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Judasfall eines Drachen

Teil 13/4.1 Schicksalsgeschichten
von

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Chapter 41 - 45

Chapter 41
 

„Liegst du schon im Bett?“ fragte Narla verwundert. Sie kam gerade aus der Dusche und sah, dass Joey bereits die Bettdecke aufgeschlagen und sich hingelegt hatte. Sie warf einen Blick auf die Uhr und setzte hinzu: „Es ist doch nicht mal neun Uhr.“

„Ich dachte mir, ich lege mich schon mal bereit.“ Er zuckte machomäßig mit den Augenbrauen und Narla wusste sofort, was er wollte. „Du kannst das Badetuch ja mal von dir werfen, Süße.“

„Warum fällt dir das immer dann ein, wenn ich was anderes vorhabe?“

„Was was anderes?“ Er blickte sie verwundert an und rutschte ans Bettende. „Was denn? Was anderes mit mir oder was anderes ohne mir?“

„Hast du die Kleine ins Bett gebracht?“

„Ja, habe ich. Antwortest du jetzt mal auf meine Frage?“

„Eigentlich sollte ich das gar nicht müssen“ meinte sie und legte das Handtuch auf die Heizung.

„Baby! Sexy!“ Dieser flache Bauch, diese hammermäßigen Brüste, diese Wahnsinnsbeine! Und erst diese Bäckchen! Doch er freute sich zu früh. Sie tat das nur, um an den Kleiderschrank zu gehen. „Ey, wieso ziehst du dir Unterwäsche an?“

„Manchmal könnte ich dich echt knutschen, Joseph.“

„Was bist du so komisch heute? Ich bin extra schon ins Bett gegangen. Und Little Joey schläft auch schon. Der Abend gehört uns.“

„Uns sind aber heute nicht du und ich“ seufzte sie und schloss den BH. „Erinnerst du dich noch, was ich dir heute Mittag erzählt habe?“

„Als wir telefoniert haben?“

„Nein, als wir zusammen in der Mondkapsel saßen.“ Manchmal war er echt zu langsam für diese Welt. „Natürlich als wir telefoniert haben.“

„Du hast gesagt, dass ich heute Joey ins Bett bringen soll. Ich dachte, wir haben danach Zeit für Sexy Mama und Big Papa.“

„Machst du das eigentlich extra. Dieses selektive Hören?“ Sie zog sich eine hellblaue Jeans über und musste schon etwas quetschen bis ihr Arsch ganz drin war.

„Für wen ziehst du die sexy Hose an? Hast du einen Liebhaber?“

„Joseph.“ Sie schlug sich an den Kopf und sah über ihre Schulter zurück. „Ich habe gesagt, du sollst das Baby ins Bett bringen, damit ich ausgehen kann. Mit Nika und Tea und Sari und Noah zur Ladiesnight im Kino. Leider kann Marie nicht mit, weil sie sich vor Rückenschmerzen kaum rühren kann. Aber wir bringen ihr Popcorn mit. Und nach dem Film gehen wir noch was trinken.“

„Mit Sari?“

„Ja, Sari ist auch eine Lady.“

„Nein, ich meine zum Trinken. Sie trinkt doch gar nicht.“

„Es gibt ja auch alkoholfreie Cocktails, du Blitzmerker.“ Sie hielt die Luft an bis der verflixte Jeansknopf endlich zuging, ließ vom Kleiderschrank ab und kletterte zu ihm aufs Bett, setzte sich auf seinen Schoß und wuschelte ihm liebevoll durchs Haar. „Warum bist du so durch den Wind, mein Bärchen?“

„Bin ich das?“

„Ich habe das Gefühl, du hörst mir heute gar nicht richtig zu. Was ist los?“

„Ach, eigentlich gar nix.“ Er schlang die Arme um sie und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Sie rutschte noch etwas näher und kraulte seine blonde Wuschelmähne, küsste ihn zwischendurch und seufzte tief.

