihn einigermaßen kannte, sah ihm an, dass etwas nicht in Ordnung war. „Was kann ich für dich tun, Brüderchen?“

„Ich … hast du eine Minute Zeit, dass wir was besprechen können?“

„Auch zwei Minuten. Komm rein“ winkte er und rollte mit dem Schreibtischstuhl ein Stück zurück. „Wollen wir uns aufs Sofa setzen?“

„Nein, bleib sitzen.“ Er schloss die Tür hinter sich, nahm den Besucherstuhl von der Seite und setzte sich auf die andere Seite des Schreibtisches.

„Möchtest du einen schwarzen Tee? Ich habe gerade …“

„Nein, mir ist schon schlecht“ raunte er und blickte an ihm vorbei aus dem Zimmer.

Noah wartete einige Momente und betrachtete seine abwesenden, eisblauen Augen. Sie blickten ins Nichts, sie blickten in sich selbst hinein. Er musste sich abwenden, denn diese Augen wirkten auf einer sonderbare Weise hypnotisch. Seto nahm es wahrscheinlich nicht wahr, doch seine Mystik wurde immer offensichtlicher. „Was liegt dir denn auf dem Herzen, Süßer?“

„Was?“ Er horchte auf und realisierte, dass er ja zum Reden hier war und nicht zum Löcher in die Luft starren. „Ach so. Also, ich …“ Er zögerte, beobachtete wie Noah sich selbst einen Tee in sein indisches Glas eingoss und ihn fragend ansah. „Wegen der Email.“

„Email?“ Noah hatte etwas anderes erwartet. Vielleicht den Grund dafür, dass Yugi sich um ihn sorgte. Oder den Grund dafür, weshalb Mokuba schon wieder halb Amoki lief vor Sorge, sein Bruder könne wieder zu Drogen greifen. „Welche Email?“

„Von unserem Lieblingsschleimer aus Washington.“

„Ach, du meinst Pegasus.“ Deswegen war Seto so komisch drauf? Er zog seine Tastatur heran, öffnete besagte Mail und las sich den Text nochmals auf unterschwellige Botschaften durch, die Seto vielleicht aus dem Konzept gebracht haben könnten. „Die ist ja nicht mal von ihm direkt, sondern von seiner Sekretärin.“

„Ich weiß. Und was … was sagst du dazu?“

„Na ja, ist ja nur ein Terminvorschlag. Wenn Pegasus nächste Woche eh durch Europa tourt, ist es naheliegend, dass er uns treffen möchte. Wir haben ihn jetzt auch länger nicht persönlich gesehen.“

„Fehlen tut er mir nicht.“

„Mir auch nicht, aber ein bisschen müssen wir uns schon mit ihm befassen. Da beißt die Maus keinen Faden ab.“ Persönliche Abneigungen brachten sie leider nicht weiter. Industrial Illusions war ihr ärgster Konkurrent und sie mussten mit ihm klarkommen. „Außerdem interessiert es mich schon, wie er seine Unternehmensleitung umstellen will. Ich hätte es schon gern von ihm selbst erklärt und nicht über Gerüchte.“

„Er gibt morgen doch eh ne Pressekonferenz und unsere amerikanischen Direktoren sind eingeladen. Da muss er uns doch nicht noch persönlich belämmern.“

„Er reist doch eh auf dieser Seite des Atlantik herum, um seine europäischen Zweigstellen zu besichtigen. Wir werden wohl nicht drum herum kommen, ihn einzuladen. Wie würde denn das aussehen, wenn wir uns verkriechen?“

Seto blickte ihn an, ließ sich keine Gefühlsregung anmerken und glitt dann mit dem Blick zu Boden.

„Seto, bitte sei ehrlich“ bat er und lehnte sich vertraulich auf den Tisch. „Hattest du schon wieder einen Disput mit Pegasus, der dich aus dem Konzept gebracht hat?“

„Ich bin nicht aus dem Konzept gebracht.“

„Verzeih, wenn ich das so sage, aber es sieht ein Blinder, dass dir was auf den Magen geschlagen ist.“

Er senkte den Kopf noch weiter, sodass ihm die Haare ins Gesicht fielen. Das tat er ganz automatisch, damit man seinen Ausdruck nicht mehr sah.

„Seto, was ist los? Ich kann nicht mit Pegasus arbeiten, wenn ich nicht weiß, was zwischen euch war.“

Doch auch hierauf bekam er keine Antwort. Seto saß nur einfach da, versteckte sein Gesicht und erstarrte. Er bewegte sich einfach gar nicht mehr.

„Bitte sprich doch mit mir. Sonst kann ich dir nicht helfen.“

„Ich … ich bin ein ganz schrecklicher Mensch.“ Er hielt sich die Hand über die Augen und schluckte mit einem leidlichen Ton seine überquellenden Gefühle herunter. Er zitterte wie Espenlaub und brachte außer einem jämmerlichen Ton kein Wort mehr heraus.

Noah wollte aufstehen und zu ihm gehen, doch Seto hob abwehrend die Hand und bat ihn sitzen zu bleiben. „Ich fange mich gleich wieder“ schluchzte er und atmete tief, versuchte, sich zu beruhigen.

Langsam setzte Noah sich in seinen Stuhl zurück und wartete ab bis Seto seine Fassung zurückerlangte. Er konnte erst mal nur ein Taschentuch aus der Schublade fischen und es ihm reichen. Wenigstens nahm er es und trocknete seine Augen.

„Scheiß Tränen“ lachte er verzweifelt und tupfte sein Gesicht ab. Er war schon immer nahe am Wasser gebaut, aber gemocht hatte er das nie.

„Es ist gut, wenn man weinen kann“ erwiderte Noah sanft. „Es ist schlimmer, wenn man es nicht kann.“

„Trotzdem hasse ich das.“ Er schnupfte seine Nase und atmete noch mal durch.

„Geht’s wieder?“

„Ja … tut mir leid.“

„Kein Grund, sich zu entschuldigen. Habe dich schon schlimmer erlebt“ lächelte er und reichte ihm ein neues Taschentuch, damit Seto das alte wegwerfen konnte. Als das erledigt war und der Drache ruhiger wirkte, tastete er sich noch mal heran. „Was ist denn passiert, dass dich die Mail von Pegasus so aufwühlt? Ich hatte das Gefühl, dass ihr euch trotz eurer ‚Herzlichkeiten‘ ganz gut versteht.“

„Ach, Max ist mir doch egal“ tat er das ab, blickte kurz hoch und fing eine neue Träne mit dem Papiertaschentuch auf. „Noah, ich … ich fühle mich schrecklich. Ich bin ein … ein ganz … ein furchtbar verlogener Mensch.“

„Finde ich nicht“ widersprach er milde. „Was lässt dich so denken?“

„Ich dachte immer, ich liebe Yugi“ stammelte er und sah verzweifelt auf. „Aber was ist, wenn ich ihn nicht so sehr liebe wie ich immer sage? Wenn ich uns nur etwas vorgemacht habe?“

„Ich kenne niemanden, der sich so bedingungslos liebt und sich so überaus braucht wie Yugi und du“ antwortete er und ließ einen Moment Pause, versuchte Setos rätselhafte Mine zu deuten. „Und ich kenne niemanden, der für seine Liebe so hart gekämpft hat wie du. Du bist Yugi doch mit Haut und Haaren verfallen.“

„Aber wenn sich das nun ändert? Seth hat auch irgendwann seine Liebe für Yami verloren. Was ist, wenn mir dasselbe passiert?“

„Seto, du hast Yugi dein Herz geschenkt. Und das nicht nur symbolisch, sondern du hast dich ihm voll und ganz verschenkt. Davon abgesehen, hat auch Seth realisiert, dass er ohne Yami nicht glücklich sein kann. Du weißt, dass ich ein Skeptiker bin, aber wenn ich eines ganz sicher weiß, dann dass du und Yugi füreinander geschaffen seid. Ich würde sogar weiter gehen und sagen, dass ich an deine Beziehung zu Yugi mehr glaube als an meine eigene zu Mokuba. Warum zweifelst du an etwas, was einem Naturgesetz gleichkommt?“

„Weil ich mich vor ihm ekele“ flüsterte er fast unhörbar. Selbst der Vogel vor dem Fenster zwitscherte lauter.

„Du ekelst dich …“ wiederholte er leicht verwundert. „Vor Yugi?“

Seto nickte und fing die nächsten Tränen mit dem Tuch auf. Das machte ihm wirklich zu schaffen.

„Wovor genau ekelst du dich?“ versuchte er zu ergründen. „Vor Yugi oder vor seinem neuen Körper?“

„Ich … ich weiß nicht … mir ist schlecht.“ Er sah beiseite, seine Augen huschten nervös durch den Raum. Als wäre er gehetzt, als würde er jeden Moment ein Monster erwarten, welches ihn auffressen wollte.

„Ich versuche, zu verstehen, was du meinst“ sprach Noah sachte weiter.

„Das weiß ich doch selbst nicht … immer, wenn ich an ihn denke … ich ertrage ihn nicht. Seine Anwesenheit … ich weiß nicht, was mit mir los ist …“

„Hast du dieses Ekelgefühl seit gestern? Seit Yugi gewachsen ist?“

„Ja, es kam ganz plötzlich. Ich habe ja alles versucht, aber … ich kann das nicht. Ich habe Angst, dass ich Yugi nicht mehr liebe! Was soll denn aus mir werden, wenn ich ihn nicht mehr liebe? WAS SOLL DENN DANN AUS MIR WERDEN? OHNE IHN BIN ICH NICHTS ALS DRECK!“

„Beruhige dich. Wir finden eine Lösung.“ Noah wollte gern zu ihm gehen und ihn in den Arm nehmen. Aber eine Umarmung, wäre jetzt sicher keine gute Idee. Er hatte schon viele Gespräche mit Seto geführt, auch viele schwierige. Aber in diesem Moment fühlte er sich das erste Mal an seine Grenzen geführt. Eine Erklärung für Setos Gefühle war so schwer zu finden wie Leben auf fremden Planeten. Dabei war sein Fühlen im Grunde sehr schlicht … doch in seiner Schlichtheit zu kompliziert.

„Yugi sieht doch eigentlich wunderschön aus! Oder Noah? Yugi ist doch schön?“

„Objektiv betrachtet ja.“

„Ich meine, er ist ja nicht abstoßend. Er hat eine makellose Haut und gerade Gliedmaßen und eine tiefe Stimme und klare Augen und … oh Gott.“ Er würgte und hielt sich die Hand vor den Mund.

Noah bekam große Augen. Das würde doch wohl nicht so weit gehen? Er kippte gerade noch die Ziersteine aus einer Schale und hielt sie Seto unter, bevor der sich übergab. Zum Glück hatte er einen leeren Magen und sein Würgen brachte nur Galle, doch allein der Gedanke an Yugi überschlug in Übelkeit. Er ekelte sich wirklich. Er sagte das nicht nur bildlich, er ekelte sich ganz körperlich.

„Oh Gott, das tut mir leid. Tut mir leid, Noah.“

„Hey, halb so wild. Die Schale hat nur 1500 Dollar gekostet“ tröstete er und half ihm als er aufstehen wollte. „Komm, wir gehen einen Moment an die frische Luft.“ Er spürte wie Seto bei seiner Berührung verkrampfte und und zwang sich ihm nicht auf. Die Schale ließ er neben der geöffneten Terrassentür stehen und achtete auf Setos wackeligen Schritte bis der auf einem Gartenstuhl Platz genommen hatte und leichter atmete. „Warte hier, ich hole dir ein Glas Wasser.“ Er gab sich Mühe, nicht allzu gehetzt zu wirken, sondern Ruhe auszustrahlen, damit auch Seto ruhiger wurde. Doch in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Das hier war ein Fall für einen richtigen Psychiater und nicht einen Hobbypsychologen wie Noah. Doch wie sollte Seto das auch einem Psychiater erklären? Ich habe meinen Mann geliebt bis er durch einen Feenzauber gewachsen ist und jetzt muss ich mich vor Ekel übergeben? Jeder gute Psychiater würde Seto sofort in die geschlossene Anstalt verweisen.

Noah zog sich einen Stuhl heran und reichte ihm ein Glas stilles, kühles Wasser. Für den Magen sicher nicht die beste Lösung, aber für Setos Gemüt wohl schon. Er legte ihm auch ein neues Taschentuch hin, falls er es brauchen sollte. So saßen sie erst einige Momente da, genossen den Schatten des Sonnenschirms und das Quaken der Enten auf dem Kanal.

„Schau mal“ wies er dann den kleinen Hügel hinab. „Kennst du unsere Entenküken schon?“

Seto folgte seinem Fingerzeig und lächelte tatsächlich ein wenig. Die halbgroßen, bräunlichen, flauschig-fedrigen Dinger gefielen ihm. Sie waren so niedlich wie sie alle ihrer Mama hinterher paddelten und gemeinsam in ein gurrähnliches Geräusch einfielen. Er horchte auf als ein dunkles Etwas in die Nähe der Entenmama fiel und diese sofort aus dem Wasser hüpfte, auf das Ding zuwatschelte und es auffraß. Fragend sah er Noah an, der mit einem abgerupften Schwarzbrot dastand und Seto anlächelte. Der hatte gar nicht mitbekommen wie er sein Frühstücksbrot geholt hatte.

„Hier.“ Er riss das Brot, welches nur dünn mit Butter bestrichen war, in zwei Hälften und reichte ihm eine davon. Da war die Ente auch schon ganz nahe und schnatterte fordernd die beiden Männer an. „Dante und Moki haben sie angefüttert.“

„Ach so.“ Seto nahm das Brot, rupfte ein Stück ab und schnippte es der braunen Ente hinüber, die sich sofort gierig darauf stürzte. „Ihr solltet euch richtiges Entenfutter besorgen. Zu viel Brot ist nicht gut.“

„Eigentlich bin ich dagegen, Wildtiere anzufüttern“ erwiderte Noah und ließ einen Krümel zu den Küken fallen, welche sich um seine Beine scharten. „Vorgestern stand Familie Quack nämlich mitten in meinem Büro und das fand ich nicht so komisch.“

„Ist doch niedlich.“

„Enten gehören auf den Teich oder auf den Teller. Sicher nicht ins Büro.“ Doch wenigstens lenkten die Viecher den traurigen Seto etwas ab.

„So jung sind die Küken aber auch nicht mehr. Sie bekommen schon Federn“ zeigte Seto und fütterte Mamaente sogar aus der bloßen Hand.

„Und bald haben die Küken auch Küken und dann kann ich meine Tür nach draußen gar nicht mehr aufmachen. Wenn Dante Enten füttern will, soll Moki mit ihm in den Zoo gehen.“

„Du bist gemein, Noah.“

„Ich bin nur realistisch. Hat nicht jeder so ein tierliebes Herz wie du“ erwiderte er, warf ihm ein kleines Lächeln zu und legte den Rest seiner Brotscheibe auf den Boden, wo sich die jugendlichen Küken dann darum stritten. „Vielleicht sollte ich meinen Lieblingsfreund Hello mit hernehmen. Der hat die Küken sicher auch zum Fressen gern.“

„Noah!“ Doch Seto lachte wenigstens etwas. Den Witz verstand er dann auch noch.

„Ich meine ja nur.“ Es war klar, dass Noah sich lieber mit Enten herumplagte als diesen Kater freiwillig zu ertragen.

Seto seufzte und rupfte noch mehr Brot für Mamaente ab. „Noah, ich habe Yugi angelogen. Ich habe ihm gesagt, ich fände ihn attraktiv.“

„Und das tust du nicht?“

„Ich verstehe es ja auch nicht“ sprach er nachdenklich und berührte die Ente mit den Fingerspitzen am Flügel. Obwohl er ein Drache war, schreckte das Geflügel überhaupt nicht vor ihm zurück. Nicht etwa, weil es zahm war, sondern einfach weil sie bei Seto, anders als bei anderen Menschen, überhaupt keine Gefahr spürten. Selbst Tiere fühlten die Sanftheit, die sein Wesen ausmachte.

„Was genau fühlst du denn, wenn du Yugi ansiehst?“

„Ich fühle mich verwirrt und ängstlich … und mir wird übel“ antwortete er mit bedrücktem, leisen Ton. „Er sieht ja wirklich gut aus. Ich meine, er entspricht genau dem zivilisierten Schönheitsideal. Deswegen verstehe ich nicht, warum mich das so aufwühlt. Ich sollte mich doch für ihn freuen. Es war immer sein größter Wunsch, so auszusehen. Aber ich …“

„Aber du findest ihn nicht hübsch?“

„Doch, er ist hübsch. Aber du bist auch hübsch. Und Tristan auch und Mokuba. Selbst Joey ist irgendwie hübsch. Yugi ist ja nicht hässlich. Ich meine, er hat keine eitrigen Abszesse im Gesicht oder verkrüppelte Gliedmaßen. Deswegen verstehe ich nicht, was mich so abstößt.“

„Vielleicht genau das.“

„Was?“

„Dass er so aussieht“ versuchte Noah ihn zu ergründen. „Stell dir vor, Yugi wäre ein Brandopfer und am ganzen Körper vernarbt und entstellt. Würdest du dich davor ekeln?“

„Natürlich nicht! Hässlichkeit ist kein Grund, sich …“

„Aber vor seiner Attraktivität ekelst du dich“ sprach er ernst weiter.

„Ich bin so kaputt im Kopf“ seufzte er und gab auch sein letztes Stück Brot her. „Was ist, wenn ich allen nur etwas vorgemacht habe? Wenn meine Liebe nicht so stark ist wie ich geschworen habe? Es kann doch nicht sein, dass ich meinen eigenen Mann nicht berühren will. Das ist doch nicht normal.“

„Niemand hat jemals behauptet, du seiest normal“ tröstete Noah mit einem kleinen Seitenhieb. „Seto, du hast sehr hart an dir gearbeitet bis du dich auf körperliche Nähe einlassen konntest. Du musstest wochenlang in stationäre Behandlung, bevor man dich mal drücken konnte. Doch bei Yugi hast du dich doch immer schon wohlgefühlt. Oder nicht?“

„Ich weiß nicht …“

„Wir haben das doch gesehen. Während du in Panik ausgebrochen bist, wenn dich jemand nur mal falsch angesehen hat, konnte Yugi schon mit dir Händchen halten. Als wir dir das erste Mal auf die Schulter klopfen konnten, hast du schon mit Yugi gekuschelt. Und als wir dich endlich umarmen konnten, hatte Yugi schon Sex mit dir. Von Anfang an war es immer Yugi, der dir nahe kommen konnte.“

„So einfach war das für mich nicht …“

„Aber es war einfacher als bei anderen“ präzisierte er. „Vielleicht lag es genau daran, weil Yugi so weich und freundlich aussah. Du hast dich von ihm niemals bedroht oder beengt gefühlt. Du wusstest von Anfang an, dass du ihm körperlich überlegen bist und konntest seine Nähe vielleicht genau deshalb zulassen.“

„Ich bin ihm körperlich nicht überlegen. Überhaupt nicht“ gab er beschämt zur Protokoll. „Er muss mich nur richtig anfassen und ich falle um wie ein gefällter Baum. Niemand hat mich mehr in der Hand als er.“

„Doch das habt ihr nicht gewusst, bevor ihr euch nahe gekommen seid. Erst als du seine Nähe zugelassen hast, habt ihr erkannt, wie du funktionierst. Und da hattest du dich schon in ihn verliebt. Ich glaube, du hast dich einfach an Yugi gewöhnt. Du brauchst nicht nur mentale Sicherheit von ihm, sondern auch körperliche. Du kennst Yugis Körper und du hast gelernt, ihn zu lieben und diese Liebe zuzulassen. Und ich wage die These, dass dich Yugis körperliche Veränderung vor allem mental verwirrt.“

„Ich bin nicht verwirrt. Ich kann dir ganz genau erklären, wie Yugis Körper aufgebaut ist.“

„Ich meine nicht dein rationales Urteilsvermögen. Ich meine dein Unterbewusstsein. Dein Unterbewusstsein kannst du nicht beeinflussen. Du hast gelernt, mit Yugis Körper zu kommunizieren, doch nun spricht er plötzlich eine andere Sprache als die, welche du gelernt hast. Dein Kopf sagt dir, dass es noch immer derselbe Yugi ist. Derselbe Yugi, den du liebst, dem du vertraust und den du begehrst. Doch dein Unterbewusstsein sagt dir, dass da eine ganz ostentative Veränderung vorliegt und mahnt dich zur Vorsicht. Weil eine extreme Vorsicht ein Teil deines Wesens ist. Und dieser Ekel, den du empfindest, ist etwas, was dein Kopf nicht erklären kann. Dein Unterbewusstsein ekelt sich, weil es die Signale, die von Yugis Körper ausgehen nicht mehr deuten kann.“