„Tut mir leid, Schatz. Ich würde ja hier bleiben, aber ich habe Nika versprochen, dass ich mit ihr feiern gehe. Es hat sie etwas enttäuscht, dass sie organisch doch keine richtige Frau geworden ist. Und ihr Sperma konnte sie auch nicht rechtzeitig konservieren lassen. Das ist ein doppelter Rückschlag für sie. Deswegen müssen wir sie aufheitern. Nur wir Ladies.“

„Ist ja auch okay. Hast du mir ja gesagt. Ich hab’s nur irgendwie nicht gehört.“ Er seufzte und fuhr mit den Händen ihren Rücken hoch. Am liebsten würde er diesen sexy blaugestreiften BH gleich wieder aufmachen.

„Ich komme ja wieder zurück. Heute Nacht irgendwann“ versprach sie, drückte ihn weg und gab ihm ein Küsschen auf die Lippen. „Wenn du solange wartest, bin ich dann auch lieb zu dir. Ganz besonders lieb. Okay?“

„Okay.“

Sie sah ihn an und er lächelte auch. Aber sie kannte ihn zu gut, um ihm die Fröhlichkeit abzunehmen. „Was ist los? Du siehst fertig aus. Harter Tag im Büro?“

„Ja, schon … Seto hatte schlechte Laune heute.“

„Hat er das nicht immer?“

„Nein. Heute war er richtig mies drauf.“ Er küsste ihren Hals und ließ sich dann wieder gegen ihre warme Brust sinken. „Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass er mir aus dem Weg geht. Und sein Blick war irgendwie … ich weiß auch nicht. Ich kann’s nicht beschreiben, aber irgendwie war er komisch heute. Wir haben doch kein Neumond, oder?“

„Nicht, dass ich wüsste. Hast du ihn darauf angesprochen?“

„Nein“ seufzte er und sah sie kurz an, bevor er sich wieder an sie schmiegte. „Er mag das nicht, wenn man ihn so auf den Kopf zu fragt. Wahrscheinlich würde er mir nicht mal antworten. Ich kenne ihn.“

„Aber wenn man merkt, dass bei Seto was im Busch ist, ist es meistens schon zu spät.“ Soweit hatte sie ihn auch durchschaut. „Vielleicht solltest du doch mal mit ihm reden. Oder Noah bitten. Mit Noah redet er doch auch immer.“

„Nee, wenn ich Noah auf ihn ansetze, killt er mich. Also Seto meine ich. Ich warte noch mal bis morgen ab und wenn er dann immer noch so ist, dann rücke ich ihm auf die Pelle. Vielleicht ist er ja grundlos mies drauf.“

„Meinst du, es könnte an Yugi liegen?“

„Yugi?“ An dem lag es selten, wenn Seto sich mies fühlte. Meistens war Yugi eher derjenige, der ihn wieder aufbaute.

„Na ja, an seiner Veränderung“ erklärte sie genauer. „Seto hatte sich an Yugi gewöhnt. Ich könnte mir vorstellen, dass er diesen körperlichen Wandel weniger leicht wegsteckt als er vorgibt. Drachen mögen keine plötzlichen Veränderungen.“

„Vielleicht. In Setos Liebesleben stecke ich nicht so drin … ich muss mal bis morgen abwarten. Vielleicht mache ich mir nur schon wieder zu viele Sorgen um ihn. Ich habe nur einfach ständig Angst, dass ihm was passiert. Oder … oder dass er sich was antut.“

„Das kann ich verstehen“ tröstete sie und streichelte seinen Nacken. „Er ist immerhin dein bester Freund. Natürlich sorgst du dich um ihn.“

„Nicht nur weil er mein bester Freund ist. Er ist nur einfach emotional total labil. Und an so Tagen wie heute bekomme ich einfach Angst, dass er wieder Dummheiten macht.“

„Wenn sich das nicht ändert, kann ich ihm mal auf die Pelle rücken. Vielleicht kann ich ihn leider deuten als du.“

„Das mag er ja noch weniger“ seufzte er und drückte sich an sie. „Kriege ich wenigstens einen richtigen Kuss, bevor du mich zum Strohwitwer machst?“

„Oh! Armer, einsamer, verlassener Mann. Komm her.“ Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, beugte sich herunter und drückte ihre Lippen an seine. Jetzt tat es ihr tatsächlich etwas leid, dass sie ihn allein ließ. Er machte sich Sorgen um seinen Drachen und wollte etwas abgelenkt werden. Und sie machte sich ausgehfein. Aber Nika konnte sie auch nicht hängen lassen. Ihr war diese Ladiesnight enorm wichtig. Und Joey war in ein paar Stunden ja auch noch da.

Ein leises Klopfen schallte an der Tür und raubte Joey auch noch diesen kleinen, vertrauten Moment. Narla ließ sich zu leicht ablenken.

„Ich bin gleich unten!“ rief sie zurück als die Tür aufging und überraschender Weise keines der Mädels, sondern Yugi hereinschaute.

„Oh“ machte er große Augen. Narla oben ohne im Bett auf Joeys Schoß. Das sah nach etwas anderem aus. „Entschuldigt, ich wollte nicht stören.“

„Du störst nicht. Leider“ antwortete Joey mit Seitenblick auf seine Freundin, welche schon wieder vom Bett sprang und sich ein Shirt aus dem Kleiderschrank griff. „Was denn los, Mann?“

„Ich wollte nur fragen, ob Seto was zu dir gesagt hat.“

„Gesagt? Nee, was denn?“ Er setzte sich aufrecht hin und sah ihn sorgenvoll an. Jetzt ging das bei Yugi noch weiter mit dem Sorgenmachen.

„Na ja, er ist noch nicht zuhause und ans Handy geht er nicht ran. Ich dachte, vielleicht hat er noch einen späten Termin bekommen oder so?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Er lehnte sich zur Seite, griff seinen handyähnlichen Computer und tippte etwas ein. „Er hatte nur heute Morgen einen Telefontermin, aber den hat Noah übernommen. Ansonsten war nix. Aber ich finde, er war sowieso komisch drauf heute.“

„Wieso komisch?“

„Yugi“ seufzte Narla und öffnete die Tür weiter. „Komm doch ganz rein.“

„Na gut.“ Er kam also ganz ins Zimmer und setzte sich ans Bettende. „Wieso war er komisch?“

„Wieso weiß ich nicht. Aber er hatte ziemlich schlechte Laune heute.“

„Hat er das nicht immer?“

„Ja, aber nicht so! Manno!“ Keiner verstand, was er meinte. Narla drückte dieselben, doofen Sprüche.

„Joey meint, er hat komisch geguckt und war kurz angebunden“ übersetzte Narla und kämmte sich die nassen Haare durch. „War denn was zwischen euch heute Morgen, was ihm die Laune hätten verhageln können?“

„Nichts, weswegen er Grund zur Sorge gegeben hätte“ überlegte Yugi. „Er war zwar zuerst etwas überfahren, aber nachdem er von Sethos zurück war, schien er ausgeglichener. Also bei mir hatte er keine außerordentlich schlechte Laune.“

„Meinst du denn, dass er das so einfach wegsteckt?“ fragte Narla.

„Was wegsteckt?“

„Na ja.“ Sie wies an ihm hinauf und hinunter und sagte damit eigentlich alles. „Meinst du nicht, dass ihn das erschreckt?“

„Meinst du, mich hätte das nicht erschreckt als ich so aufgewacht bin?“

„Du weißt doch, was ich meine.“

„Ja, ich weiß.“ Er zog die Beine aufs Bett und sah Narla nachdenklich an. „Ich hätte schon erwartet, dass er erst mal etwas auf Abstand geht. Das wäre nur normal für ihn gewesen. Aber er war eigentlich ganz zutraulich … vielleicht war ich auch zu euphorisch, um etwas zu bemerken, aber er würde keinen Sex mit mir haben, wenn ihn etwas stören würde. Also kann er so verschreckt nicht sein.“

„Ach Mann, Yugi“ seufzte Joey und kratzte sich am Kopf. „Was haben wir uns da nur angelacht? Ständig muss man sich Sorgen um ihn machen.“