„Aber ich liebe Yugi“ bestand er fest darauf und sah Noah an, wurde unsicher. „Oder zumindest glaube ich das.“

„Seto, ich habe einen Freund in Indien. Jeevan. Jeevan leitet unsere Sozialprojekte im nördlichen Umland von Mumbay.“

„Ich kenne Jeevan.“

„Umso besser. Seine Eltern haben ihm eine Braut ausgesucht, die genau seinen Präferenzen entspricht. Sie ist wunderschön. Sie hat eine dunkle Haut, glänzend schwarzes Haar, rehbraune Augen und eine wirklich traumhafte Figur. Außerdem ist sie intelligent und ihm intellektuell gewachsen. Sie haben dieselben Vorlieben für Musik, denselben Humor und dieselbe Weltanschauung. Sie können sich stundenlang unterhalten und er ist überaus gern mit ihr zusammen. Ich habe sie kennen gelernt. Sie ist eine echte Ausnahmefrau, ein bezaubernder, faszinierender, begehrenswerter Mensch.“

„Aber?“

„Aber er liebt sie nicht. Er fühlt sich zwar emotional, aber nicht körperlich zu ihr hingezogen. Er kann es sich nicht erklären, denn alles ist perfekt. Alles ist wie er es sich gewünscht hat. Jeevan konnte mir nicht mal erklären, was anders sein sollte. Fakt ist aber, dass er sich nicht erotisch zu ihr hingezogen fühlt. Objektiv betrachtet ist sie eine wunderschöne Frau, aber er begehrt sie nicht.“

„Das hat mit meinem Problem wenig zu tun.“

„Das denke ich nicht. Denn er hat vor drei Monaten eine andere Frau kennen gelernt und sich verliebt. Sie ist arm und lebt in einem Slum, der von ihm betreut wird. Ihr Geld verdient sie, indem sie in der Stadt kleine, selbstgemachte Tuchstrickereien an Touristen verscherbelt. Sie ist Analphabetin und gut zwanzig Kilo zu dick. Sie ist all das, wovon er niemals geträumt hat und all das, was seine Familie niemals für ihn wollte. Aber aus irgendeinem Grunde fühlt er sich zu ihr hingezogen. Bei ihr hat er das Gefühl, dass einfach alles stimmt. So ist Liebe nun mal.“

„Du meinst also, ich liebe Yugi nur solange er ‚hässlich‘ ist?“

„Nein, das will ich nicht sagen. Ich will nur sagen, dass der Kopf und das Herz allein nicht über Zu- oder Abneigung entscheiden. Eine reine Kopfliebe macht dich kaputt. Eine reine Herzliebe zerfrisst dich. Wichtig ist, dass du all deine Bedürfnisse berücksichtigst. Denn es ist auch der Körper, der sein Recht einfordert. Und ob du es wahrhaben willst oder nicht, auch du hast körperliche und vor allem sexuelle Bedürfnisse. Und nur wenn dein Kopf, dein Herz und dein Körper einen Kompromiss finden, im besten Falle sogar alle dasselbe begehren, nur dann fühlt sich deine Liebe erfüllt an.“

„Noah …“ Er legte die Stirn in die Hand und seufzte tief. Spätestens jetzt kam er nicht mehr mit. Er verstand nicht, worauf Noah hinauswollte. „Ich habe Angst, dass ich Yugi nicht mehr liebe. Ich meine, der Körper allein darf doch nicht über Zu- oder Abneigung entscheiden. Die Liebe im Herzen ist doch viel wichtiger.“

„Ja, vielleicht. Aber wenn Moki ein Mädchen wäre, würde ich mich wahrscheinlich sexuell wenig zu ihm hingezogen fühlen. Ich müsste erst versuchen, meinen Kopf, mein Herz und auch meinen Körper in Einklang zu bringen. Entweder müsste ich eine Beziehung ablehnen oder ich müsste versuchen, mich an den weiblichen Körper zu gewöhnen. Ich müsste erst lernen, ihn als Mädchen anziehend zu finden. Und ich bin ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Ich glaube, du hast dich auch deshalb in Yugi verliebt, weil diese Vorliebe für kleinere Männer schon immer in dir war. Vielleicht ist es dir nie so bewusst geworden, aber du liebst Yugi nicht nur auf mentaler, emotionaler, sondern auch auf einer sexuellen Ebene. Und nun wo du dich sexuell nicht mehr zu ihm hingezogen fühlst, gerät dein Liebesgefühl aus den Fugen. Und gerade ein, entschuldige bitte den Ausdruck, ein Sensibelchen wie du reagiert auf so etwas sehr empfindsam. Das ist es, was ich vermute.“

„Aber ich fühle mich so verlogen“ zagte er noch immer. „Yugi war immer für mich da. Egal, ob ich abgemagert war, verletzt, high oder sterbenskrank. Er hatte niemals eine Barriere, er hat mich immer bedingungslos geliebt. Auch körperlich. Es ist doch meine Pflicht, dasselbe für ihn zu empfinden.“

„Gefühle und Begierden unterliegen keiner Pflicht, mein Brüderchen. Man kann sie haben, manchmal kann man sie auch lernen. Aber man kann sie nicht erzwingen. Wenn du dich zwingst, Yugi zu begehren, setzt du dich selbst einem Druck aus, dem du nicht standhalten kannst. Yugi ist erst zwei Tage so verändert und du bist schon am Ende deiner Kräfte. Wie willst du das durchhalten?“

„Ich weiß es nicht … ich muss es einfach.“

„Hast du mit Yugi darüber gesprochen?“

„Nein … das kann ich nicht.“

„Das solltest du aber“ bat er intensiv und versuchte ihm in die Augen zu sehen. „Yugi hat ein Recht darauf, dass du ehrlich zu ihm bist. Wenn Yugis Körper ein Problem für dich ist, ist das euer beider Problem.“

„Nein … es ist nur mein Problem.“

„Das denke ich nicht. Was willst du tun, wenn er mit dir schlafen will? Das funktioniert doch so nicht.“

„Doch, es funktioniert“ flüsterte er schuldbewusst. „Ich habe schon mit ihm geschlafen.“

„Ja, aber ich meine, mit diesem Körper. Wenn du dich nicht zu ihm hingezogen fühlst, kannst du nichts erzwingen. Wenn er dich nicht erregt, kannst du nichts tun.“

„…“

„Seto, du musst mit ihm reden.“

„Ich habe ihm was vorgespielt“ gestand er mit bodengewandtem Blick.

„Du hast …?“ Jetzt kam Noah ausnahmsweise mal nicht ganz mit. „Was genau hast du ‚vorgespielt‘?“

„Er hat nichts gemerkt“ hauchte er und wurde immer leiser. „Ich habe mich nicht berühren lassen. Ich habe nur so getan als ob ich einen Orgasmus hätte und habe ihm nur meinen Rücken gezeigt. Ich habe ihm was vorgespielt.“

„Du hast Yugi einen Orgasmus vorgespielt?“ Das war nicht wahr! Das konnte nicht wahr sein! „Ich habe schon gehört, dass Frauen so etwas tun, aber Männer … ich meine … entschuldige, wie gaukelt man eine Ejakulation vor?“

„Indem man so tut als bräuchte man ein Taschentuch …“

„Du bist kreativer als ich dachte.“ Er pustete in die Luft und lehnte sich geschafft im Stuhl zurück. Seto hatte Yugi einen Orgasmus vorgespielt. Das sollte ihm mal jemand nachmachen. „Glaubst du, dass das richtig war?“

„Ihn anzulügen, ist nicht richtig. Das weiß ich auch“ stritt er mit zitternder Stimme von sich. „Aber ich kann ihm das nicht kaputt machen. Endlich geht sein größter Wunsch in Erfüllung und … und … ich … er hat doch ein Recht darauf. Nach allem, was er für mich getan hat, hat er ein Recht darauf, dass ich dasselbe für ihn tue.“

„Ich glaube nicht, dass er glücklich darüber wäre.“

„Aber ich musste es tun!“ Seto schlug den Kopf herum und verteidigte sich nach Worteskräften. So bitter, dass die Entenmama ihn warnend anquakte und ihre Kleinen ins Wasser trieb. „Du hast nicht gesehen wie glücklich er war! Seine Augen haben gestrahlt und er war so zufrieden wie noch nie! Sein größter Wunsch ist ihm endlich erfüllt worden! Er hat so viel für mich getan und er hat es nicht verdient, dass ich mich … dass ich mich ziere! Ich muss ihn doch auch glücklich machen!“

„Aber Seto“ bat Noah sanfter. „Liebe und Sex sind keine Pflichten. Du solltest mit ihm schlafen, weil ihr es beide wollt. Und nicht weil du dich dazu verpflichtet fühlst.“

„Aber er hat es verdient, glücklich zu sein!“

„Glaubst du, er wäre glücklich, wenn er wüsste, dass du beim Gedanken an ihn das Kotzen kriegst?“

Nun blieben Seto alle Rechtfertigungen und alle Erklärungen im Halse stecken. Natürlich wäre Yugi nicht glücklich und das wusste er auch. Aber dennoch … dennoch … er hatte es verdient, glücklich zu sein.

„Seto, du machst viel mehr kaputt als du bewahrst“ bat Noah und lehnte sich zu ihm. Nur mit dem Ergebnis, dass Seto zurückwich. „Beim Sex ist Vertrauen eine unverzichtbare Grundlage. Wie soll er dir vertrauen, wenn du ihm etwas vormachst?“

„Ich schaffe das schon noch. Ich kriege das hin.“

„Bitte sei vernünftig“ beschwor er und legte die Hände auf die, nachdem Seto seine Arme fortzog, leere Stuhllehne. „Du machst es nur schlimmer. Du bist doch jetzt schon völlig fertig. Wie stellst du dir vor, soll es weitergehen?“

„Ich schaffe es schon noch.“

„Was denn? Was willst du denn schaffen?“

„Ihn erotisch zu finden. Ich werde mich daran gewöhnen und es lernen.“

„Das ist natürlich sehr ehrenvoll von dir“ seufzte er und nahm die Hände wieder zurück. Er wollte ihn ja nicht bedrängen. „Aber glaubst du nicht, dass dein Mann ein Recht darauf hat, darum zu wissen? Wenn du wirklich daran arbeiten willst, dann hat er ein Recht darauf, mit dir gemeinsam zu arbeiten.“

„Aber … aber …“ Er senkte den Blick und die Stimme. Er wusste ja selbst nicht wirklich, wie es weitergehen sollte. Er wusste nur: „Yugi wäre enttäuscht von mir. Nach allem, was er für mich getan hat, reicht meine Liebe nicht mal, um über seinen Körper hinwegzusehen. Das hat er nicht verdient.“

„Wenn deine Liebe nicht reichen würde, fiele dir das alles hier nicht so schwer.“

„Aber ich liebe ihn doch. Wie kann ich mich da vor ihm ekeln?“

„Verzeih, wenn ich das so direkt sage“ bat Noah und versuchte, möglichst einfühlsam zu klingen. „Ich glaube, du bist zu weit gegangen. Anstatt dich an Yugis Veränderung zu gewöhnen, hast du dich selbst erniedrigt und eine Lüge aufgebaut, die du kaum aufrechterhalten kannst. Du hast dich selbst sabotiert und in eine Notlage gebracht.“

„Danke, das hilft mir sehr.“

„Du solltest mit Yugi darüber sprechen“ insistierte er und fasste seine Hand. Er musste endlich zu ihm durchdringen. „Bitte Seto, du machst dich kaputt. Nichts hat Yugi weniger verdient als das.“

„Was weißt du schon?“ Er zog seine Hand zurück und stand vom Stuhl auf. „Du weißt nicht, wie es ist, so sehr in der Schuld eines anderen zu stehen! Es ist meine Pflicht, alles für Yugi zu tun. Auch wenn es mich selbst schädigt.“

Noah atmete tief, wollte sich nicht auch noch zu Überreaktionen hinreißen lassen. „Aber du schädigst nicht nur deine Seele, mein Brüderchen. Du schädigst Yugis Vertrauen in dich, wenn du ihn belügst.“

„Und genau deshalb muss ich alles tun, um ihn glücklich zu machen.“

„Du hast dich da in etwas verrannt. Du machst Yugi nicht glücklich, indem du ihm etwas vorspielst, was gar nicht da ist. Wenn du Yugi wirklich liebst, dann hat er vor deiner Leidenschaft vor allem deine Ehrlichkeit verdient. Selbst wenn du dich dafür entscheidest, seinen neuen Körper lieben zu lernen, so schaffst du das nicht mit erzwungenem oder vorgetäuschtem Sex. Das schafft ihr nur gemeinsam. Durch sanfte Berührungen, durch Vertrauen und viel Geduld. Du zäumst das Pferd von der falschen Seite auf, Seto.“

„Ich bin es Yugi schuldig, ihn sein Glück genießen zu lassen. Ich darf ihm das jetzt nicht kaputtmachen! Verstehst du das nicht?“

„Doch, ich verstehe dich. Aber je länger du ihn belügst, desto auswegloser wird deine Situation. Ich kenne dich und ich weiß, dass du diesem Druck nicht standhältst. Du provozierst etwas, was vermeidbar wäre.“

„Das war nicht das, was ich hören wollte“ sagte er mit kalter Stimme. „Ich werde lernen, Yugi zu begehren und seinen neuen Körper so zu lieben wie seinen alten. Das und nichts anderes hat er verdient. Das bin ich ihm schuldig.“

„Seto, bitte höre auf mich. Ich bitte dich.“ Er stand auf, ging langsam den einen Schritt auf ihn zu und hielt ihm unbedrohlich die Hände entgegen. „Du musst mit Yugi sprechen. Bitte.“ Er kam direkt vor ihm an und bat ihn ins Antlitz. „Du machst dich kaputt und Yugi auch. Bitte sprich mit ihm. Wenn du es nicht kannst, dann tue ich es.“

Doch Seto beugte sich mit verengten Augen zu ihm herunter und zischte ihm ins Gesicht. „Wehe du sagst ihm auch nur ein Sterbenswort. Wenn du ihm auch nur etwas andeutest, lernst du mich kennen, Noah.“

Und dem blieb nun seinerseits alles im Halse stecken. „Du drohst mir?“

„Das ist eine Sache zwischen Yugi und mir. Und wenn du dich da einmischst …“

„Du bist doch zu m i r gekommen, Seto. Du bist derjenige, der meinen Rat hören wollte.“

„Deinen Rat vielleicht, aber deine Hilfe brauche ich nicht. Also halte dich zurück, bevor ich mich vergesse, klar?“

„Seto, habe ich jemals etwas ausgeplaudert, was du mir anvertraut hast?“ So langsam bekam Seto schon Angst vor den falschen Leuten.

Er versetzte Noah noch einen letzten, kalten Blick und verließ dann die Terrasse, das Büro und das Gebäude. Und hinterließ einen sehr zwiegespaltenen Ratgeber. Er liebte Seto über alles … doch in diesem Moment fürchtete er ihn zum ersten Mal …
 


 

Chapter 43
 

Yugi kam gerade die Treppe hinauf und fand Seto in einem angeregten Gespräch mit seinem kleinen Bruder. Nicht nur, dass er die Worte „Studium“, „Uni“ und „Zuhause“ hörte, verwunderte ihn, sondern vor allem, dass Seto zuhause war. Es war gerade mal elf Uhr am Vormittag und er hatte ihn erst zum Mittagessen erwartet. Zumal er ihm gestern Abend und heute Morgen so aus dem Wege gegangen war.

„Guten Tag die Herren“ grüßte er verwundert und sah Seto an. „Was treibt dich denn hier her?“

„Du. Was sonst?“ Er lächelte, beugte sich das erstaunlich kurze Stück herab und küsste ihn. Nicht weich und kurz, sondern richtig saftig, sodass Yugi fast den Wäschekorb hätte fallen lassen.

„Wow!“ keuchte er und taumelte gegens Treppengeländer. „Wie bist du denn drauf?“

„Habe ein gutes Geschäft abgeschlossen. Jetzt bin ich auch wieder besser gelaunt.“

„Aha … und worüber habt ihr eben gesprochen?“

„Darüber, dass ich einen Brief von der Uni bekommen haben“ erzählte Mokuba mit besorgtem Blick. „Wenn ich weiter Student bleiben will, soll ich vor Ort eine mündliche Zwischenprüfung ablegen.“

„Warum das denn? Ich dachte, das mit dem internationalen Studiengang wäre geklärt.“

„Ist es im Grunde auch. Aber Mokeph und ich haben uns seit den Semesterferien zu Weihnachten in keiner Uni mehr blicken lassen. Und im Gegensatz zu meinem Yami habe ich gar keine Hausarbeiten abgeliefert.“

„Jetzt macht sich deine Faulheit doch bemerkbar“ versetzte Seto.

„Danke für die Aufbauarbeit, großer Bruder.“

„Kein Problem.“

„Aber hier in Blekinge gibt es doch auch eine Uni“ meinte Yugi. „Warum kannst du da nicht eine Zwischenprüfung machen?“

„Weil ich nicht eine einzige Vorlesung besucht habe und die Profs mich gar nicht kennen. Wenn ich nicht vor Semesterende nach Domino reise, werde ich exmatrikuliert. Es ist eh nur Noah zu verdanken, dass ich trotz meines unzureichenden NC zum Studium zugelassen wurde. Wenn Mokeph und ich da rausfliegen, ist das echt scheiße. Und ich stehe noch höher auf der Abschussliste als er.“

„Dann flieg doch nach hause, mach die Prüfung und komm zurück.“

„Das an sich ist ja auch nicht sein Problem“ erklärte Seto. „Aber er hat nicht eines seiner Bücher angefasst.“

„Doch, ab und zu habe ich schon mal reingeguckt“ verteidigte er sich. Wenn auch etwas schwach. „Mokeph schafft die Prüfung ja vielleicht sogar. Aber ich … ich falle da garantiert durch.“

„Weil du faul warst.“

„Ja, ich weiß. Danke, Seto.“

„Tja, Moki“ musste da auch Yugi mitleidig lächeln. Das hatte er nun davon. Er wollte unbedingt Arzt werden, um genau zu sein medizinischer Wissenschaftler, aber dafür musste er eben auch etwas mehr tun als nur mal Post-Its in Bücher kleben. Mokeph hatte zwischendurch wesentlich mehr fürs Studium getan als er. Und das obwohl sein Yami zwei Kinder mehr und eine wütende Ehefrau hatte.

„Eigentlich reicht es ja, wenn Mokeph hingeht“ schmunzelte er zu schelmischen Gedanken aufkeimend. „Ich gebe ihm meinen Haarglätter und meinen Ausweis und niemand merkt den Unterschied.“

„Nur deine Patienten merken später den Unterschied.“

„Du verstehst auch gar keinen Spaß, was?“ guckte er dunkel an Seto hoch. Auch wenn das nur zur Hälfte ein Spaß gewesen war …

„Sprich am besten mit Noah“ riet Yugi. „Er kennt sich bei diesen universitären Organisationssachen am besten aus und soweit ich weiß, hat er doch ganz gute Kontakte unter den Professoren. Und den einen Tag können wir dich sicher auch entbehren und danach kannst du hier weiter studieren. Ich meine, wer weiß wie lange wir hier noch festsitzen?“

„Irgendwie will ich ja schon wieder nach hause“ gab er zu. „Blekinge ist zwar eine schöne Stadt und auch nicht gerade klein, aber Domino ist mir irgendwie doch lieber. Ich vermisse meine Freunde und Opa.“

„Ja, Opa vermisse ich auch“ seufzte Yugi. „Ich habe ihn gefragt, ob er zu meinem Geburtstag in zwei Monaten nicht herreisen will, aber da ist in Domino gerade Ferienende und im Laden viel los.“

Und was im Gegensatz zu Yugi und Seto alle wussten: Opas Rücken war kaputt. Der Alte konnte sich kaum bewegen, geschweige denn eine so weite Reise auf sich nehmen. Noah hatte ihm einige vertrauenswürdige Männer und Frauen aufgedrängt, welche im Laden halfen und ihm auch eine sehr gute Krankengymnastin verpflichtet. Doch wenn Yugi erfuhr, dass sein Großvater im Krankenhaus gelegen hatte, würde er vor Sorge keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Und dasselbe galt für Seto. Also entsprachen alle Mitwisser Opas Wunsch und verschwiegen sein Gebrechen. Schweren Herzens und nicht ganz reinen Gewissens.

„Wir werden deinen Geburtstag auch so gebührend feiern“ munterte Mokuba ihn lieber auf. „Das letzte Mal, dass du eine zwei im Alter hast. Das Jahr drauf wirst du schon 30.“

„Ja, da biste neidisch, was?“ schlug Yugi zurück. „Jetzt sehe ich endlich so alt aus wie ich bin.“

„Ich sehe auch aus wie 26.“

„Nur benimmst dich nicht so“ kommentierte Seto.

„Was bist du gehässig heute, Großer“ schaute Mokuba ihn beleidigt an.

„Ich will nur, dass mal mehr aus dir wird als Noahs Anhängsel. Wenn du Mediziner werden willst, musst du jetzt bald mal Gas geben, Kleiner.“

„Ich setze mich keinem Druck aus. Das gibt nur Falten. Und das ist medizinisch sogar erwiesen“ meinte er und schnalzte über die Schulter. „Ich fahre weg, wer will mitkommen?“

„Mau!“

„Mauwau!“

„Miiiaaaauuuu!“

Drei mal vier Samtpfötchen liefen aus verschiedenen Ecken herbei. Zuerst Happy Birthday, welche aus Mokubas Schlafzimmer kam. Dann Happy End, welche vom Fenstersims des Flures herunterhüpfte. Und Happy Eastern, welcher die Treppe heraufsprang.

„Kommt, wir fahren Tjergen besuchen.“

„Ihr habt euch wohl doch noch richtig gern, was?“ stellte Yugi fest.

„Tjergen ist okay“ erwiderte Mokuba. „Ich finde ihn faszinierend und außerdem glaube ich, dass wir auf einer Welle liegen. Und ich glaube, er braucht auch mal einen Freund, der mit ihm und nicht mit seinem Beruf befreundet ist.“

„Warum auch nicht? Gleich und gleich gesellt sich gern, oder?“

„Na klar. So, Pfötchenarmee, auf zum Wagen!“

„Maauuuaaa!“

„Miiaauu!“

„Maunz!“

Und so tobten sie zu viert die Treppe herunter, Katzenhauptmann Mokuba und seine drei Kuschelsoldaten.

„Diese Katzen sind mehr Hund als Katz“ schüttelte Yugi den Kopf.

„Das sind die Siamgene“ meinte Seto und nahm ihm den Wäschekorb ab. „Du wolltest mit mir sprechen?“

„Ähm ja. Komm rein, Liebling.“ Zwar freute Yugi sich über die ausgesprochen gute Laune, jedoch konnte er auch die Wegschleichsache und die Tablettengeschichte nicht beiseite schieben. Dies bedurfte Klärung, am besten unter vier Augen.

Sie gingen ins Zimmer, Yugi schloss die Tür und Seto setzte den Korb mit der sauberen Wäsche auf dem Bett ab. Um eine möglichst entspannte, beiläufige Stimmung beizubehalten, nahm Yugi eine kleine Jeanshose aus dem Korb und begann die Sachen zusammenzulegen. Seto setzte sich aufs Bett und sah ihm zu. Tatos Jeans, ein Shirt und noch ein Shirt begannen den ersten Haufen. Ein rosa Kleidchen und zwei Schlüpfer den zweiten. Setos Haufen zählte nur erst mal zwei Hosen, dann kamen noch ein paar von Tatos Sachen.

„Tato ist ein ganz schöner Dreckspatz, oder?“ bemerkte Seto.

„Genau wie Jungs sein sollten“ lächelte Yugi. Noch länger nachzudenken, würde nichts bringen. Er musste seinem Mann auf den Zahn fühlen. „Was hast du denn für ein gutes Geschäft abgeschlossen, dass du so früh zurück bist?“

„Das würde dich nur langweilen. Viel interessanter, dass Maximilion uns nächste Woche besuchen will.“

„Pegasus kommt nach Blekinge?“

„Mitsamt seiner neuen Vorstände. Ich habe nicht so viel Lust darauf, aber Noah meinte, wir sollten seine Leute mal kennenlernen und auch sehen wie er so drauf ist. Es ist jetzt ne ganze Weile her seit wir uns persönlich getroffen haben.“

„Ist das auch der Grund, weshalb du gestern so müde und heute so früh weg warst?“

„Ja, so halb. Die Ereignisse haben sich etwas überschlagen, aber jetzt habe ich genug Zeit für dich.“ Er lächelte Yugi an und der besah sich dieses Lächeln sehr skeptisch. Seto wirkte ehrlich und erstaunlich entspannt. Hätte er gestern die Tabletten nicht gefunden, würde er ihm sogar glauben.

Also versuchte er sich an einer kleinen List. „Schau mal“ zeigte er und zog eine schwarze Stoffhose aus dem Korb. „Die Hose hattest du erst gestern an und schon ist sie wieder sauber und trocken. Was sagst du dazu?“

„Gute und schnelle Arbeit, Mr. Muto“ lobte er in Arbeitgebermanier. „Sie haben sich ihren Halbjahresbonus verdient. Und eine Belobigung, wenn Sie sie zudem noch bügeln.“

„Aha.“ Kein Anzeichen von schlechtem Gewissen oder davon, dass er irgendetwas vermisste. „Kann ich dich mal etwas fragen?“

„Kannst es ja mal versuchen.“

„Ich untersuche ja immer die Taschen der Kleidung, bevor ich sie wasche“ begann er und legte beiläufig die Hose zusammen. „Und bei dir habe ich gestern etwas gefunden.“

„Oh, das tut mir leid“ bat er und zog die Augenbrauen zusammen. „Habe ich schon wieder Taschentücher stecken lassen?“

„Nein, nicht direkt.“ Nach der Hose griff er sich Ninis Strumpfhose. „Ich habe Schlaftabletten in deiner Hosentasche gefunden.“

„Ach die. Die habe ich ganz vergessen.“

Er stritt es nicht ab? Das wunderte Yugi jetzt ein wenig. Okay, eine Tatsache abzustreiten, wäre ohnehin vergeblich, aber Seto wirkte nicht einmal beunruhigt. Ganz im Gegenteil, er wirkte fast gruselig gut gelaunt.

„Okay … Liebling, woher hast du denn die Tabletten?“

„Die habe ich mir vom Arzt verschreiben lassen.“

„Du warst beim Arzt?“

„Ja, Freitagabend. Entschuldige, das muss irgendwie in der Hektik untergegangen sein. Ich dachte, ich hätte es dir schon erzählt.“

„Erzählt? Was denn?“

„Ich stand ziemlich unter Stress. Die Sache mit Sethos und dann diese Dinge, die auf mich einprasseln. Manchmal bin ich wie gelähmt und komme nicht von der Stelle. Wie bei einer Panikattacke. Worüber wir schon gesprochen haben.“

„Okay. Und weiter?“

„Ich war beim Arzt und er hat meine Krankenakte aus Domino angefordert. Ich habe ihm gesagt, dass ich wieder vermehrt an Panikkrämpfen und Alpträumen leide und er verschrieb mir diese Beruhigungsmittel.“

„Da fehlten schon drei Tabletten.“

„Eine habe ich noch am Freitag genommen. Eine am Montag und gestern Mittag die letzte. Ich werde mir wohl auch wieder einen Psychiater hier in Blekinge suchen.“ Und lachend setzte er hinzu: „Auch wenn ich noch nicht weiß, was ich ihm für eine Geschichte auftischen soll.“

Yugi sah ihm in die Augen und legte das hellgrüne Kleid aus der Hand. Er ging um die Bettecke herum und setzte sich neben Seto. Hörte aber nicht auf, ihn anzusehen.

„Was ist?“ So langsam wurde er misstrauisch. „Du guckst so komisch.“

„Ich glaube dir kein Wort“ eröffnete er ernst. „Du gehst zum Arzt, nimmst Tabletten, willst dir einen Psychiater suchen und sagst mir überhaupt nichts?“

„Weißt du, es war so viel los und …“

„Ich hasse es, wenn du lügst“ unterbrach er mit harter Stimme. „Hältst du mich für blöde oder so?“

„Yugi, ich …“

„Und jetzt will ich die Wahrheit hören, Seto. Woher kommen die Tabletten wirklich?“

„Vom Arzt. Sage ich doch. Ich habe nur vergessen, dir etwas zu sagen. Ich dachte, ich hätte es dir schon erzählt.“

„Du vergisst so etwas nicht“ hielt er sehr ernst dagegen. „Wenn du es mir nicht erzählt hast, wem hast du es dann erzählt?“

„Ähm …“ Das erste Zögern. Aber er durfte nicht zögern. Er durfte sich seine Ruhe nicht nehmen lassen. „Noah habe ich es gesagt. Aber er sagt so was nicht weiter. Ich meine … das ist ja nichts, womit man hausieren geht.“

„Noah also, ja? Und wenn ich Noah jetzt anrufe, würde er diese Geschichte bestätigen?“

„Glaubst du mir etwa nicht?“

„In dieser Hinsicht nicht. Dafür kenne ich dich zu gut.“ Er stand wieder auf, sah Seto durchdringend an und machte sich zurück an den Wäschekorb. Er wusste, dass ihm hier eine Lüge aufgetischt wurde. Er wollte Seto vertrauen, er wollte ihm glauben, aber alles in ihm läutete Alarmglocken.

„Yugi, ich nehme nicht unkontrolliert irgendwelche Tabletten“ legte er für sich selbst ein gutes Wort ein. „Darüber bin ich hinweg. Das ist alles ärztlich kontrolliert.“

„Dann würde ich diesen Arzt gern kennen lernen. Bisher habe ich immer mit deinen Ärzten gesprochen. Mir ist wohler, wenn ich weiß, wem du Einblick in dein Seelenleben gewährst.“

„Das hat ja mit Seelenleben nichts zu tun. Das ist nur ein normaler Hausarzt. Er hat mir die Tabletten nur einmalig gegen die Krämpfe verschrieben und gesagt, ich solle mich wieder in Behandlung begeben. Ich habe sogar eine Überweisung im Büro liegen.“

„Na ja, dann kann ich diesen normalen Hausarzt doch sicher auch kennen lernen, oder?“ fragte er genauer nach. „Wo bist du denn hingegangen? Zu Doktor Larsson?“

„Nein zu … zu Doktor Muwambi Kassandri Dowamba Misaringe. Das ist ein afrikanischer Arzt.“

„Den Namen kann ich mir ja kaum merken.“

„Reicht doch, wenn ich ihn erinnere“ lächelte er und fühlte sich auf der sicheren Seite. Je komplizierter es wurde, desto weniger würde Yugi nachforschen können.

„Aber so viele afrikanische Ärzte gibt es in Blekinge ja sicher auch nicht. Ich frage einfach Arnor, wo der ist.“

„Ähm … der hat seine Praxis aber Montag geschlossen.“

„Na ja, heute ist Mittwoch.“

„Nein, ich meine er hat sie am Montag für immer geschlossen. Er hat sie aufgegeben.“

„Ach!“ Na, was für eine Überraschung. „Warum?“

„Das war nur ein internationaler Austausch. Er geht jetzt zurück nach Mosambik.“

„Er macht eine Praxis auf und kaum bist du in Behandlung, wandert er aus?“

„Vielleicht habe ich ihn ja erschreckt“ lachte er und kratzte sich verlegen am Kopf.

Doch Yugi reichte es jetzt. Er schmiss Tatos Socken zurück in den Waschekorb und ballte die Fäuste. Er musste sich sehr beherrschen, um nicht laut zu schimpfen und Seto damit zu verschrecken.

„Was ist? Ist dir nicht gut?“

„Ich koche vor Wut“ erklärte er mit gezügelter Stimme. „Du tischst mir hier eine Lüge nach der anderen auf und erwartest, dass ich das schlucke. Was ist los mit dir?“

„Gar nichts“ verharmloste er. „Du machst dir wieder viel zu viele Sorgen. Das führt doch zu nichts.“

„Und wenn ich mich nicht sorge, führt es dich irgendwann wieder in einen geschlossenen Entzug. Ich kenne dich und ich weiß, wie verdammt leicht du in Abhängigkeiten rutschst.“

„Ich weiß. Aber du übertreibst.“

„Was habe ich getan, dass du mich so dermaßen verarschst?“ fragte er und vor Wut stiegen ihm die Tränen in die Augen. „Ich war immer fair zu dir, ich habe dir immer geholfen und immer versucht, Verständnis zu zeigen. Ich mache alle deine Merkwürdigkeiten mit und verteidige dich vor bösen Stimmen. Ich bin immer geduldig und ruhig. Was läuft schief, dass du jetzt wieder anfängst, zu lügen?“

„Yugi, ich lüge nicht. Du weißt doch, dass die Wahrheit manchmal abstruser ist als jede Lüge.“

„Gut, dann nimm deine Jacke“ forderte er auf, drehte sich um und nahm seine neuen Schuhe in die Hand. „Wir fahren jetzt zur Handelskammer, da sind alle Einrichtungen in Blekinge verzeichnet. Und da zeigst du mir dann diesen afrikanischen Arzt.“

„Der wird da nicht mehr drinstehen. Der ist doch weg.“

„Aber in der Historie können wir ihn finden, meinst du nicht?“

„Wir haben doch Mittwoch. Mittwochs hat die Handelskammer früh geschlossen.“

„Hörst du dir eigentlich zu, Seto? Du findest auf alles eine Ausrede.“

„Ich rede mich nicht raus. Aber du beschuldigst mich hier, dass ich lüge und wirfst mir uralte Geschichten vor. Das ist nicht viel besser, Yugi. Du bist ziemlich unfair!“

„Okay, ich will mich nicht streiten.“ Er schlüpfte dennoch in seine Schuhe und blickte Seto dann ernst an. „Ich fahre jetzt ins Aquarium. Ich möchte, dass du hier in der Nähe bleibst und wenn ich in etwa zwei oder drei Stunden wieder zurück bin, möchte ich, dass du in dich gegangen bist und wir dann noch mal ehrlich miteinander sprechen. Bitte überlege dir, ob du deine Behauptungen aufrecht erhalten möchtest oder nicht.“

„Aber Yugi! Ich lüge nicht!“

„Wie dem auch sei“ sprach er ernst weiter. „Ich werde auch nicht nachprüfen ob du die Wahrheit sagst oder nicht. Ich glaube dir einfach. Weil ich dich liebe und weil ich dir vertrauen will. Aber wenn du mich trotzdem anlügst, musst du damit leben, dass du mir etwas ganz, ganz, ganz schlimmes antust.“

Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
 

Und damit saß Seto allein auf dem Bett und fragte sich: „Was habe ich denn falsch gemacht?“ Doch diese laute Frage zielte weniger darauf ab, weshalb er Yugi weiter angelogen hatte, sondern eher darauf, weshalb der ihm diese Lüge nicht abgekauft hatte. Seto hatte sich zusammengerissen und ihm trotz seines schmerzenden Magens und des Würgereizes einen möglichst innigen Kuss gegeben. Er hatte sich um ein Lächeln bemüht, um gute Laune und eine ruhige Stimme. Was bitte hatte er falsch gemacht, dass Yugi ihm misstraute? War er zu fröhlich? Zu viel gelächelt? Irgendwo musste der Fehler liegen …

Als nächstes fragte er sich: „Was mache ich jetzt?“ Er stand auf und lief mit wenigen Schritten zur Badezimmertür. Dort drehte er um und lief um die Couch herum zum Fenster, blickte hinaus. Die Straße war ruhig, nur ein paar Passanten mit Einkaufstüten und eine Gruppe Schuljungs, welche an der Straßenbahnstation warteten. Er drehte sich um und ging an Tatos Zimmertür vorbei, an Ninis Zimmertür vorbei und zum Badezimmer und zurück zum Fenster. Doch es wollte ihm keine Idee kommen, was er nun tun sollte.

Yugi ahnte, dass etwas im Busch war. Es mussten die Tabletten gewesen sein, die ihn alarmiert hatten. Er hätte sie nicht in der Hose stecken lassen dürfen. Er wusste doch, dass Yugi die Kleidung vor dem Waschen durchsuchte. Wie konnte er nur so dumm sein und das vergessen? Nein, er hatte es eigentlich nicht vergessen, aber es fehlte die Zeit. Mit bereits betäubtem Kopf darauf zu warten bis Yugi aus dem Zimmer raus war, sich dann schnell hereinschleichen, den Pyjama anziehen und ins Bett gehen, bevor Yugi ihm ein Gespräch, einen Kuss oder noch mehr abforderte. Sein Kopf war einfach zu müde gewesen, um noch an solch eine Kleinigkeit zu denken. Hätte er die Tabletten einfach zwischen den Akten versteckt, würde er jetzt nicht in diesem Salat stecken.

„VERDAMMT!“ Er schlug den Kopf an die Wand und biss die Zähne zusammen. Er durfte Yugi nichts sagen. Er musste sich ganz schnell eine andere Geschichte einfallen lassen. Alles, nur nicht die Wahrheit. Was sollte er denn auch sagen? Dass er ihn eklig fand? Dass er ihn nicht berühren wollte? Dass er ihn weder ansehen, noch hören konnte? Dass er Angst bekam bei jeder seiner Bewegungen? Er liebte Yugi doch! „VERDAMMT!“ Er schlug den Kopf nochmals gegen die Wand und lehnte sich dagegen. Sein Hirn schwindelte und ein Pochen breitete sich an seiner Stirn aus. Warum nur glaubte Yugi ihm nicht? Er musste ihm glauben, damit er glücklich sein konnte. Wenn Seto ihm sagte, dass er diesen Körper verabscheute, würde Yugi den Zauber rückgängig wünschen und somit seinen größten Wunsch aufgeben. „VERDAMMT! WARUM?! WARUM BIN ICH SO VERKOMMEN?!“ Er knallte mit dem Kopf nochmals gegen die Wand und fühlte den wohltuenden Schmerz. Er erinnerte ihn daran, dass sein Problem real war. Yugi war real. Die Folgen seines fehlerhaften Handelns waren real. Wenn er seinen schöneren Körper aufgab, wenn er ihn für Seto aufgab, würde er niemals wirklich glücklich werden. Er würde sich immer fragen, ob manches anders wäre, wäre er nicht so klein. Nein, nicht Yugi war das Problem. Seto war das Problem, weil er damit nicht zurechtkam. „ICH BIN SO NUTZLOS!“ Er knallte den Kopf gegen die Wand. Noch mal. Und noch mal. Er schmeckte das Aroma von Eisen auf seiner Zunge und von seiner Stirn lief es warm über die Wange und tropfte das Kinn hinab. Sein Kopf schmerzte, aber viel schlimmer drehte sich sein Magen um, sein Herz verkrampfte und er konnte ein Schluchzen nicht zurückhalten. „Was soll ich denn sagen? Was mache ich? Warum?“ Seine Knie knickten ein und er glitt die Wand hinunter auf den Boden. Wenn Yugi herausbekam wie wenig Seto mit dieser Situation klarkam und sich zurückwünschte - er würde niemals ein wahrhaft erfülltes Leben führen. „Warum kann ich dich nicht so lieben wie du mich?“ Er schlug mit der Schläfe gegen den Türrahmen und schluchzte laut auf. Er wusste nicht weiter. Yugi würde zurückkommen und er würde ihm nicht glauben. Wenn er ihn anlog, tat er Yugi etwas furchtbares an. Und wenn er die Wahrheit sagte, tat er Yugi etwas furchtbares an. Es gab kein Entkommen. Aus der Ferne hörte er eine Stimme langgezogen und etwas zu schrill schreien. Er wusste, es war seine eigene Stimme, doch er konnte den Atem nicht anhalten. >Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen< flehte er aus seinem Innersten. Doch sein Kopf schlug wie von selbst gegen die Wand und der Schmerz und der Schwindel waren so beruhigend. >Ich darf nicht zusammenbrechen … ich darf nicht zusammenbrechen … ich muss mich beruhigen … ich muss … ich muss mich beruhigen … hör auf zu schreien … du musst … du musst musst musst …< Er hörte sich Schreien, er hörte das dumpfe Geräusch seines krachenden Kopfes gegen die Wand, er schmeckte das Blut und es nahm ihm die Augensicht. Ach, hätte er doch nur diese blöden Tabletten genommen und würde diese Sache einfach überschlafen. Ihm war schwindelig, alles drehte sich. Nur das krachende Geräusch der Wand und das angenehme Gefühl im Kopf lenkten ihn von der Frage ab, was sein würde. Was sein würde, wenn … wenn … alles … schwarz …
 

Bevor seine Augen wieder Licht sahen, spürte er vor allem ein warmes Gefühl in seinem Rücken. Ein warmes, weiches, ungewohntes Gefühl. Seine Unterschenkel und sein Nacken jedoch fühlten sich angenehm kühl an.