„Aber er ist so furchtbar niedlich“ lächelte Yugi. Die Mühe, die man sich mit Seto gab, gab er sich im Gegenzug ja auch. Und er gab alles wieder zurück. Auf seine Art. „Na gut, wenn er nicht ans Handy geht, muss der Anrufer eben zum Handy gehen“ beschloss er und stand vom Bett auf. „Ich fahre ihn einfach im Büro abholen. Kannst du mit auf meine Kinder achten?“

„Klar, kein Thema. Bin ja sowieso allein heute Abend.“ Doch Narla schmunzelte nur über seinen vorwürflichen Blick und verzog sich ins Badezimmer. „Ich lege Joey einfach zu Tato ins Bett und plündere Setos Süßigkeitenverstecke, okay?“

„Danke, hast was gut bei mir.“ Er machte sich auf den Weg in sein eigenes Zimmer und überlegte dabei, was seinem Liebling schon wieder über die Leber gelaufen sein könnte. Wenn er Yugis Anrufe nicht beantwortete, war das schon ein negatives Signal. Aber hatte er irgendwelchen Druck ausgeübt, den Seto nicht verkraftete? Ja, er war sehr euphorisch und vielleicht einen Tick zu glücklich über sein neues Aussehen. Aber er hatte Seto doch gefragt, ob alles in Ordnung sei. Und wenn ihn etwas erschreckt hätte, hätte er sich niemals auf Sex eingelassen. Nicht nur, dass er sich nicht darauf eingelassen hätte, sondern es hätte doch auch gar nicht funktioniert. Seto konnte keine erotischen Gefühle empfinden, solang er emotionalen Ballast mit sich herumschleppte. Sex und Liebe gingen bei ihm Hand in Hand und wurden durch Harmonie zusammengehalten. Vielleicht war ihm irgendetwas passiert oder es war ihm irgendetwas gesagt worden, worüber er sich wieder den Kopf zerbrach …

Eine Überraschung erlebte er jedoch als er zurück ins Zimmer kam. Wessen Klamotten lagen dort über dem Stuhl und wer kletterte da gerade mit Pyjama ins Bett?

„Liebling?“ Er musste ihn also gar nicht abholen. „Ich habe dich gar nicht kommen hören.“

„War leise … die Kleinen schlafen.“ Er zog die Decke über sich und drehte ihm den Rücken zu.

„Willst du schon schlafen? Bist du so müde?“

„Hm.“

„Och, Schatzi.“ Trotzdem war da irgendwas komisch. Normalerweise begrüßte Seto ihn wenigstens und fragte, was die Kinder den Tag über gemacht hatten. Aber dass er grußlos ins Bett verschwand, war selten. Er kletterte also zu ihm, zog die Decke ein Stück herunter und sah in seine geschlossenen Augen. „Ist alles in Ordnung, Liebling?“

„Hm …“

„Bekomme ich keinen Kuss?“

Seto seufzte und öffnete seine blauen Augen. Er sah wirklich müde aus. „Yugi, entschuldige.“ Er kam ihm ein Stück entgegen und erwiderte den vorsichtigen Lippenkuss. „Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch, mein Engel.“ Er streichelte über sein Haar und kraulte es, während er sich ganz dicht neben ihn legte. „Du bist ja wirklich total erschlagen. War dein Tag so anstrengend?“

„Hm … ja.“

„Was war denn los?“

„Nix.“

„Aber du bist doch sonst nicht so spät. Und ans Handy bist du auch nicht rangegangen.“

„Akku alle …“

„Hattest du Tato nicht versprochen, ihn heute ins Bett zu bringen?“

„Hm …“

Yugi seufzte. Das war mal wieder so eine ‚Alles aus der Nase ziehen‘-Aktion. „Du vergisst deine Versprechen doch sonst nicht. Was ist los?“

„Hmmm …“

„Liebling?“

„…“

„Liebling?“ Er streichelte ihm über die Wange, aber Seto atmete nur langsam aus, ließ eine kurze Pause und atmete dann gemächlich und tief wieder ein. Der war weg für heute. „Herrje, du musst ja todmüde sein.“ Er küsste ihn auf die Stirn und zog die dünne Decke über seine Schulter. Wenn er so furchtbar müde war, war es besser, ihn schlafen zu lassen. Sonst würde man eh kein anständiges Wort aus ihm herausbekommen. Dann eben morgen. Hauptsache, er war nach hause gekommen.