„Ist jedenfalls besser als ein Notarzt.“ Das war Tristans Stimme, die da an Setos Ohren drang. Sie sprachen über Notärzte? War denn jemand verletzt?

„Okay, ich spreche mit ihm.“ Es war Narlas Stimme, welche ihm antwortete. Dann hörte er Schritte und das Schließen einer Tür. Im Hintergrund war ein Plätschern zu vernehmen. Wie ein kleiner Bach. Dann hörte es wieder auf.

Erst als Seto ein kühles Gefühl an seiner Nase fühlte, kniff er die Augen zusammen und versuchte sie langsam zu öffnen. Seine Sinne waren gedämpft und sein Kopf von einem stumpfen Pochen erfüllt. Jedes Zwinkern seiner Augen und das helle Licht taten weh.

„Seto, ganz langsam.“ Tristans Stimme klang besorgt und er fühlte ein schweres Gefühl an seinen Schultern. Wurde er etwa heruntergedrückt? „Bleib liegen. Es ist alles in Ordnung. Wir kümmern uns um dich. Ganz ruhig.“

Nur langsam sammelten sich die Eindrückte. Tristan saß neben ihm und drückte ihn tatsächlich aufs Bett hinunter. Aber der Druck ließ nach und er nahm dann auch seine Hände fort, seufzte und sah ihn besorgt an.

„Verstehst du mich? Kannst du mich sehen?“

Er öffnete den Mund, wollte ihm antworten, dass er ihn sehr gut hörte. Doch es kam nur ein heiseres Hauchen hervor. Als wäre keine Stimme in seinen Lungen. Also schloss er erschöpft die Augen und nickte. Jede Bewegung seines Kopfes entfachte einen Blitz von Schmerz zwischen den Schläfen und er stöhnte auf. Es war also doch noch Stimme in ihm.

„Bleib liegen. Ein Arzt kommt gleich“ beruhigte er und legte seine Hand auf Setos Brustbein. Für gewöhnlich fasste er ihn nicht so vertraulich an, jedoch entspannte es den schmerzenden Körper und selbst Seto verspürte wie sein Atem leichter wurde. Tristans warme, kräftige Hand fühlte sich behütend an. Angenehm. Fürsorglich.

Seto wusste nicht genau, was los war. Sein Kopf war taub, von Schmerzen durchzogen und lähmte den ganzen Körper. Doch gleichzeitig fühlte er sich unter Tristans Hand so wohl.

Er überlegte, was geschehen war. Er erinnerte sich an Yugis Forderung, dass er ehrlich sein sollte. Und danach an die Verzweiflung. Wie verzweifelt er eine Antwort suchte. Eine Antwort, die er Yugi geben konnte. Eine Antwort, welche ihm geglaubt wurde. Eine Antwort, welche nicht dazu führte, dass Yugi den Körper aufgab, den er sich seit so vielen Jahren wünschte. Doch wie sollte Seto das schaffen? Er fühlte wie sich dieser Druck in ihm aufbaute und er zusammenzuckte. Doch Tristans Hand hielt ihn ruhig, sodass er nur den Kopf zur Seite ruckte.

„Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung“ beruhigte Tristan und legte die andere Hand zusätzlich an Setos Wange. Das fühlte sich noch besser an. Warm und geborgen.

Dann dämmerte ihm, was geschehen war. Er hatte sich den Kopf angeschlagen. Nicht aus Versehen. Aber auch nicht absichtlich. Es war einfach passiert. Seine Gedanken hatten sich von seinem Körper getrennt und irgendwie war es plötzlich so erleichternd ruhig.

„Thristan“ hauchte er und versuchte zu ihm aufzublicken. Er erheischte einen kurzen Blick in sein besorgtes Gesicht, doch dann wurde ihm schwindelig und er musste die Augen schließen. Im Hintergrund war wieder dieses Plätschern zu hören. Wo kam das her? Was war passiert? War es wieder passiert? „Hatte hich einhe Attackhe?“

„Sah so aus“ antwortete er mit weicher Stimme. „Ich bin froh, dass du wieder bei Bewusstsein bist. Hast du Schmerzen?“

„Jha“ hauchte er und setzte wie in Trance hinzu: „Geschieht mhir recht.“

„Ach Seto“ seufzte er und streichelte seine Wange. Dazu sagte er nichts weiter.

„Dheine Hände fühlen shich schön han.“

„Danke.“

Da war es wieder. Dieses Plätschern. Das machte ihn wahnsinnig. „Whas ist dhas?“

„Was denn?“

„Ah, du bist wieder unter uns.“ Er hörte Tatos Stimme. Er hörte Schritte und sah dann einen Schatten auf der linken Seite. Ein Gewicht drückte die Matratze herab und er spürte eine andere, intensivere Hand, welche sich an seine Hüfte legte.

Er öffnete die Augen und sah das gealterte Gesicht seines Sohnes über sich. Die blauen Augen fuhren prüfend über seinen Körper bis sich ihr Blick traf. Jedoch nur kurz, bevor ihm wieder schwindelig wurde und er den Brechreiz unterdrücken musste. Das Zucken in seinem Bauch ließ seine Schläfen schmerzen.

„Sieht aus als hättest du eine Gehirnerschütterung.“ Tato klang abgeklärter und härter als Tristan. Aber auch durch seine Hand auf dem Körper verspürte er eine unendliche Fürsorge. „Sollen wir Papa anrufen, dass er herkommt?“

„Auf keinen Fall! AAHH!“ Er sank zurück in die Kissen und atmete den Schmerz aus seinem Kopf fort. Das war ja schrecklich.

„Schon gut. Bleib einfach liegen“ bat nun auch er und legte seine Hand neben die von Tristan, welche seine Brust sanft drückte und das Atmen erleichterte.

Dann hörte er wieder dieses Plätschern. Er öffnete die Augen und huschte schwindelig über die Decke, neben Tato, neben Tristan. Doch dann war es wieder weg. „Hört ihr dhas auch?“

„Was denn?“ fragte Tristan verwundert. „Was hörst du immer, Seto?“

„Dhas Plätschern. Irgendwho plätschert hes.“

„Das ist der Spatz. Er wischt den Boden“ antwortete Tato. Er rutschte höher, griff unter Setos Schultern und hob ihn vorsichtig an. Sein Kopf schmerzte noch mehr, aber es wurde besser als er erhöht lag. Nun konnte er auch ein wenig besser sehen.

Phoenix setzte sich ans Fußende und lächelte ihn halb tröstend, halb besorgt an. In diesem Moment stellte er einen kleinen, weißen Eimer auf den Boden und trocknete sich die Hände in einem Handtuch ab. Er wischte also den Boden?

„Wharum?“ Der Boden war doch sauber. Yugi war ein guter Haushälter.

Eine Antwort bekam er nicht, doch je mehr sich sein Blick klärte, desto besser erkannte er seine Lage. Er sah rote Spuren mitten auf der weißen Wand und darunter einige kleinere, welche sich bis zum Boden tüpfelten. Um seine Beine waren feuchte, kühle Handtücher geschlungen und das kühle Gefühl in seinem Nacken stammte von einem gefrorenen Coolpad, welches von einem flauschigen Handtuch umwickelt war. Nur die Wärmflasche in seinem Rücken passte nicht zu der Kühlung.

„Die ist, damit dein Kreislauf nicht ganz abkackt“ erklärte Tato seinen Gedanken.

Seto seufzte und ließ sich ins Kissen zurücksinken. Je ruhiger er wurde, desto mehr kamen seine Sinne zurück. Dumpf, aber langsam. Um seinen Kopf spürte er nun auch einen Druck von außen. Wahrscheinlich hatte man ihm eine Wunde auf der Stirn verbunden. Irgendwo musste das ganze Blut an der Wand ja herkommen. Er hatte also doch einen Panikanfall gehabt. Er wollte das nicht. Er hatte versucht, es zu verhindern. Doch sein Körper hatte sich selbstständig gemacht und seine Seele mit hineingezogen. Es war genau wie Noah es kritisiert hatte. Yugi war kaum einen Tag verändert und schon brachte es ihn ans Ende seiner Kräfte. Wie sollte er das durchhalten? Wie sollte er seine Lüge zu Yugis Wohlbefinden aufrecht halten, wenn er sich selbst nicht aufrecht halten konnte?

„Mama?“ Tato trennte ihn abermals von seinen Gedanken und berührte behutsam seine Schläfe. „Wir können Onkel Moki im Moment nicht erreichen, aber Dr. Aksel Mäkinen ist hier. Er ist ebenfalls ein Heilhexer und er hat sich bereiterklärt, sich deinen Kopf mal anzusehen.“

„Meinen … Kopf.“ Er meinte wahrscheinlich das Ding zwischen seinen schmerzen Schläfen, dem pochenden Hinterkopf, den flackernden Augen und den knirschenden Zähnen.

„Arnor und Finn haben Dr. Mäkinen beide ihr Vertrauen ausgesprochen. Wenn es für dich in Ordnung ist, würde er sich zu dir setzen.“

„Ein … ein fremder Heiler …“ Seto hatte zwar viel Erfahrung mit diversen Ärzten, aber einen anderen Heiler als den eigenen Bruder hatte er noch nie an sich gelassen. Sicher war auf die Empfehlung von Arnor und Finn viel zu geben, aber ein fremder Heiler mit fremder Kraft? Im ersten Augenblick schnürte sich seine Kehle zu bei dem Gedanken daran. Doch im zweiten Augenblick fuhr ein Zischen durch seinen Kopf, welches der Kehle sagte: Halt die Klappe, Alter! „Jha, ist okay“ hauchte er und schloss die Augen. Ihm wurde schon wieder schwindelig. Er hatte schon so viel Mist verbockt und wenn er Yugi jetzt auch noch so unter die Augen trat, war alles aus. Dann würde er diese Sache gar nicht mehr selbstständig geregelt bekommen. Eine schnelle Heilung versprach wenigstens etwas Hoffnung.

„Eraseus?“ Seto hatte niemanden hinter Tato sehen können, doch die Stimme des Heilers war angenehm tief und klang ruhig, sodass er nur irritiert war, doch zumindest nicht erschrocken. Er öffnete die Augen und sah einen Mann neben dem Bett knien. Wie die Stimme bereits vermuten ließ, ein älterer Herr. Sein hellgraues Haar war nach hinten gelegt und seine Haut sonnengebräunt. Seine Augen waren zwar recht klein, aber von freundlichen Lachfalten umrandet. Ein sehr schlanker Mann mit positiver, fröhlicher Aura. „Oder möchten Sie, dass ich Sie Mr. Muto nenne?“

„Egal.“ Das war ja nun das geringste seiner Probleme.

„Dann sage ich Mr. Muto, wenn es recht ist“ suchte er sich aus und betrachtete Setos Gesicht, seinen ganzen Kopf eindringlich. Dann seinen Hals und seine Brust, auf welcher noch immer Tristans Hand lag. „Mr. Muto, Ihr Sohn hat mir gesagt, Sie haben es nicht gern, wenn man Sie berührt. Für eine Heilung, müsste ich Ihnen jedoch die Hand auflegen. Ich würde mich in ihre Physis einfühlen und ihre Selbstheilungskräfte anregen, sodass Sie sich im Endeffekt selbst gesunden. Da ich bereits seit meiner Kindheit Magier heile, bin ich sehr erfahren. Wo ich Sie berühre, ist daher völlig gleichgültig. Wenn Sie gestatten, würde ich Sie nur ganz leicht an der Hand berühren. Sie dürfen mir aber natürlich gern eine andere Stelle, welche Ihnen angenehmer wäre, erlauben.“

Der Mann war ruhig und wirkte nicht im Geringsten einschüchternd. Dass er ihn anfassen wollte, rührte zwar eine gewisse Unruhe in ihm an, jedoch schmerzte ihn sein Kopf so sehr, dass er vieles tun würde, um dem abzuhelfen. Außerdem musste er schnell wieder auf den Beinen sein. Mit einer Gehirnerschütterung konnte er nicht mit Yugi diskutieren und sich auch keine praktikable Lösung einfallen lassen.

„Mr. Muto“ sprach der Arzt nochmals mit dunkler, milder Stimme. „Ich werde nichts tun, was Sie mir nicht gestatten.“

„Mein Khopf thut weh“ atmete er und wollte die Augen nicht vor ihm schließen. Er musste sehen, was der Mann tat. Er musste die Unruhe und den Fluchtreflex in Zaum halten. Auch wenn ihm dabei schrecklich schwindelig wurde.

„Ich kann Sie auch an der Stirn berühren“ bot der Heiler an und erwiderte den starren, blauen Eisblick mit Freundlichkeit. „Ich nehme nur eine Fingerspitze dazu. Sie werden kaum etwas von mir fühlen. Zumal ein Verband zwischen uns ist.“

„Nhein … nehmen Sie dhie Hand“ bat er und schluckte den erneut aufblitzenden Schmerz herunter. Sein Herz schlug ungesund schnell. Dieser Mann musste ihn anfassen. Am liebsten würde er aufspringen und davonrennen. Doch er spürte über diesen Kopfschmerz seine Beine kaum.

„In Ordnung. Ich setze mich neben Sie, wenn ich darf. Meine Knie sind nicht mehr die jüngsten.“ Da Seto nichts sagte, setzte sich der Heiler an die Stelle, wo eben noch Tato gesessen hatte. Doch sein Körper drückte die Matratze nicht so schwer herunter wie Tatos. Weiter sahen sie einander in die Augen. Seto war das alles hier enorm unangenehm und er fühlte als würden ihn diese hellen Augen auffressen wollen. Was sah der Mann, wenn er ihn ansah? Sicher einen gestörten, schmutzigen, dummen Menschen …

„Dr. Mäkinen“ sprach Tristan mit sehr leiser Stimme als würde er nicht wollen, dass Seto es hörte. „Sehen Sie nicht so lange direkt in seine Augen.“

„Natürlich. Entschuldigung.“ Seto hatte das zwar gehört und es war ihm peinlich, dass er sich an Dingen, welche für andere völlig normal waren, so sehr störte. Doch in ihm tobte und raste und brüllte alles auf. Je länger dieser Heiler neben ihm saß, desto größer wurde seine Nervosität. Wenigstens wandte der Alte sofort den Blick ab und machte sich selbst dadurch erträglicher. „Mr. Muto, ich berühre jetzt Ihre Hand, wenn ich darf. Mr. Taylor, wenn Sie so freundlich wären und Ihre Hand fortnehmen würden.“

Seto hielt mit aller Kraft seine Augen offen und hoffte, dass der Schwindel, der Schmerz und diese unangenehme Situation gleich ein Ende nehmen würden.„Jha … okay“ hauchte er schwach und vernahm doch ein Zittern in der eigenen Stimme. Er war schon wieder so sensibel und angreifbar. Er hasste sich selbst dafür. Er hasste sich dafür wie verloren er sich vorkam ohne Tristans warme, behütende Hand auf seinem Brustbein.

„In Ordnung. Sie werden es kaum spüren, Mr. Muto“ versprach der Heiler und nahm nur die Spitze des Zeigefingers, um Setos linken Handrücken zu berühren.

Was dann geschah, konnte Seto nicht kontrollieren. Es fühlte sich als würde er in seinen Seelenraum gesogen werden und schaute doch von außen auf sich selbst. Als würde er direkt neben sich stehen, als wäre er sein eigener Yami. Und was er sah, schockierte ihn.

„ZURÜCK!“ schrie Tato und stieß den Heiler vom Bett. Doch nur, um Seto entgegen zu stürzen und ihn zurückzuhalten. Der sprang nämlich mit einem Satz auf, brüllte aus allertiefster Lunge einen markerschütternden Drachenschrei und schnappte mit seinen Kiefern ins Leere. Der alte Mann landete halb am Bettende, halb auf dem Boden, während Tato auf seinen Vater weniger Rücksicht nahm. Er packte ihn an der Kehle und stieß ihn mit aller Kraft an die Wand. Seto sah sich selbst die Zähne fletschen und seine Augen einen Ausdruck annehmen, den er bei sich selbst niemals erfahren hatte. Seine Lippen bebten, seine Brust grummte wie eine Bohrmaschine und seine Arme wischten Tatos kräftigen Körper beiseite. Mit geiferndem Schlund stürzte er erneut auf den Heiler zu, wollte ihn mit den Krallen am Bein packen, doch ein Windstoß wälzte ihn über den Heiler hinüber und knallte ihn an die gegenüberliegende Wand.

Tatos Brüllen prallte auf sein eigenes und Seto beobachtete sich dabei wie die Flügel sein Hemd zerrissen und den Sessel in den Fensterrahmen trieben. Doch nicht nur aus seinem Rücken wuchsen weiße Ungetüme. Erstmals verwandelten sich seine Hände in gepanzerte Pranken mit dolchartigen Klauen. Er spie die Galle beiseite und stieß sich mit den Flügeln von der Wand ab. Er hob seine Krallen und stürzte auf den vor Schreck erstarrten Heiler zu. Er zielte auf seinen Brustkorb und wusste, wenn er ihm die Kehle zerriss, ließ er ihn in Ruhe.

Tristan warf sich zwar über den Alten, doch Seto wusste, er hätte ihn dennoch erwischt. So oder so. Hätte nicht Tato seine Flügel mit einem noch heftigeren Windstoß, welcher den Sessel endgültig durchs Fenster stieß, gegen die Wand geschleudert. Noch während er den Wind vorschickte, überwandte er die kurze Distanz, griff die Flughaut seines Vaters und zog sie tief in einen kräftigen Haltegriff. Seto hörte seine spitze Stimme an der Wand wiederhallen und sah dann wie sich seine eigenen Krallen in die Hüfte seines Sohnes trieben. Tato schrie auf vor Schmerz und donnerte ihm einen Groll entgegen, doch er ließ ihn nicht los. Im Gegenteil.

Er zog die Flughaut hinunter und zwang Seto in eine leicht gebeugte Position. Noch während der schrie und fauchte und ihm die zweite Pranke in den Oberschenkel rammte bis das Blut sie beide verschmierte, löste Tato seinen Griff und schnappte sich stattdessen die Knochen der Flügel. Er drängte den tosenden Drachenmenschen zurück und tat selbst etwas erschreckendes. Er drückte sich ihm näher, hielt die umher schlagenden Flügel so weit es ging fest an die Wand gepresst und biss ihm im geeigneten Moment in die Kehle. Seto spie ihm all seine Abwehr entgegen, doch Tato hatte sich festgebissen und ließ nicht von ihm ab. Und wenn Seto ihm in diesem Moment den Torso aufgeschlitzt oder ihm das Bein abgerissen hätte, Tato hätte ihn nicht losgelassen. Sie hatten sich ineinander verkeilt und allein der Instinkt befahl ihnen, sich nicht zu lösen. Sie würden einander zerfleischen, wenn jetzt einer losließ.

Von Brüllen, Knurren und Donnern begleitet, rangen sie miteinander auf dem Boden. Von außen erkannte Seto selbst nicht, wer oben und wer unten war. Doch eines wusste er - sein Körper verletzte den eigenen Sohn. Das durfte doch nicht sein! Warum geschah das? Warum sah er sich selbst von außen und war unfähig etwas dagegen zu tun? Warum kämpfte er mit Tato? Warum wollte er diesen Alten töten? Aus welchem Grunde? Aus welchem, kranken Grunde?

Setos Sicht auf die Dinge verschwamm und ganz kurz blitzte ein Schmerz an seiner Kehle auf. Er spürte wie warm und feucht seine Hände waren und wie beißend der Schmerz in seinem Rückenmark. Dann ging erneut alles betäubend schnell.

Tato nutzte den winzigen Moment, löste seinen Biss, rollte sich auf ihn, rammte ihm das Knie zwischen die Flügel und umklammerte mit der ganzen Kraft seiner Arme die dicken Flügelknochen. Diese drückte er an sich und schrie selbst auf vor Schmerz und Energie. Setos schneeweiße Krallen schnitten den Parkettboden auf, genau wie sein spitzer Schrei die Luft zerschnitt. Doch Tato hatte die Überhand gewonnen und hielt ihn auf dem Boden fest. Halb gelähmt und fast bewegungslos stockte Setos Atem und der Blick klärte sich wieder. Er durfte Tato nicht verletzten. Er wollte ihn nicht verletzen. Ihn nicht und niemand anderen …

Er sah vor sich das Fußende des Bettes. Das Bett stand schief und irgendwie nicht dort, wo es hingehörte. Der Boden fühlte sich warm an seiner Wange an und sein Körper wurde taub. Doch gleichsam spürte er wie sein Atem sich beruhigte. Das Grollen wurde weniger und die unbändige Angst und Wut und der Fluchtinstinkt ließen nach. All diese übermächtigen Gefühle wurden weniger und weniger und als er das nächste Mal seine Hände ansah, waren die Krallen verschwunden. Stattdessen überzog weiße, ledrige Haut seine Hände und verblasste erst kurz vor dem Ellenbogen zu normalem, rosa Fleisch.

„Was habe ich getan?“ entfuhr ihm mit leerer Stimme. Er war nicht ängstlich. Jedoch auch nicht reuig oder aggressiv. Er fühlte sich … wie ausgehöhlt. Erschöpft und taub.

„Scheißhe“ hörte er Tato über sich und fühlte den Druck in seinem Rücken verschwinden. Dafür hörte er einen dumpfen Knall und sah seinen Sohn blutüberströmt neben ihm auf dem Boden liegen. Seine Hüfte war fast bis zur Schulter aufgerissen und aus seinem Bein pulsierte eine Blutader rote Bäche auf den Läufer.

Das erste Gefühl, was ihn ereilte war Angst. Doch nicht Angst vor sich oder vor dem, was er getan hatte. Sondern Angst um sein Kind.

„TATO!“ Seine weißen Hände griffen dessen Schultern, doch das blasse Gesicht zeigte keinerlei Regung. Er hatte wahrscheinlich zu viel Blut verloren. Nur Seto war unverletzt bis auf eine kaum blutende Bisswunde am Nacken. „TATO! OH GOTT!“

Sein erster Gedanke ging zu dem Heiler hin, doch dieser lag nicht mehr auf dem Bett. Tristan hatte ihn in die nächstbeste Deckung gedrückt und so saßen sie gemeinsam zwischen Sofa und Couchtisch. Diese standen auch nicht mehr seitlich neben der Tür, sondern wie barrikadiert vor dem Bad. Tristan sah nur geschockt auf die blutrote Szene. Der Heiler jedoch zitterte am ganzen Körper, klapperte gar mit den Zähnen. Doch darauf konnte Seto jetzt keine Rücksicht nehmen.

„Er verblutet!“ schrie er und sah den Heiler flehentlich an. „Hilf ihm! Komm her und hilf ihm.“

Doch der Alte konnte sich nicht rühren. Er war erstarrt.

„Dr. Mäkinen!“ Tristan behielt zwar seinen panischen Ausdruck, doch er schüttelte den Mann an den Schultern. „Machen Sie schon! Sie müssen ihm helfen!“

Noch immer fand der freundliche und sanfte Doktor keinen Mut, sich aus seiner Panikstarre freizumachen. So etwas hatte er wahrscheinlich noch niemals gesehen oder gehört.

„TATO VERBLUTET!“ schrie Seto ihn verzweifelt an. „MEIN BABY VERBLUTET! HELFEN SIE IHM! BITTE! ER VERBLUTET!“

Doch um den Heiler war’s geschehen. Der starrte ihn an, ohne wirklich etwas zu sehen. Der Schock saß tief. Wer sah denn auch schon zwei Halbdrachen, welche sich an die Kehle gingen?

„Seto, wir müssen die Blutung stoppen! Binde sein Bein ab!“ Tristan suchte sofort nach einer anderen Lösung, griff sich eines der verwehten Handtücher vom Sofa und quetschte sich hoch.

Doch wieder war ihnen jemand gütig gesonnen. „Was ist denn hier los?“ Mokuba erschien in der Tür und sah das verwüstete Zimmer. Das Bett mitten im Raum. Die Fenster kaputt. Die Couch und der Tisch vorm Badezimmer. Die beiden Kommoden an verschiedenen Zimmerecken und das Bücherregal lag ausgekippt im ganzen Raum.

„MOKUBA!“ Seto sah die Rettung. „HILF IHM! MEIN BABY! MEIN BABY VERBLUTET!“

„Wer?“ Er sah seinen großen Bruder nur irgendwo hinter dem Bett kauern. Doch als er einen Schritt nach dem anderen näherkam, sah er nackte Füße, dann Beine, eine zerrissene Jeans und dann eine klaffende, blutende Fleischwunde. „Fuck! Was habt ihr denn gemacht?“ Sofort sprang er über das Bücherregal, über das Bett und fiel auf der anderen Seite herab. Dann sah er noch viel schlimmeres. Der Oberschenkel war nur das kleinere Problem. An der Seite war Tatos Brustkorb aufgeschnitten. Ein Wunder, dass er hier vergleichsweise wenig blutete.

„Hilf ihm“ winselte Seto und sah ihn durch Tränen an. „Bitte, Mokuba. Bitte hilf ihm.“

„Habt ihr ein Glück, dass ich so ein komisches Gefühl hatte.“ Er schob die Ärmel seines Seidenshirts hoch und legte sofort die erste Hand in den geöffneten Brustkorb hinein. Mit der anderen drückte er die Blutung am Bein zurück.

„Hilf ihm, bitte. Mokuba. Bitte. Bitte. Er verblutet.“

„Ja, Seto. Ich bin schon dabei.“

„Bitte. Er verblutet. Bitte, Mokuba. Bitte.“

„Ja, doch.“ Seto klang als würde er selbst unter Schock stehen. Wie ein Tantra wiederholte er immer wieder dieselben Worte:

„Bitte. Hilf ihm. Er verblutet. Bitte. Hilf ihm. Mein Baby … hilf ihm. Er verblutet …“

„Ja, Seto. Sei ruhig. Ich muss mich konzentrieren.“

„Tut mir leid. Bitte hilf ihm. Mein Baby verblutet. Er verblutet. Bitte. Bitte.“

„TRISTAN!“ schrie er zu dem hinüber. „Schaff mir Seto vom Leib!“

Der hatte zwischendurch den Doktor flach auf den Boden gelegt und dessen Beine auf einige Kissen. Danach kam er schnell zu dem schockierten Seto und nahm ihn vorsichtig an den Schultern. „Komm, Seto. Du störst Moki nur.“

„Aber Tato verblutet.“ Er wandte ihm seine eisblauen Augen zu und begann am ganzen Leibe zu beben. Jetzt erst realisierte er, was geschehen war. „Mein Baby. Ich habe mein Baby getötet.“

„Unsinn. Tato ist hart im Nehmen. Komm jetzt hoch. Los.“ Es brauchte schon etwas Kraft, um einen Berg wie Seto zu versetzen, doch der leistete nicht wirklich Widerstand.

Während er Seto wenigstens einen Meter aus der Blutlache zog, sah er sich nach dem Letzten im Bunde um. Phoenix war in dem Gemenge irgendwo untergegangen und rührte sich auch nirgends. Erst als Seto aus Mokubas direktem Dunstkreis entfernt war, stellte er sich hin und überblickte das Chaos im Raum. Ihn zu rufen, wäre wohl unklug - er würde sich ja doch nicht melden.

„Bleib hier sitzen“ befahl er Seto mit ernstem Ton und bekam einen herzzerreißend eingeschüchterten Blick dafür. „Genau hier. Bleib genau hier sitzen. Seto.“ Er deutete mit dem Finger auf ihn und warnte. Er hatte Seto zwar nichts entgegenzusetzen, doch der würde in diesem Moment wohl sogar vor einer Fliege Angst haben. „Okay. Du bleibst hier sitzen und bist ruhig.“ Dann erst konnte er suchen gehen. Er beugte sich herab, doch unter dem Bett war niemand. Er zog die umgekippte Kommode ab, doch dort war auch niemand. Hoffentlich war ihm nichts passiert. Phoenix war eh nur so ein schmächtiges Bürschlein. Wenn ein Möbelstück auf ihn herabfiel, wäre es um ihn geschehen. Er stieg über die Trümmer des Bücherregals und suchte jeden Zentimeter ab. So groß war das Zimmer doch nicht, verdammt! Dann sah er endlich einen Arm, welcher aus einem der Kinderzimmer ragte. „Spatz!“ Er stolperte dorthin, öffnete die Tür und sah ihn dort bewusstlos liegen. Sofort kniete er sich zu ihm und prüfte seinen Atem. „Puh. Was liegst du denn hier rum und schläfst?“ seufzte er erleichtert. Mit seinem Fliegengewicht war er von einem der Windstöße offensichtlich in Ninis Zimmer gepustet worden. Sein Arm war etwas rot und geschwollen, wahrscheinlich hatte er ihn sich in der umherschlagenden Tür geklemmt. Doch bis auf das schien es ihm gut zu gehen.

Es war ein Leichtes für Tristan, ihn auf den Arm zu nehmen und zu dem schockerstarrten Heiler aufs Sofa zu legen. „Also, eines muss man euch Drachen lassen“ sprach er leise zu sich selbst. „Wenn ihr euch prügelt, dann richtig.“
 


 

Chapter 44
 

Dieses Mal war es dann Tato, welcher die Augen auftat und sich erst orientieren musste. Er fand sich selbst auf dem Bett, wenigstens seinem eigenen Bett, liegend und das erste, was er sah, waren rotgeweinte, stahlgraue Augen hinter einer Brille, die einen Sprung hatte. Dann fühlte er wie seine Hand gedrückt wurde und hörte diese feine, helle Stimme, welche er so sehr liebte.

„Asato. Wie fühlst du dich?“

„Hey, Kleiner.“ Er musste lächeln. Phoenix war einfach zu niedlich, wenn er mit seinen großen Augen so bang dreinschaute.

„Geht es wieder? Ist dir schwindelig? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?“

„Oh, Spätzchen“ seufzte er und verdrehte die Augen. Er wusste wie gruselig das aussah, wenn er dazu noch mit der Oberlippe zuckte. „Diese Schmerzen …“

„ASATO!“ Phoenix griff seine Schultern und legte ihm dann vorsichtig die Hand auf die Stirn. „Bitte, bleib bei Bewusstsein. Moki, warum tust du denn nichts?“

„Oh, mein Süßer“ ächzte Tato und schloss die Augen. Atmete schwer ein und ließ seinen Hals rasseln.

„Asato. Was ist denn?“

„Ich glaube, ich sterbe.“

„Mach keinen Quatsch! MOKI! MOOKII!“

„Phoenix, mein Süßer.“ Er griff seine Hand und hielt sie schwach zwischen Daumen und Ringfinger. „Mein Süßer. Erfüllst du mir noch einen Wunsch?“

„Rede nicht so was! Du kommst wieder auf die Beine.“

„Es ist mir wichtig. Bitte. Bitte, Süßer.“ Er hustete und sein Atem klang feucht. Seine Kehle zitterte und er hatte kaum Kraft in der Hand …

„Okay.“ Ihm stiegen schon wieder die Tränen in die Augen. „Was ist es denn? Ich tue alles für dich.“

„Dhas ist ghut“ keuchte er, öffnete die Augen und sah ihn leidlich an. „Bläst du mir einen?“

„ASATO!“

„Du bist unmöglich“ musste Mokuba jetzt endlich lachen. Er wusste, dass er ganze Arbeit geleistet und den zerfetzten Drachen komplett heilgemacht hatte. Nur Phoenix ließ sich zu leicht ins Boxhorn jagen.

„Also, das heißt wohl nein“ lachte auch Tato und rieb sich den Arm, auf den Phoenix ihn schlug. „Schade.“ Jetzt sah er nur noch dessen Rückseite, weil er sich beleidigt umgedreht hatte.

Er fühlte sich trotz allem noch etwas schwach und brauchte einen zweiten Anlauf bis er sich auf die Ellenbogen stützen und gegen die Wand lehnen konnte. Dann sah er seinen Vater am Fußende sitzen, seinen Bauch umklammert und zu Boden starren. Seine Hände und die Unterarme waren noch immer von weißem Leder überzogen, doch er schien sich beruhigt zu haben. Auch ein neues Hemd hatte man ihm übergezogen. Auch wenn man schwarz an ihm selten sah.

„Hey Mama“ lächelte er ihn versöhnlich an. „Ist das etwa mein Hemd?“

Ganz langsam drehte er den Blick herum und sah ihn an. Mit traurigem, schuldigen Blau. Es fehlte nicht viel und er würde in Tränen ausbrechen. Das sah man ihm sofort an.

„Tjaaa … dann …“ meinte Mokuba und sah hilfesuchend zu Tristan, welcher in der Tür erschien. Und was tat man nun? Sollten sie gehen oder Seto beistehen? War ja schwierig, wenn der schon die ganze Zeit kein Wort herausbrachte und sich nur willenlos von einer Ecke in die nächste treiben ließ.

„Herrje.“ Tatos Augen wurden groß und er rutschte noch ein Stück höher bis er aufrecht saß. „Mama, erzähl jetzt nicht, das war dein erstes Mal?“

„Mein was?“ Endlich fand er seine Stimme wieder. Es wäre verständlich, wenn Tato ihm den Kopf abriss, ihn beschimpfte oder ihm Vorhaltungen machte. Doch der schien alles andere als gekränkt. „Was meinst du?“

„Na ja … das“ versuchte er zu beschreiben.

„Du meinst, dass ich mich in ein Monster verwandle und meine Kinder zerfleische?“

„Zum Beispiel.“

„NEIN! Natürlich ist mir das noch nie passiert!“

„Hat dich erschreckt, was? Ich dachte, diesen Selbsterfahrungstripp hättest du schon hinter dir. Ich war 13 als meine Drachen mich das erste Mal zurückgedrängt haben.“

„Zurückgedrängt?“

„Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, oder?“ So langsam dämmerte es Tato. Er war hier offensichtlich mehr als nur einen Schritt voraus.

„Ich habe dich lebensgefährlich verletzt“ antwortete Seto mit brüchiger Stimme. „Den Doktor hätte ich vielleicht sogar getötet, wenn du dich nicht vor ihn gestellt hättest. Was auch immer das war, es darf nicht noch mal passieren.“

„So wie du im Moment denkst, wird es ganz sicher noch mal passieren“ erwiderte er ernst. „Mama, erst mal solltest du dich beruhigen und danach …“

„Da bin ich schon.“ Yugi erschien neben Tristan und war ganz außer Atem. Mokuba hatte ihn angerufen und in Telegrammform berichtet, was geschehen war. Natürlich war er da mit einigen Geschwindigkeitsübertretungen heim gerast. Er sah, dass Tato zwar auf dem Bett lag, jedoch schon wieder ganz passabel aussah. Von den zerrissenen Klamotten mal abgesehen, war ihm kaum anzusehen, was Mokuba beschrieben hatte. Dafür saß Seto am Fußende und machte einen nicht ganz so stabilen Eindruck. „Liebling, ist alles in Ordnung?“

„NEIN! GAR NICHTS IST IN ORDNUNG!“ keifte er und sprang auf. Er ging rückwärts bis er mit dem Rücken an die Wand stieß. Eine ganz deutliche Abwehrhaltung. Auch sein Atem beschwerte sich und seine Augen glänzten vor Tränen.

„Mama, es ist gut“ beruhigte Tato. „Mir ist nichts passiert und dem Heiler auch nicht. Kein Grund zu überstürzten Reaktionen.“

„DU HAST JA AUCH NICHT DEIN BABY ZERFLEISCHT!“

„Nein, aber dich“ sagte er und sah ihn fest an. „Als mir das damals geschah, warst du derjenige, der mir Einhalt geboten hat. Dabei habe ich dir die Rippen zertrümmert und dir fast das Bein abgerissen. Und auch damals war es Onkel Moki, der im richtigen Moment zur Stelle war. In meinen Augen sind wir jetzt quitt, du und ich.“

„Mokuba“ fragte Tristan an dieser Stelle. „Du wolltest doch eigentlich mit Tjergen ins Schwimmbad. Warum bist du zurückgekommen?“

„Ich habe keine Ahnung“ erklärte der und sah seinen großen Bruder an. „Ich hatte so ein Gefühl im Bauch, dass ich zurückfahren sollte.“

„Das könnten Engel gewesen sein“ riet Yugi und blieb stehen als Seto seine Annäherung mit einem neuen Seitwärtsschritt beantwortete. „Ich war im Schwimmbad und habe mitbekommen wie Sethos Selbstgespräche geführt hat. Aber Amun meinte, dass er nicht mit sich selbst, sondern mit seinen Engeln spricht. Vielleicht hat er sie geschickt, damit sie dich hertreiben. Viele Bauchgefühle oder Vorahnungen, welche die Menschen haben, sind in Wirklichkeit Engelsgeflüster.“

„Das kann vielleicht sein“ gab Mokuba zu. Vielleicht war dieses starke Gefühl ein Rat, welchen ihm die Engel gegeben hatten. „Wäre ich nicht zurückgefahren, wäre Tato höchstwahrscheinlich verblutet. Er hatte vier Rippen gebrochen und ein Teil der Lunge und seine Leber waren aufgeschnitten. Und in seinem Oberschenkel war die Arterie zertrennt.“

Das war zu viel. Seto schlug sich die weißen Hände vors Gesicht und krümmte sich zu Boden. Er hätte Tato fast umgebracht. Seinen eigenen Sohn. Sein Baby. Er hatte nicht nur damals Joey fast getötet, jetzt war es schon wieder geschehen. Er hatte die Kontrolle verloren und grundlos einen anderen verletzt. Nein, nicht nur einen anderen, sondern jemanden, den er über alles liebte. Und wäre es nicht der kräftige Tato gewesen, jemand anderes wäre jetzt tot.

„Hey Mama, ist doch halb so wild“ meinte der mit sanfter Stimme. „Mein Körper schüttet im Kampf so viel Adrenalin aus, dass ich von den Schmerzen gar nichts mehr weiß. Und Angst habe ich vor dir noch nie gehabt.“

„Liebling.“ Yugi kniete sich zu ihm und berührte sanft seine Schulter. „Beruhige dich erst mal. Dann können wir …“

„NEIN! GAR NICHTS KÖNNEN WIR! ICH BIN EIN MONSTER! EIN MONSTER!“ Er sprang auf und rannte aus dem Zimmer.

Tristan konnte nur noch aus dem Wege springen, bevor man auch schon eine Tür zuschlagen hörte. „Jetzt ist er in dem verwüsteten Zimmer verschwunden.“

„Was ist nur mit ihm los?“ fragte sich Yugi und sah zu Tato. „Was ist denn hier passiert?“

„Na ja, zuerst hatte er wohl eine Panikattacke“ erklärte der gefasster. „Tristan hat ihn gefunden als er sich den Kopf an der Wand aufschlug, aber da wurde er quasi schon bewusstlos. Er hatte äußerlich nur eine Platzwunde, aber weil er so gar nicht recht zu sich kam, tippten wir auf eine Gehirnerschütterung. Weil wir Onkel Moki nicht erreichen konnten, habe ich Arnor und Finn angerufen, aber Arnor war als einziger zu erreichen und der hat auf schnellstem Wege den Doktor hergeschickt. Zwischendurch hatte Finn auf meine SMS zurückgerufen und sagte, er hätte denselben Heiler mobilisiert. Also ich habe ihn gebeten, mal nach Mama zu sehen. Da ist er ausgetickt. Sah für mich nach einem Schutzangriff aus. Ich denke mal, er war eingeschüchtert … so kenne ich ihn gar nicht.“

„Im Moment erkenne ich ihn selbst manchmal nicht“ seufzte Yugi und fuhr sich durchs Haar. „Und diese weißen Arme? Was hat es damit auf sich?“

„Das ist nicht weiter schlimm, Papa. Ich kann meinen ganzen Körper mit so einer Haut überziehen. Ich wusste aber nicht, dass er das noch nie erlebt hat.“

„Und dir geht’s aber gut soweit?“

„Ja, kein Problem“ lächelte Tato beruhigend. Ihm schien das weit weniger auszumachen als allen anderen. Der war wirklich hart im Nehmen. „Wie gesagt, mein Körper steht so unter Strom, dass ich die Schmerzen gar nicht fühle … na ja, oder mich zumindest nicht dran erinnere. Onkel Moki hat mich ja wieder zusammengesetzt.“

„Was für ein Glück, dass du so muskulös bist“ meinte der. „Sonst hätten Setos Krallen viel mehr Schaden angerichtet.“

„Ja, ich weiß, ich bin super. Aber Mamas Verhalten ist auch weit weniger schlimm als es aussieht.“

„Darüber müssen wir uns unterhalten“ beschloss Yugi und ging zur Tür. „Aber erst versuche ich mal, ihn wieder auf den Boden zu holen. Ihr kommt klar?“

„Kümmere dich lieber um Seto“ bat Mokuba. „Und erschrecke dich nicht. Euer Schlafzimmer ist komplett verwüstet.“

„Ja, das geht wohl auf mein Konto“ entschuldigte Tato. So ein Orkan im Zimmer stellte eben die Möbel um.

„Macht nichts. Ich glaube, ich habe jetzt ein anderes Problem als einen Sessel, der im Vorgarten liegt. Und bevor ich es vergesse, danke für eure Hilfe.“ EEN

„Schon gut“ antwortete Tristan als Yugi an ihm vorbeiging.
 

Der musste sich tatsächlich nun weniger um ein ruiniertes Zimmer als mehr um einen ruinierten Drachen sorgen. Was Seto getan hatte oder was er tun wollte, war bereits schlimm genug. Genauso schlimm war aber seine derzeitig absehbare Talfahrt. Erst begann er zu lügen und nun verwandelte er sich in ein blutrünstiges Etwas. Ob das mit der Wassermagie zu tun hatte? War es das, wovor Sethos ihn gewarnt hatte? Aber diese Art der Verwandlung schien auch Tato schon durchgemacht zu haben, also konnte es mit Wassermagie nichts zu tun haben. Seto hatte ihm aber berichtet wie sehr er unter verstärkten Sinnen und Instinkten litt und wie schwer er sich kontrollieren konnte. Dazu noch der Zweifel an seinem Yami. Und nun auch noch seine Lügen und diese merkwürdige Aggressivität, welche ihn selbst erschreckte. Hier war nicht nur Yugis Beistand, sondern auch eine Lösungsfindung von ihm gefragt. Und er wusste nur: Seto steckte in Schwierigkeiten, aus denen er selbst nicht herausfand.

Er klopfte an die Tür, lauschte, doch von innen war nichts zu hören. „Liebling, ich bin es!“ Er drückte die Klinke, doch die Tür öffnete sich nicht. Er hatte sich eingeschlossen und war hoffentlich nicht durchs Fenster geflüchtet. „Liebling, mach auf. Ich bin es doch nur.“ Doch wieder bekam er keine Antwort. Er musste sich also selbst Zutritt verschaffen. Nur wo war der verdammte Schlüssel, den er sonst nie brauchte? Wie auch immer, Hannes hatte sicher Ersatz.

Er drehte sich um und wollte schnell die Treppe hinunter, aber direkt hinter ihm stand jemand. Geräuschlos und ohne ein Wort hatte er sich genähert, sodass Yugi ihn fast umgerannt hätte. Jedoch nur bildlich, denn so einen Riesen umzurennen, dazu musste man schon ein Elefant sein.

Auch wenn er nicht den Kopf zuerst sah, so erkannte er dennoch die ungewöhnliche Kleidung. Eine blaue Kutte mit silbern vernähten Umschlägen. Wallend lang von oben bis zum Boden. Sein Blick wanderte hinauf und fand die versteinerte Miene von einer dunkelblauen Kapuze umrandet. Die brennenden, blauen Saphire regierten gemeinsam mit dem kurz geformten Bart dieses schöne, aber leblose Gesicht.

„Seth.“ Er blickte ihm in die Augen. Plötzlich stand er da als hätte er schon immer dort gestanden. Und Yugi rätselte, ob er nun in Schwierigkeiten steckte. Yami war nicht hier, Seto war nicht zurechnungsfähig und wenn Tato auf ihn stieß, gäbe es Mord und Todschlag. Das hier war eine denkbar schlechte Situation.

„Du hast dich verändert“ stellte der Teufel mit gleichtoniger Stimme fest.

„Ja, habe ich“ erwiderte er und versuchte nicht so argwöhnisch zu klingen wie er sich fühlte. Seth strahlte außer Hitze nichts aus. Genau das war das Unheimliche. Seine äußerliche Glätte. „Was suchst du hier?“

„Ich suche nichts.“ Er betrachtete Yugi, welcher das kleine Stück bis zur Tür zurückwich, um nicht so bedrohlich nahe vor ihm zu stehen. „Yugi, du fürchtest dich vor mir.“

„Nein, das ist keine Furcht. Es sind Bedenken“ antwortete er und versuchte härter zu klingen. Vor Seth durfte er sich keine Schwäche erlauben.

„Die musst du nicht haben. Ich würde dir niemals etwas tun, solang du mich in Frieden lässt.“

„Genau das ist es. Ich muss wohl nicht nochmals erwähnen, dass das, was du tust, entgegen den Grundsätzen ist, die Yami und ich haben. Seth, dass du fort bist, macht uns alle traurig. Es reißt unsere Familie außeinander.“

„Ihr könnt jederzeit zu mir kommen. Das wisst ihr.“

„Ja, aber wir können dich nicht einfach gewähren lassen. Das weißt DU.“

„Und ihr wisst, dass ich jetzt nicht einfach alles abbrechen kann. Somit dreht sich unser Gespräch im Kreis. Pharao.“

„Seth.“ Er blickte ihn an und spürte wie die Traurigkeit Überhand gewann. „Wir lieben dich sehr und was du tust, belastet unsere ganze Familie und die unserer Freunde. Ich weiß, dass unser Einreden auf dich vergeblich ist, aber bitte komm einfach zurück und lass dir helfen. Es ist niemals zu spät, um einen Fehler zu beenden.“

„Es geht mir gut, Yugi. Und ich bin nicht hier, um mir helfen zu lassen.“

„Warum dann?“

„Seinetwegen.“ Er nickte auf die geschlossene Tür hinter welcher Seto saß und hoffentlich nichts Dummes tat. „Und bevor du mir nun unlautere Gründe unterstellst, will ich dich daran erinnern, dass ich noch immer sein Yami bin.“

„Und was soll das genau meinen? Dass du ein Anrecht auf ihn hast?“

„Nein. Dass er ein Anrecht auf mich hat“ antwortete er mit ruhiger Stimme und auch sein scharfer Blick schien sich zu entspannen. „Ich spüre, dass er sich auf einem Tiefpunkt befindet. In diesen Momenten braucht er mich.“

„Ich würde dir so gern vertrauen.“ Yugi wusste wie Seto zu Seth stand. Nämlich unentschlossen. Und ganz sicher spürte Seth das. Wenn er nun Seto auf seine Seite zog - dann war die Sache so gut wie besiegelt. Gegen zwei Priester hatte die Welt verloren. Yugi wusste, dass Seto sich Seths Meinung unparteiisch ansehen wollte, dass er sich selbst ein Bild machen wollte und dass er hierfür Yugis Unterstützung erbeten hatte. Und der hatte gehofft, dass er nicht so bald zu einer Entscheidung kommen musste. Besonders nicht zu einem Zeitpunkt, an welchem Seto so schwach war. Doch war es falsch, Seto nun zu misstrauen? Ja, er war schwach und ja, er war beeinflussbar. Doch an einem zweifelte Yugi nicht - nämlich daran, dass sein Engel niemals einem anderen Lebewesen Tod oder Qual bringen würde. Auch von Seth hatte man das nie geglaubt, doch Seth war in seinen Ansichten, in seiner Verehrung für den Pharao schon immer extrem religiös gewesen. Ebenso extrem wie Setos Liebe zu den Unschuldigen und Wehrlosen. Vielleicht wäre es nicht Seth, welcher Seto beeinflusste. Vielleicht wäre es Seto, welcher Seth beeinflusste.

„Du willst zu ihm“ unterstellte er und spürte die geschlossene Tür im Rücken. „Es geht ihm schlecht.“

„Ich weiß. Aber ich will dich nicht bitten, mich zu ihm zu lassen. Dass ich mich bei dir anmelde, ist reine Höflichkeit.“

Nun sah sich Yugi im Entscheidungszwang. Traute er Seto zu, sich dem negativen Einfluss seines Yamis zu entziehen? Besonders in diesem schwachen Moment? Allein dass er ihm bedenkenlos ins Gesicht gelogen hatte, war ein Fakt, welcher dagegen stand. Zum Glück war Seto, wenn man ihn gut genug kannte, ein schlechter Lügner. Doch wenn er seinem eigenen Mann, seinem eigenen Priester misstraute … würden sie dann überhaupt noch Seite an Seite stehen? Oder würde er damit entscheiden, sie auf verschiedene Seiten zu stellen?

Er seufzte und schaltete den Kopf aus. Er fühlte sein Herz. Kein Fakt der Welt konnte beeinflussen, was er fühlte. Auch wenn ihre Yamis ihnen ähnlich waren, so waren sie doch andere Personen, andere Charaktere mit einer anderen Vergangenheit und anderen Gefühlen. Was mit ihren Yamis geschah, konnte eine Warnung an sie sein. Konnte. Doch es musste nicht. Und Yugis zwei Herzen sprachen zu ihm: Vertraue.

„In Ordnung.“ Er gab die Tür frei, indem er einen Schritt beiseite ging und ihn durchließ. „Aber bitte rede ihm nichts ein. Du weißt wie leicht er zu beeinflussen ist.“

„Ich habe ihn immer zu einer eigenen Meinung ermutigt. Und ich würde ihn niemals zu etwas zwingen“ widersprach er und im Gegensatz zu Yugi konnte er auch problemlos die Tür öffnen. Er schob allein in Gedanken das Schloss zurück und schon konnte er eintreten. Yugi mit seiner wenigen Magie hätte höchstens die Energien mobilisieren können, damit sie das Schloss beeinflussten, aber so schnell wie Seth war er nur mit Schlüssel.

Ohne ihm noch ein Wort oder einen Blick zu schenken, schloss Seth die Tür hinter sich, sodass Yugi außen vor blieb.
 

Innen saß Seto auf dem Bett, welches schief in der Zimmermitte stand und starrte auf den blutbefleckten Boden. Doch nun hob er seine verweinten Augen und sah die Gestalt seines Yamis. Die hohe Figur, die lange Kutte und in diesem Moment hob er die Kapuze von seinem Haupt und zeigte sein schulterlang gewachsenes Haar. Er sah besser aus als noch beim letzten Mal. Er hatte mehr Farbe und ein erholtes Gesicht.

„Seth …“ Was sollte er nun tun? Aufstehen und davonrennen? Heulen? Schimpfen? Ihn schütteln und um Vernunft anflehen? Oder sich einfach dem Impuls nach an seine Brust werfen? „Was willst du hier?“

„Ich bin deinetwegen gekommen. Seto. Ich setze mich zur dir, in Ordnung?“

So sehr Seto auch Bedenken hatte, so fühlte er dennoch keine Angst. Selbst bei den anderen hatte er eben Angst bekommen. Mokuba konnte nicht mal den Kieferabdruck an seiner Kehle abheilen, so sehr sträubte sich alles gegen andere Nähe. Doch als Seth sich zu ihm setzte, fühlte er keinerlei Abscheu. Dabei sollte er doch vor ihm mehr Vorsicht walten lassen als bei seinem kleinen Bruder. Er konnte es sich nicht erklären und im Augenblick fehlte ihm auch der Kopf, um nach Erklärungen zu suchen. Er wusste nur, dass Seths Nähe gut tat.

„Tut’s weh?“ Er legte seine warmen Fingerspitzen an Setos Kinn und drehte den Kopf etwas nach rechts. Dort sah er halb am Hals, halb im Nacken deutliche Gebissabdrücke. Doch bluten tat es nicht mehr, die Wunde begann bereits mit einer schnellen Heilung, da Mokuba es zumindest versucht hatte. „Er hat dich ziemlich gut erwischt.“

„Es war gut so.“ Er drehte seinen Kopf zurück und sah Seth tief in die Augen. Sein Blick war warm und in sich ruhend. Wie Glut, welche in dunkler Nacht vor sich hin glomm. Angenehm. Er sah seinem Yami gern in die Augen. Es beruhigte.

Der nahm seinen Ellenbogen und betrachtete die weiße, ledrige Haut, welche sich von den Fingerspitzen den Unterarm hinaufzog. Selbst seine Fingernägel hatten eine glasige, milchige Farbe und waren etwas dicker als normal. „Hast du dich verwandelt?“

„Ich weiß nicht. So halb“ antwortete er unsicher. „Weißt du etwas darüber?“

„Nein, tut mir leid. Das ist mir neu …“

„Tato schien etwas zu wissen.“

„Hm.“ Er legte seine warmen Hände um die weiße Linke. Er hielt sie, streichelte sie und es tat Seto gut. Die Wärme und die Vertrautheit dieser Hände flößten ihm eine Erinnerung vergangener Tage ein. Als er und Seth noch eins waren. Als sie einen Körper teilten und ihre Seelen sich umarmten. Diese Nähe schlich sich zurück und er schloss langsam die Augen, seufzte und entspannte sich.

Leider ließ Seth seine Hand schon wieder los und Seto blickte verwundert darauf herab. Sein linker Arm war wieder so wie er sein sollte. Auch der rechte. Alles war wieder normal.

„Du musstest dich wohl nur etwas beruhigen“ schlussfolgerte Seth und widmete ihm einen dieser vertrauten, sanftmütigen Blicke. „Beruhige dich, Seto. Ich bin nicht hier, um dir etwas anzutun oder einzureden. Ich möchte nur wissen, weshalb so beunruhigende Gefühle von dir bis zu mir dringen.“

„Ich habe mein Leben nicht im Griff“ gestand er und stützte die Stirn in die Hände. Er wusste, er sollte es nicht tun, doch Seths Zuwendung tat so gut. Seth war der einzige Mensch, dem er alles sagen konnte. Der einzige, der alles von ihm wusste. Weil sie ein Stück Seele teilten. Schon immer und für ewig. „Erst verlässt du uns und tust so schreckliche Dinge, dass ich dich gar nicht wiedererkenne. Dann tauchen unsere Kinder aus der Zukunft auf und bezeugen, dass du die Apokalypse herbeiführst. Dann ziehen wir in diese gottverlassene Gegend, wo man nichts anderes tun kann als Kühe füttern und seinen Gedanken nachhängen. Dann kommen wir nach Blekinge und alles wird nur noch schlimmer. Yami verstößt dich, Sethan verkriecht sich immer mehr in sich selbst, Tato säuft sich das Hirn weg und mein Leben wird auch nicht besser. Ich bekomme einen Brief von meiner Mutter und sie sagt, dass sie mich liebt und dass ich meine Großmutter besuchen soll. Und dann öffnen Yugi und Sethos mir den Weg zur Wassermagie, weil mir dein alter Körper das ermöglicht. Und dann erwache ich wieder und erfahre, dass Sethos halb tot ist und Seth stellt so merkwürdige Bedingungen. Und ich komme mit all dem nicht klar. Und dann verändert Yugi sich auch noch und ich fühle mich überhaupt nicht mehr wohl bei ihm. Jetzt fühle ich mich so verloren. Mein ganzes Leben hat sich umgedreht, nichts ist so wie es sein sollte. Meine Sinne und meine Instinkte übermannen mich und dann mutiere ich immer mehr zu einem Monster ohne Sinn und Verstand. Ich weiß einfach nicht, wo das alles hinführen soll. Am liebsten würde ich mich einfach umbringen und mein Herz zerstören, damit ich für immer zergehe und nie wieder zurückkehre. Das wird mir alles zu viel. Und ich mache es nur noch schlimmer.“

„Den wichtigsten Fakt hast du vergessen“ erwiderte Seth mit glimmender, zärtlicher Stimme. „Du hast Yugi dein Herz anvertraut. Auf ewig.“

„Das ist das Schlimmste von allem. Ich habe nicht das Gefühl, dass mein Herz an der falschen Stelle ist. Aber ich kann Yugi nicht ansehen und bei seiner Nähe wird mir speiübel. Das passt doch nicht zusammen.“

„Du bist nicht gewalttätig und doch greifst du einen wehrlosen, alten Mann an. Du liebst deinen Sohn und doch hättest du ihn fast umgebracht. Genau wie Joey damals, den du auch liebst. Passt das zusammen?“

„DAS IST ES DOCH! ICH HABE MICH NICHT UNTER KONTROLLE! ICH MUTIERE ZU EINEM MONSTER! IMMER WIEDER! UND IMMER SCHLIMMER!“

„Bleib ruhig. Wenn du dich aufregst, verschlimmerst du es nur. Komm her.“ Er breitete seine Arme aus und wie von selbst sank Seto hinein. Er lehnte sich an die warme Brust und roch Seths vertrauten Duft. Seine Nähe tat so gut. Sie beruhigte seinen Puls und machte das Atmen freier. Er schloss die Augen und fühlte wie warme Finger durch sein Haar fuhren. Die Welt nahm Abstand und es gab nur noch sie beide. Genau wie früher. Die ganze Menschheit, alle Sorgen und Ängste blieben außen vor und überließen ihn ganz diesen trostreichen Händen und den kräftigen Lippen, welche sich auf seine legten. Seths Zunge war heiß und sein Atem tropisch. Es war ein gutes Gefühl, über den Stoff seiner Schultern zu streichen und seine Wärme zu spüren. Er ließ sich aufs Bett sinken und genoss den schützenden Körper, der sich über ihn legte und seinen gebissenen Nacken liebkoste.

Leider hob Seth sich von ihm ab und ließ ihn mitten in seiner Entspannungsphase ungeküsst. „Du solltest mit Yugi sprechen“ riet seine sanfte, laue Stimme. „Du musst deine Sorgen nicht allein tragen. Ich bin für dich da. Aber du gehörst deinem Pharao. Egal wie sehr du dich schämst, du musst ihm Einblick in dein Selbst gewähren. Er leitet dich an.“

„Das kann ich nicht“ wisperte er. „Ich kann nicht immer Yugi alles aufbürden. Nur weil ich so unfähig bin.“

„Du bist nicht unfähig. Warum sagst du das?“

„Weil ich gar nichts kann“ erwiderte er gebrochenen Mutes. „Ich kann Sethos nicht helfen. Ich kann Sethan nicht helfen. Niemandem kann ich helfen. Ja, ich kann ja nicht mal Feli beschützen.“

„Feli?“

„Wir wissen nicht, wer sie entführen wollte. Und ich … egal wie sehr ich darauf herumdenke, ich kann nichts dagegen tun, dass sie bedroht wird. Alle sagen, ich sei so mächtig und kann nicht mal das.“

„Wenn das alles ist.“ Da musste Seth doch leicht lächeln. „Darum mach dir keine Sorgen.“

„Seth …?“ Und dieses Lächeln verunsicherte ihn etwas.

„Felicitas ist meine Neffin. Die Tochter des Bruders meiner Frau und obendrein die Tochter meines liebsten Freundes. Glaubst du, ich lasse es zu, dass man ihr etwas antut?“

„Weißt du, wer dahinter steckt?“

„Ja, aber darum musst du dich nicht sorgen. Ich habe mich bereits um ihn gekümmert.“

„Du hast … Seth …“ Er rückte zögerlich von ihm fort, doch Seth wusste, was Seto dachte. Und er konnte ihn beruhigen.

„Ich habe ihn nicht getötet, falls du das denkst. Aber er wird euch nicht weiter bedrohen. Bitte vertraue mir doch einfach etwas mehr, Kleiner.“

„Genau das meine ich doch.“ Seto schloss die Augen und zwang die Tränen zurück. Er wollte nicht immer weinen. Er wollte nicht immer Schwäche zeigen. „Ich sollte in der Lage sein, meine Familie selbst zu beschützen. Stattdessen tun das ständig andere für mich. Das muss aufhören.“ Er strich sich die entkommene Träne fort und schluckte den Schmerz. „Ich muss zurückstecken und mich einfach noch mehr zusammenreißen. Ich muss mich anstrengen. Mich unter Kontrolle haben.“

„Wenn du so denkst, bist du ein Kindskopf. Du solltest nicht versuchen, den Weg des Einzelgängers zu beschreiten. Du brauchst deinen Pharao und er braucht dich. Glaube mir.“

„Und du tust selbst nicht, was du mir rätst.“

„Bei mir liegt die Sache anders. Lass uns nicht darüber streiten, Kleiner.“

„Seth …“ Nein, er wollte nicht weinen. Er wollte es einfach nicht. Aber er fühlte sich so hilflos. So hilflos allem gegenüber. „Bitte geh nicht wieder fort. Ich schaffe das nicht allein.“

„Schscht.“ Er küsste ihn und beruhigte seinen Herzschlag. „Komm zur Ruhe. Dann weißt du, was du tun musst.“

„Seth …“

„Ich weiß, Kleiner. Ich weiß.“ So sehr Seto ihn moralisch verachten sollte, er konnte es nicht. Seth war sein Yami. Niemals konnte etwas zwischen sie kommen. Nicht einmal sie selbst. Er durfte Seth nicht verurteilen. Der tat es auch nicht mit ihm.

„Ich möchte mit dir kommen.“ Seto löste den Kuss und sah ihn ruhiger als zuvor an. Als Seth etwas sagen wollte, legte er ihm den Finger über die feuchten Lippen und sah ihm tief in die Augen. „Ich will sehen, was du tust. Zeig mir, deine Welt.“

„Ich denke, es ist niemand einverstanden mit dem, was ich tue.“

„Dass ich einverstanden bin, kann ich auch nicht bejahen. Aber ich urteile nicht über dich. Das kann ich nicht. Nicht so. Ich will sehen, weshalb du uns verlässt. Ich bin ein Teil deiner Seele. Du kannst mich nicht ahnungslos zurücklassen. Du musst mich mit dir nehmen.“

„Ich habe nie gesagt, ich würde dich zurücklassen.“ Freude war in Seths Gesicht nicht zu lesen. Jedoch eine gewisse Freundlichkeit als Seto seinen kurzen Bart nachstrich. „Doch ich habe mein Umfeld derzeit noch nicht so unter Kontrolle, dass ich einen von euch beherbergen könnte.“

„Dann kann ich nicht mit dir kommen? Du sagtest doch, wir könnten mit dir gehen. Mokeph hast du es sogar angeboten.“

„Mokeph ist mein Bruder, das ist etwas anderes. Ihr könnt mich treffen, zu mir kommen, aber nicht mit mir. Noch nicht. Vielleicht später. Dann urteile selbst über mein Vorhaben.“

„Dass du Menschen tötest, werde ich niemals gutheißen.“

„Ich habe nie gesagt, ich würde es gern tun. Das Töten bereitet mir keine Freude. Jedoch akzeptiere ich deine Meinung, solang du mich nicht sabotierst. Und wenn du aus freiem Willen zu dem Schluss kommst, dass du mich auf meinem Wege begleiten möchtest, so bist du mir umso willkommener.“

„Und wenn ich zu dem Schluss komme, dass ich mich dir auch in Yugis Namen entgegenstellen muss?“

„Dann haben wir keine andere Situation als jetzt auch.“

„Nein, danach wäre es anders“ flüsterte Seto und sank zurück mit dem Kopf auf die Matratze. „Ich kann danach nicht mehr in deinen Armen liegen. Ich will nicht dein Feind sein. Vielleicht scheue ich mich deshalb davor, mir eine Meinung zu bilden. Ich will nicht, dass wir Feinde werden …“

„Du wirst niemals mein Feind sein“ versprach Seth und küsste mit sanften Lippen die kühle Stirn. „Ich kämpfe für meine Überzeugung und du tust dasselbe. In diesem Punkt gleichen wir uns. Und wenn wir uns auch dabei gegenseitig umbringen, wir werden niemals verfeindet sein. Das verspreche ich dir.“

„Okay“ hauchte er und schloss die Augen. „Lass uns niemals Feinde sein.“

Er fühlte tief in sich einen Stein ins Rollen kommen. Genau dieses Versprechen befreite ihn für einen Moment von allen Ängsten. Er wollte nicht Seths Feind sein. Und selbst wenn sie sich gegenseitig töten mussten - sie würden niemals Feinde sein. Seth und er hatten sich ein Versprechen gegeben. Auch im Kampf würden sie sich lieben …
 


 

Chapter 45
 

Irgendwann hielt Yugi es nicht mehr aus. Kein Geräusch drang aus dem Zimmer und Seto mit Seth ganz allein zu lassen, machte ihm doch mehr als nur Bedenken. Er klopfte an die Tür, doch selbst dann hörte er nichts.

„Meinst du, er ist noch da?“ fragte Yami, der mit Yugi gemeinsam vor der Tür lauerte. Gemeinsam mit Mokeph und Mokuba, welche auch keine ruhige Minute fanden. Seths Anwesenheit versetzte alle in Alarmbereitschaft, doch wenn alle vor der Tür hockten, brachte das auch niemanden weiter. Schließlich schien er nicht in böser Absicht gekommen zu sein.

„Mir reicht es jetzt. Ich gucke rein.“ Yugi fasste sich ein Herz und eine Türklinke und öffnete. Erst lauschte er, doch es drang noch immer kein Ton heraus. „Liebling? Alles in Ordnung?“ Er schaute gaaaaanz vorsichtig um die Ecke und sah das noch immer verwüstete Zimmer. Doch Seth war fort. Stattdessen saß Seto allein auf dem Bett, welches schief mitten im Raum stand. Seine weißen Arme hatten wieder eine normale Farbe und auch sein Blick strahlte mehr Ruhe aus. „Ist Seth weg?“

„Ja, schon eine Weile“ antwortete er und hörte das Aufatmen von draußen.

„Was wollte er denn?“ Yami drängelte sich an Yugi vorbei und war erst mal über das Zimmer verdutzt. „My dear Mr. Singingclub, ihr habt ja ganz schön gewütet.“

„Yami, Fettnapf“ versetzte Yugi von hinten.

„Schon gut. Er hat ja Recht“ seufzte Seto und lehnte sich etwas nach vorn in den Schneidersitz. „Kann ich mit dir reden, Yugi? Oder bist du noch zu böse auf mich?“

„Ich bin erleichtert, dass dir nichts passiert ist, mein Herz.“

„Na gut“ beschloss Yami und schluckte sowohl seine Enttäuschung als auch seine Erleichterung runter. Er hätte Seth gern gesehen und versucht, mit ihm ein klärendes Wort zu sprechen. „Ich fahre jetzt ins Aquarium, okay?“

„Du brauchst doch sicher jemanden, der dich fährt, während Finn arbeiten muss“ bot Mokeph gleich an und wurde von Yami schon am Arm gepackt.

„Du bist so ein Schatz!“

Nur Mokuba kam Yugi nach und blickte seinen großen Bruder vorsichtig an. Vielleicht konnte er ihn noch etwas beruhigen. „Ich wollte nur sagen, dass es Tato gut geht. Er schläft jetzt, heute Abend ist er wieder auf dem Damm. Er sagt, du musst dir keine Gedanken machen. Das was da … passiert ist … das sei nicht so ungewöhnlich.“

„Danke.“ Und dieses Danke klang nach mehr als nur einem Danke für die Info. Eher dafür, dass er immer dann zur Stelle war, wenn es drauf ankam. Ohne Mokuba wären einige Situationen in seinem Leben ganz anders ausgegangen.

„Was macht dein Kopf, Großer? Hast du noch Schmerzen?“

„Geht schon.“

„Aber ich konnte dich nicht zu Ende heilen, weil …“ … weil er ihn nicht gelassen hatte. Seto wehrte sich gegen jede Berührung. „Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen.“

„Ich habe schon Schlimmeres überlebt. Außerdem geht es wirklich.“

„Na gut …“ Wenn er es sagte. Dennoch würde er sich später nochmals von der Richtigkeit dieser Aussage überzeugen wollen. „Ich hole jetzt die Kinder vom Kindergarten ab. Wir gehen hinterher noch Eis essen. In Ordnung?“

„Ja, ist in Ordnung“ meinte Yugi und setzte sich zu Seto aufs Bett. Erst als Mokuba die Tür geschlossen hatte, sah er ihm in die Augen. „Und wie geht’s dir, Engelchen?“

„Ich bin ruhiger“ erwiderte er und sah schuldbewusst auf die Matratze. „Du willst sicher wissen, was los war. Und was Seth gesagt hat.“

„Neugierig bin ich schon. Aber ich will dich nicht zwingen, etwas zu erzählen. Ich glaube, ich habe dich vorhin ziemlich unter Druck gesetzt. Das tut mir leid.“

„Nicht!“ Er zog die Hände zurück als Yugi sie greifen wollte. Doch dann atmete er tief durch und kämpfte um seine labile Fassung. „Entschuldigung. Ich … ich kann das jetzt nicht. Ich bin ziemlich angespannt.“

„Okay. Entschuldige.“ Yuhi behielt also seine Hände bei sich und rutschte auch ein Stück weg. Er fühlte eine gewisse Enttäuschung darüber, dass Seto auf Abstand ging. Doch auch eine gewisse Entlastung, da er jetzt aufrichtig zu sprechen schien und sagte, was Sache war. Er setzte sich ans Fußende und ihm damit direkt gegenüber. Nur den Blick ließ er durchs Zimmer schweifen, wollte ihn nicht auch noch mit zu viel Augenkontakt einengen.

„Seth wollte mich nicht mitnehmen“ gestand er mit gefühlsarmer Stimme. „Ich habe ihm gesagt, dass er mich mitnehmen soll, aber er wollte nicht. Er sagte, ich kann ihn treffen, aber ich kann nicht bei ihm bleiben. Er sagte, vielleicht später irgendwann. Du bist sicher erleichtert, dass du darüber jetzt nicht mehr nachdenken musst.“

„Um ehrlich zu sein schon ein bisschen. Aber für dich tut es mir leid. Dass er deine Gesellschaft abgelehnt hat, obwohl er Mokeph schon angeboten hat, mitzukommen … wie fühlst du dich denn dabei?“

„Gar nicht so schlimm wie ich dachte. Vielleicht brauche ich gar nicht mit ihm gehen und mir eine Meinung bilden. Ich glaube, es war etwas ganz anderes, was mir fehlte.“

„Und … was?“ Nachdem Seto heute Mittag so offensichtlich gelogen hatte, schien er jetzt erstaunlich offen. Und nachdem er so gewütet hatte, schien er erstaunlich ruhig. Etwas war mit ihm geschehen.

„Ich glaube, meine wahre Angst bestand darin, dass Seth und ich uns nicht mehr lieben … dass wir Feinde sein würden …“ beichtete er und knetete den Saum seiner dunkelblauen Hose. Er war angespannt, aber doch zugänglich. Er wusste, er musste mit Yugi sprechen. Daran führte kein Weg vorbei.

„Und Seth sieht dich nicht als Feind? Hat er das gesagt?“

„So etwas ähnliches. Er sagte, er kämpft für seine Überzeugung und ich für meine. Und er sagte, auch wenn wir uns gegenseitig umbringen sollten, werden wir keine Feinde sein. Es ist albern, aber irgendwie hat mich das erleichtert.“

„Nein, das ist nicht albern.“ Er würde so gern seine heimatlosen Hände greifen. Ihn in den Arm nehmen. Ihn beschützen und trösten. Doch Yugi musste an sich halten und den Abstand wahren, den Seto brauchte. „Daran, dass Seth dich liebt, hat niemals jemand gezweifelt. Niemand außer dir anscheinend.“

„Er zieht Yami vor. Aber das hat er immer schon. Und auch wenn Seth so schlimme Dinge tut, hat sich das Gefühl zwischen uns nicht verändert. Ich glaube, er erwartet sogar von mir, dass ich nur das tue, was für mich das Richtige ist. Wenn das bedeutet, dass wir auf verschiedenen Seiten stehen und gegeneinander kämpfen müssen, dann muss das wohl so sein. Aber er hat mir klargemacht, dass er mich liebt. Selbst wenn er mich töten würde, ändert das nichts daran, dass er mich liebt. Das weiß ich jetzt. Und ich glaube, er weiß dasselbe.“

„Das klingt als hättest du damit abgeschlossen, dass ihr eventuell …“

„Dass wir uns eventuell gegenseitig töten?“ fragte er und sah mit Tränen in den Augen auf seine Finger. „Nein, damit habe ich nicht abgeschlossen. Aber ich habe akzeptiert, dass er ebenso seine Überzeugung hat wie ich. Ich will die Welt so gestalten, dass du und meine Familie darin glücklich leben können und von niemandem schlecht behandelt werden. Dafür würde ich alles tun. Und genau dasselbe denkt Seth auch. Auch wenn die Auswirkungen unterschiedlich sind, sind es unsere Überzeugungen nicht. Er glaubt, dass Yami nur in einer Welt glücklich wäre, in welcher er als Pharao herrscht und von jedem als Majestät anerkannt und verehrt wird. Diese Welt zu installieren, ist, was er bezweckt. Und sein Heimweh tut das Übrige. Ich aber bezwecke, dass du, egal in welchem Umfeld, deine eigene Meinung entfalten kannst und mir selbst diese wichtiger ist als alles andere. Im Gegensatz zu Seth habe ich keine streng religiöse Überzeugung und auch keine Heimat, nach der ich mich sehnen könnte. Du bist meine Religion und du bist meine Heimat. Deshalb könnte ich mir gar keine Meinung bilden. Weil mir die Orientierung fehlt. Du bist die einzige Orientierung, die ich habe. Seth hat von früh auf gelernt, wie man den Pharao behandelt, hat sich nach Geboten gerichtet und gelernt, die Befolgung derer einzufordern. Er glaubt wirklich und wahrhaftig, dass es genau dies ist, was sein Pharao braucht. Weil er zuerst die Gebote gelernt hat und danach das Wort seines Pharaos. Das ist bei mir anders. Bei mir gab es vor dir nichts. Und deshalb könnte ich niemals eine Weltanschauung vertreten, welche du mir nicht gibst. Und damit glaube ich, dass ich nicht nach einer Überzeugung gesucht habe. Ich habe mich gar nicht danach gefragt, ob es richtig oder falsch ist was Seth tut. Ich habe nicht danach gesucht, mich von ihm abzugrenzen oder mich ihm anzuschließen. Ich wollte nur einfach sicher sein, dass ich noch immer ein Teil von ihm bin und dass er mich liebt. Und wenn ich mich tatsächlich eines schlimmen Tages gegen ihn stellen müsste, dann weiß ich jetzt, dass ich nicht gegen meinen Yami kämpfe, sondern für meine Überzeugung. Ebenso wie er nicht gegen mich kämpft, sondern, genau wie ich, für seine Überzeugung. Und jetzt, wo ich zu diesem Entschluss gekommen bin, werde ich mich auch nicht mehr gegen dich stellen. Weil deine Meinung das ist, was ich verteidigen will. Monolog Ende.“

Yugi dachte über diese Worte nach. Natürlich war er froh, dass Seth offensichtlich den Stein von Setos Seele genommen und ihn freigegeben hatte. Doch eines war ihm noch wichtig zu sagen: „Liebling, ich möchte aber, dass du deine eigene Meinung hast. Du sollst mir gar nicht willenlos folgen. Ich brauche auch deinen Rat.“

„Ich weiß.“ Er sah kurz auf, traf ganz kurz Yugis Blick und sah dann mit einem Seufzen zurück auf seine Füße. „Ich weiß, dass du keinen hörigen Jasager gebrauchen kannst. Ich könnte meine Meinung auch gar nicht immer zurückhalten. Doch ich habe den Unterschied zwischen Meinung und Überzeugung erkannt. Meine Meinung ist noch immer, dass ich nicht entscheiden kann, ob Seths Handeln böse oder gerechtfertigt ist. Aber meine Überzeugung ist, dass ich ihn keine Welt installieren lasse, in welcher du ausdrücklich unglücklich wärst. Das ist es, was ich sagen wollte.“

„Und wie fühlst du dich dabei?“

„Erleichtert.“ Er wischte sich die Tränen fort, bevor sie kullern konnten. Seine Stimme klang zwar ohne Emotion, jedoch seine Augen sprachen alles aus.

„Und kann ich etwas für dich tun? Dich in den Arm nehmen? Oder dich allein lassen? Dir etwas kochen? Irgendwas, damit du dich besser fühlst?“

„Du musst mir ein Versprechen geben. Bitte.“ Er sah erneut auf und bemühte sich, Yugis Blick nun etwas länger standzuhalten.

„Ein Versprechen“ wiederholte er und sah sowohl Hoffnung als auch einen Funken Furcht in diesen artkisblauen Augen. „Und was für eines?“

„Erst musst du es versprechen. Vorher kann ich dir nicht sagen, was du versprochen hast.“

„Ich soll dir etwas versprechen, ohne zu wissen, worum es geht?“

„Ja … ich glaube, dann würde es mir viel besser gehen. Es sei denn … also … musst auch nichts versprechen. Ist ja auch doof, wenn … ich meine … eigentlich …“

„Nein, ich vertraue dir.“ Er lehnte sich zu ihm, doch stoppte im letzten Moment. Er durfte Setos Hände nicht greifen, ihn nicht umarmen. Er musste sich zurückhalten, so sehr es ihn auch drängte. Er musste Setos Bitte akzeptieren. „Und damit du siehst, wie sehr ich dir vertraue, verspreche ich es dir. Ich weiß zwar nicht was, aber ich verspreche es. Ganz fest. Okay?“ Doch eines konnte er tun. Er hielt Seto den kleinen Finger hin und setzte ein sanftes, zärtliches Lächeln für ihn auf. „Versprochen ist versprochen.“

Seto zuckte kurz, bevor er er seine Hand hob. Aber er hob sie und hakte Yugis Finger ein. „Und wird nicht gebrochen“ ergänzte er und klammerte diese kleine Geste ganz fest.

„Nein, wird nicht gebrochen“ versprach Yugi und ließ ihn wieder frei. Nun wollte er aber auch wissen, was er versprochen hatte. „Und zu was habe ich mich jetzt verpflichtet?“

„Dass du dich nicht wieder zurückwünschst“ antwortete er und zog beide Arme eng um seinen Bauch. Das hier fiel ihm viel schwerer als das Geständnis zuvor.

Yugi jedoch konnte mit diesem Satz nicht sofort etwas anfangen. „Mich nicht zurückwünschen?“

„Feli ist eine Fee und Sethos sagte mir, dass der Zauber, mit dem sie deinen Körper verwandelt hat, keine Negativfolgen oder Nachteile birgt. Es ist tatsächlich alles so wie du es haben wolltest.“

„Das hätte ich dir auch sagen können, mein Engel“ lächelte er sanft. „Nur warum siehst du dabei so bedröppelt aus? Verunsichert dich mein Körper?“

„Ja, sehr“ quetschte er leise heraus. „Du hast drei Tage Zeit, dich zurückzuwünschen. Also nur noch bis zum Anbruch des morgigen Abends. Danach bleibt alles so wie es ist.“

„Deshalb hat Nikas Verwandlung wohl auch drei Tage gebraucht. Ich meine, erst drei Tage nachdem Feli entführt werden sollte, wurde sie wieder ein Mann …“

„Ja. Obwohl da wohl etwas durcheinander gegangen ist, das ist diese Dreitageregel.“

„Und du … würdest du denn wollen, dass ich mich zurückwünsche?“

„NEIN! Genau das hast du mir doch gerade versprochen!“ fügte er schnell hinzu und suchte eilig Yugis Augenkontakt. „Du hast versprochen, das du so bleibst.“

„Okay …?“ Und warum genau sah Seto nun so gehetzt aus? „Und … weshalb? Ich meine … hat dir der neue kleine Yugi doch nicht so gut gefallen?“

„Nein … nein … über … überhaupt nicht“ stotterte er und senkte das Gesicht so tief, dass Yugi nicht mehr hineinsehen könnte. „Bitte sei nicht böse. Lass mich ausreden, ja? Bitte nicht böse sein.“

„Ich bin doch nicht böse … Liebling, was ist denn?“

„Ich ekele mich vor dir“ hauchte er so leise, dass Yugi es fast nicht hörte.

„Du ekelst dich? Vor mir?“

„Mir wird übel, wenn du mich anfassen willst. Ich … ich komme nicht damit klar. Mit deinem Körper. Ich meine, ich liebe dich über alles. Aber das … ich komme da nicht so schnell mit. Ich … ich habe so eine Abscheu, die ich nicht erklären kann.“

„Aber wenn du dich vor meinem Körper scheust, warum kommt das jetzt erst? Ich meine, wir haben doch schon miteinander geschlafen. Warum kommt das jetzt erst?“

„Das war vorher auch schon so. Ich habe es ja versucht. Ich meine … ich … ich habe … ich wollte ja. Aber alles ist so anders. Und ich … ich kann dich nicht anfassen. Ich kann dich nicht mal richtig angucken. Alles in mir sträubt sich.“

Das musste Yugi erst mal schlucken, bevor er versuchen konnte, es zu verstehen. Seto ekelte sich also vor ihm? Das kam überraschend. „Aber du hast doch mit mir geschlafen. Und … du hattest gestern damit noch keine Probleme. Und heute hast du mich geküsst …“

„Ich …“ Er ärgerte sich, dass seine Stimme hell wurde und quietschte. Und er ärgerte sich, dass er schon wieder weinte. Er würde so gern ruhiger wirken, doch das hier war alles, was er an Beherrschung aufbieten konnte. „Ich hatte Probleme. Aber ich habe dich angelogen. Ich war nicht erregt. Ich habe das alles nur gespielt.“

„Du hast das gespielt? Aber du hast gestöhnt und … Liebling, du bist doch mit mir zusammen gekommen.“

„Nein, bin ich nicht. Ich habe nur so getan. Deswegen habe ich mich doch umgedreht. Damit du mich nicht siehst. Und damit ich dich nicht sehe. Ich habe dich angelogen. ES TUT MIR SO LEID! ICH WUSSTE NICHT, WAS ICH TUN SOLLTE!“ Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Seine Beherrschung verließ ihn. Und er wollte doch ruhig mit Yugi sprechen. Und nun flüsterte er und schrie und zitterte. Er fühlte sich so elend.

„Du hättest mir einfach sagen müssen, dass du nicht kannst oder nicht willst oder was auch immer. Du musst doch nicht mit mir schlafen, nur weil …“

„ABER ICH WOLLTE DICH GLÜCKLICH MACHEN! ABER DAS KONNTE ICH NICHT! ICH WUSSTE NICHT … ICH KONNTE NICHT ANDERS! AAHH!“

„Und der Orgasmus, den du hattest? War der auch gespielt?“

„ES TUT MIR SO LEID! YUGI, ICH LIEBE DICH! ICH LIEBE DICH DOCH!“

„Ist gut. Hör auf zu weinen.“ Er wollte ihm die Hand aufs Knie legen, doch das würde alles nur noch schlimmer machen. Seto ekelte sich vor ihm. Das war schwer zu ertragen. Für beide. „Hast du deshalb die Schlaftabletten genommen? Konntest du sonst nicht neben mir liegen?“

Seto schluchzte und zitterte wie Herbstlaub. Das allein war Antwort genug.

Yugi seufzte und faltete die Hände. Seine größeren Hände, welche Seto nicht auf seinem Körper ertrug. Er selbst hatte sich so gefreut, dass sein Traum endlich wahr wurde und er so aussah wie er sich fühlte. Zwar hatte er vermutet, dass Seto damit ein paar Probleme haben könnte oder sich vielleicht erst daran gewöhnen musste. Doch dass er sich so sehr ekelte und sich dabei selbst so unter Druck gesetzt fühlte. „Das tut mir leid“ sagte er mit leiser Stimme. „Ich habe nicht gesehen wie unwohl du dich fühlst. Ich habe nur mich selbst gesehen. Es tut mir leid, Liebling.“

„Nein, es ist meine Schuld. Ganz alleine meine“ weinte er und hielt die Hände vors Gesicht. „Ich wollte dir das nicht sagen, aber … aber …“

„Nein, es ist gut, dass du es mir sagst. Aber du hättest nicht mit mir schlafen dürfen, wenn es dir unangenehm ist. Du hättest früher mit mir sprechen müssen.“

„Aber ich liebe dich. Ich liebe dich doch. Über alles. Es ist alles meine Schuld.“

„Nein, ich bin mindestens genauso schuldig. Liebling, habe ich dich so unter Druck gesetzt mit meinem Wunsch?“

„Nein, du warst … ich … ich war … ich weiß nicht. Ich liebe dich. Ich bin gar nichts ohne dich. Ich liebe dich und … ich muss doch Gefühle haben. Warum nur?“

„Liebling, wenn es dir so schlecht dabei geht, werde ich mich doch zurückwünschen.“

„NEEEIIIN!“ rief er und sah ihn fiebrig an. Er atmete schwer in seine Brust und ballte die Fäuste. „Dhas dharfst dhu nhicht. Dhu hast hes vhersprhochen.“

„Ist gut. Ganz ruhig.“ Seto sah aus als würde er jeden Moment kollabieren. „Aber wenn es dir so schlecht dabei geht und du lügen musst ...“

„DU HAST ES VERSPROCHEN!“

„Aber warum ist dir das so wichtig?“

Er löste die Hände und es kullerten wieder einige Tränchen nach. Er war hin und her gerissen zwischen den vielen Gefühlen. „Weil es dir wichtig ist.“

„Nichts ist mir so wichtig wie du. Das solltest du doch wissen.“

„Genau das ist das Problem! Immer tust du alles für mich! Ich will auch etwas für dich tun!“

„Aber einen Orgasmus vorzuspielen und nur unter Schlaftabletten neben mir zu liegen, ist nichts, was ich mir wünsche. Und weniger als alles andere wünsche ich mir, dass du dich zu Sex zwingst.“

„Ich werde mich daran gewöhnen. Aber bitte wünsche dich nicht zurück. Bitte Yugi. Bitte gib mir eine Chance. Bitte. Du hast es versprochen. Du hast gesagt, du vertraust mir. Du hast es versprochen. Versprochen. Versprochen.“

„Beruhige dich. Atme durch.“ Er atmete selbst tief ein und wieder aus. „Ganz ruhig. Atme mit mir, okay?“

„Mir ist … schwindelig.“

„Genau deswegen. Atme ganz ruhig. Ein und aus.“ Er atmete mit Seto gemeinsam. Sein eisiger Atem zitterte und kondensierte an der vergleichsweise warmen Luft. Setos ganzer Organismus spielte verrückt. Vielleicht hatte er sich auch deshalb in dieses monsterähnliche Wesen verwandelt. Weil er verwirrt war und eingeengt. Yugi war verletzt, tief verletzt, dass Seto nicht mit ihm gesprochen hatte. Er hatte ohne Gefühle mit ihm geschlafen und ihm etwas verheimlicht, worüber sie hätten sprechen müssen. Aber er verstand auch, weshalb er es getan hatte. Er wusste wie wichtig Yugi dieser Körper war und wie groß sein Wunsch danach. Und er hatte durchaus nicht übersehen, dass Setos Wohlbefinden ihm wichtiger war als alles andere. Und genau deshalb steckte er in dieser Zwangslage. Genau deshalb geriet er so aus dem Gleichgewicht.

„Gut. Und jetzt finden wir eine Lösung. In Ordnung?“ Er lächelte, auch wenn er am liebsten heulen würde. Seto war so aufopfernd und liebevoll. Aber gleichzeitig auch so engstirnig und selbstzerstörerisch.

„Du darfst dich nicht zurückwünschen.“ Seine Augen hatten sich unter den vielen Tränen rot gefärbt und sein Körper zitterte noch immer. „Das könnte ich nicht ertragen. Ich will, dass du so bleibst. Ich will mich daran gewöhnen und dich so lieben wie du sein willst. Du hast es versprochen.“

„Ja, ist ja gut“ beruhigte er und seufzte. „Und was tun wir jetzt? So kann es nicht weitergehen. Du bist ja völlig am Ende. Und das schon nach zwei Tagen.“

„Ich kann mich daran gewöhnen. Ich weiß es“ bettelte er mit tränenden Augen. „Bitte, Yugi. Bitte gib mir diese Chance. Bitte vertrau mir. Trau mir das zu. Bitte. Bleib so.“

„Ist gut. Ich habe dir ja mein Versprechen gegeben.“ Nun musste er sich etwas ausdenken. Seto zuliebe würde er sich sofort wieder zurückwünschen. Doch wenn er das tat, würde der sich vollends entmutigt fühlen. Dann würde er denken, dass Yugi ihm nichts zutraute. Doch ihn an diesen Körper zu gewöhnen, würde ein langes, schweres, nervenaufreibendes Stück Arbeit werden.

Chapter 46 - 50

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Chapter 51 - 55

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Chapter 56 - 60

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Chpter 61 - Ende

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Kommentare zu dieser Fanfic (13)
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Von:  Micca
2022-03-05T20:44:47+00:00 05.03.2022 21:44
Nach Jahren hab ich mich wieder an diese tolle Reihe erinnert und wollte nachschauen, ob es etwas Neues gibt. Jetzt bin ich traurig, da es so ausschaut, dass es kein Ende gab? Liebe masamume, wenn du das liest, ich hoffe immer noch, dass es weiter geht! <3
Von:  Chaoskid
2015-07-08T16:29:46+00:00 08.07.2015 18:29
Hi,

ich hab zurückgerechnet und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich zu alt bin um mich an Details zu erinnern. Deswegen habe ich vor fast einem Jahr damit begonnen die Drachensaga nochmal neu zu lesen. Bis dahin war ich bis zum fünften Teil gekommen nd das war schon etwas her. Nun sollte es weitergehen und ich konnte schon nicht mehr alle Geschehnisse nachvollziehen.
Nun, ein jahr später bin ich mit dem letzten Teil (der nicht der letzte war) durch und frage mich ernsthaft was ich jetzt in meinen Mittagspausen eigentlich machen soll. Der Grund warum ich so lange gebraucht habe alles zu lesen war der, dass ich mir das nächtelange Durchlesen selbst verboten hab und nur währe3nd meiner Mittagspause dazu kam mir weiter Einblicke in das Leben der Drachensippe um Seto und Yugi zu gewähren.
Ich bin mir nicht sicher ob ich vielleicht vor einiger Zeit schonmal irgfendwann ein Kommi dagelassen habe, aber spätestens jetzt halte ich das dringend für angebracht.
Also:
Als erstes ist mir aufgefallen, dass sich die späteren Teile wesentlich flüssiger lesen lassen. Dein Schreibstil hat sich geändert. Gefällt mir später deutlich besser.
Zugegebener Maßen hab ich irgendwann angefangen die Bettgeschichten weitestgehend zu überspringen. Aus dem Alter bin ich irgendwann rausgekommen... ;-)
Ebenso Yugis ewige sich ständig wiederholende Dialoge.
Aber gut, die gehören zur Story dazu.
Während ich Abends am Telefon einer Freundin versucht habe zu erklären was ich an der Drachensaga so faszinierend finde bin ich übrigens zu dem Schluss gekommen, dass man es einfach nicht nachvollziehen kann, wenn man es nicht gelesen hat. Da will man nur eine Kleinigkeit erzählen, da hängen aber so viele andere Kleinigkeiten dran, dass man dann ca eine halbe Stunde später feststellen muss, das sie nichts verstanden hat und jetzt verwirrt ist. Sie sagte die Charas wären ihr zu OOC und glaubt mir nicht, wenn ich sage: Sind sie gar nicht, besonders nicht am Anfang. Im späterem Verlauf der Story entwickeln sie sich weiter und jede Abweichung vom Original wird durch den Storyverlauf super erklärt und ist absolut nachvollziehbar.
Mein Kompliment dafür an dich. Besonders bei so vielen verschiedenen Chars ist das eine ganz hohe Kunst und trotzdem ist jeder individuell.Find ich klasse.
Durch die Thematischen Sprünge bleibt die Story lebhaft, obwohl sie so lang ist.
Wer will schon die ganzen vielen Seiten nur über Setos Psychosen und Yugis Gutmütigkeit lesen? Viele Baustellen, die man verfolgen kann sind prima. Die einen sind interessanter, die anderen weniger interessant, aber jedem bleibt es selbst überlassen sich das beste rauszusuchen. Mein persönlicher Favorit waren immer die Ausflüge nach Agypten.
Und ich gebe zu, dass ich mich sehr schwer damit getan habe Seths Veränderung hinzunehmen und Finn zu akzeptieren. Ich war bin und bleibe Fan der Vergangenheit der Yamis. (trotzdem mag ich Finn mittlerweile irgendwie)
Ich hab noch so viele Frage. So viele ungeklärte Ansätze und selbst so viele Ideen.

Mal ehrlich: Bist du denn wahnsinnig mich mit so einem Chliffhanger zurückzulassen? ;-)
Jetzt muss ich wahrscheinlich das Lied von Eis und Feuer lesen um beschäftigt zu werden.

Ich hoffe es kommt bald Nachschub.

Kurze Anmerkung am Ende:
Wenn du die Story aus dem Yugioh Fandom rausnimmst, entsprechend überarbeitest und dann auf den Markt haust, dann würde ich es kaufen. Zweimal!
Eins natürlich für meine ungläubige Freundin, die sich immer noch nicht zum Lesen durchgerungen hat.

Wenn ich jetzt weiter darüber nachdenke fallen mir bestimmt noch 100 Sachen ein, die icdh eigentlich gerne noch dazu sagen wollen würde, aber ich belasse es vorerst bei:
Super Story! Spannend und anrührend zugleich. Schöner Schreibstil. Klarer Ausdruck. Wunderbare Methaphern. Respekt für den Überblick den du immer behälst.
Ich warte dringend auf Nachschub.

Liebe Grüße Chaos

PS: Wenn du in meinem langen Text Rechschreibfehler findest, dann darfst du sie gerne behalten :-)

Von:  JessiBlue
2014-05-30T14:05:28+00:00 30.05.2014 16:05
Hallo :)
Ich möchte Dir an dieser Stelle ein großes Kompliment aussprechen. Ich bin schon seid langem ein großer Fan von Fanfictions. Gerade YuGiOh ist eines meiner persönliche Favoriten. Bislang jedoch hat mich noch keine Geschichte so sehr fasziniert wie die Drachensaga.

Ich habe diese Saga jetzt zum achten Mal innerhalb kürzester Zeit komplett gelesen. Jaaa ich gebs zu ich bin süchtig *gibt's nen dicken Gnuuts* gg.

Ich bin in dieser Story durch sämtliche Gefühle geschliddert die es gibt. Ich habe geheult *hoch lebe die Erfingung der Tempobox :D*, gelacht, gebibbert und viel geträumt mit den Charas. Du hast so einen fesselnden Erzählstil dass ich gar nicht aufhören konnte zu lesen.

Ich kann es gar nicht erwarten endlich den neuen Teil zu lesen.
Ich hoffe für mich und Deine anderen treuen Leser und Leserinnen, dass du diese Story für uns und für Dich zu eine gelungenen und endgültigen Abschluss bringen kannst.

Ich fiebere also dem nächsten Teil entgegen. Und freue mich auf weitere so wundervolle Geschichten von Dir.

Du hast meine volle Hochachtung und Bewunderung für Deine Arbeit

liebe Grüße JessiBlue
Von:  Nuit511
2013-04-10T17:19:29+00:00 10.04.2013 19:19
Hallo!
Deine Geschichte ist echt der Wahnsinn! Ich bin total gespannt wie es weiter geht und was aus Yami und seinem Liebesleben wird. :-)
Da ich zur Zeit im Krankhaus bin, hab ich die ganze Geschichte noch mal vom 1. Teil angefangen zu lesen. Ich hab sie zwar schon ein paar mal gelesen, aber ich finde jedesmal wieder etwas neues über das ich neu schmunzeln kann.
LG Nuit


Von:  masa
2012-11-01T04:04:51+00:00 01.11.2012 05:04
wahnsinn deine ff ist das beste was ich hier je gelesen habe. ich habe sie vor kurzem gefunden und konnte garnicht mehr mit lesen aufhören. sag schreibst du bald weiter? wenn ja wärst du so nett mir ne ens zu schicken?
du hast in mir nen fan gewonnen also mach bald weiter. ^^
Von:  Raimei
2012-10-07T20:52:32+00:00 07.10.2012 22:52
*Liest Gepos Kommentar*
*guckt doof*
SO und nicht anders! Löst doch alle probleme xD

Ne nu ernst hier. Ich komme nu endlich mal dazu den Kommentar zu schreiben obwohl es schon Jahre her ist das ich diesen Teil gelesen habe. Ist wieder sehr guuuut geworden, wir sind alle auch schon ganz kribbelig wann es denn nun weiter geht. Ich hoffe persönlich wieder viele Knuffig Szenen mit Tato und Phoenix zu entdecken, die wurden für mich echt zu den absoluten Lieblingen. Desweiteren drücke ich ganz doll Seto die Daumen das er wirklich das Wasser beherrscht so wie es gedacht war. Und das er Seth mal ganz kräftig durchnässt, vielleicht kommt der davon ja wieder von seinem Tripp runter, der tickt so langsam echt aus. :O Naja...ne kleine Nini Urseth Szene wäre auch toll xD aber wir ham ja kein Weihnachten. Ich hoffe einfach das bald der nächste Teil kommt und genauso gut wird wie der hier! Geh ich aber stark von aus. Du bist die beste!
Von:  rudieei
2012-04-24T19:01:57+00:00 24.04.2012 21:01
Ich habe den Teil jetzt schon zum 5. mal gelesen und er ist immernoch spannend! :)
Aber ich hoffe bald geht es weiter!
Ich will noch viele, viele letzte Kapitel!

LG
Soulfire
Von:  Gepo
2012-02-04T21:36:19+00:00 04.02.2012 22:36
Ein bittersüßes Ende, so so...
Ich sehe es ja vor mir, wie Yami Seth zusammenschreit, unterjocht und im Zweifelsfall sogar brutalst zurichtet, um ihm dann zu erklären, dass er viel zu kleinlich denkt. Ra hängt seinen Job an den Nagel und Yami wird Gott der Erde. Der Gott Seth rückt endlich raus, dass er seinen Bruder immer nur anfeindete, weil der einfach regierungsunfähig war - und nach einer herzzerreißenden Szene verstehen sie sich wieder.
Sethos bleibt oberster Engel, bis Seth genug gelernt hat, um seinen Job übernehmen zu können. Was Yami dazu bewegt zu entscheiden, dass er erst nach seinem Tod Gott werden will und bis dahin sein Leben mit Seth und Finn weiterfeiert (große Eifersuchtsszene).
Der Gott Seth kriegt einen extremen Wutanfall und meint, dass Sethan an allem Schuld ist. Nini legt eine Sailor-Chibi-Chibi-artige Verwandlung hin und aus der Sechsjährigen wird die bombenmäßige Sechsundzwanzigjährige, die ihren Gatten zur Schnecke macht, welcher daraufhin ganz kleinlaut die Alleinherrschaft übernimmt, bis Yami sein Amt antreten kann.
Tato gibt sich einen Tritt in den Hintern und redet mit Balthasar, Marie kriegt gesunde Kinder und Tjergen hat nach Pegasus so einen Egoschub, dass er sich an einen Kerl hängt, den er wirklich haben will: Duke Devlin. (sorry, das ist eher ein Witz)
Sethan entscheidet, dass Edith und auch Marik gern mit in die Zukunft dürfen - nur bleibt das Problem, dass diese Zeit dann keinen Erben hat. Also werden Malik und Marik doch noch getrennt - Yami und Yugi lässt das beide etwas gruseln, denn das macht Malik zum Hauptgrabwächter ihrer Zeit. Der wird allerdings in Zukunft auch durch die Liebe seiner Frau geläutert.
Seths Strafe umfasst, dass er den Zirkel aufräumen muss. Die Kinder kommen in die Lager und danach nach Blekinge, die bekehrbaren Erwachsenen ebenso und die Unbekehrbaren knöpft Yami sich vor. Apophis bietet Mokeph ein Leben an seiner Seite, doch obwohl die Sehnsucht stark ist, entscheidet er sich für Tea, welche ihm daraufhin vergibt.
Gott Seth nutzt seinen Tag auf Erden, um Sethan zu zeugen (natürlich etwas hin) und fordert Ras Seele, um mit seinem Bruder nach dessen "Tod" wieder zusammen zu sein. Sethos pendelt einfach zwischen den Reichen und wird von seinem Vater in Ruhe gelassen - was einer Liebeserklärung ziemlich gleich kommt.
Ende gut, alles gut.
Abspann neunzehn Jahre später, Seto steht in der Sonne, guckt in den Himmel und denkt sich, dass seine Seele schon lange keinen Blödsinn mehr angestellt hat, während er zwei seiner drei Kinder in den Hogwarts-Expre- äh, falsches Buch.

Grüße, Gepo
Von:  Arael
2011-07-12T11:35:01+00:00 12.07.2011 13:35
aaaalso, ich musste erstmal alle teile nochmal lesen, den ich hatte echt einiges vergessen und ich muss jetzt mal sagen, echt klasse :) freu mich schon, wenn es weiter geht

lg arael
Von: abgemeldet
2011-06-07T11:56:14+00:00 07.06.2011 13:56
Hi, masamume.

Erst mal ein ganz großes Lob für diese FF. Ich hab bis jetzt alle Teile mit verfolgt und muss sagen das mir diene Story sehr gefällt. Ich freu mich schon darauf wie es weiter geht und ob es für alle ein Happy End gib. Mach weiter so und hoffentlich kommt bald der nächste Teil.

lg kisara-kaiba


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