Yugi rollte sich vom Bett und wollte noch die letzten Arbeiten erledigen, bevor auch er ins Bett ging. Leise ging er in Tatos Zimmer und holte die schmutzigen Klamotten vom Tage, besonders die Socken, von denen er heute ganze drei Paar verteilt hatte. Sobald Yugi ihm Strümpfe anzog, lief er ohne Schuhe herum, ärgerte sich dann, dass die Strümpfe schmutzig wurden und holte sich ein neues Paar. Na ja, lieber so als wenn er ganz barfuß herumlief und auf der Straße in irgendwas reintrat.

Als er wieder herauskam, hörte er neben sich ein geflüstertes „Hey“ und sah Joey samt Baby neben dem Bett stehen und auf den schlafenden Drachen deuten.

„Er hat sich rein geschlichen, während ich bei dir war“ antwortete er und holte den Wäschekorb aus dem Badezimmer.

„Und schläft schon?“ wunderte auch Joey sich. „Er hat doch bestimmt noch gar kein Abendbrot gegessen.“

„Er war todmüde. Ist gleich eingeschlafen, sobald er lag.“

„So viel ist doch gar nicht los im Moment“ meinte er und beobachtete wie Yugi Setos Strümpfe aufhob und sie auch in den Wäschekorb tat. Danach das Hemd. „Willst du jetzt noch waschen gehen?“

„Muss ich. Die Kinder haben fast nichts mehr im Schrank. Tato hat einen Sockenvebrauch wie ein kleines Land und Nini zieht sich öfter um als ihre Barbie. Und Seto will ja auch frische Klamotten anziehen. Und ich muss meine neuen Sachen auch erst mal waschen, bevor ich sie anziehen kann.“

„Du bist echt die perfekte Hausfrau, was?“

„Das würde ich nicht sagen“ lachte er und nahm die Hose vom Stuhl. „Ich habe nur keine Lust, mir das Gemeckere meiner Familie anzuhören, wenn die Kleiderschränke leer sind. Nicht wahr, Liebling?“

Aber der antwortete gar nicht, sondern schlief einfach weiter seinen blauen Traum.

„Siehst du? Keine Widerworte.“

„Sag mal“ guckte Joey skeptisch. „Kontrollierst du immer Setos Hosentaschen?“

„Routine. Bei den Kinder schaue ich auch immer, ob noch irgendwas da ist, was nicht in die Waschmaschine gehört. Seto lässt leider genauso gern Papiertaschentücher in den Taschen wie meine Kinder irgendwelchen Kleinkram, der dann die Maschine verstopft. Ein Mal hatte Tato eine ganze Hosentasche voller Gipspulver vom Nachbarn geklaut. Das wäre was geworden. Du wäschst nicht oft Wäsche, oder?“

„Wenigstens das macht Narla für mich. Was ist das?“

„Keine Ahnung.“ Bei seiner Routinekontrolle fand Yugi etwas, was eindeutig kein Taschentuch, kein Kleingeld, kein Gips oder sonstiger Kram war. Es war eine Rippe von Tabletten. Ursprünglich waren hier fünf Tabletten, kleine weiße Kügelchen, eingeschweißt. Doch von denen waren nur noch zwei vorhanden. „Das ist kein Aspirin.“

„Yugi, sind das neue Happy-Pillen?“

„Kann nicht sein. Sein Antidepressivum ist grünlich. Das hier ist was anderes.“ Er drehte die Rippe um und las vor: „Zolpiclon … kennst du das?“

„Yugi, ich und Medikamente. Ich erkenne Aspirin und Hustensaft und das war’s auch schon. Ach ja, und Renni räumt den Magen auf kenne ich auch.“

„Ja ja, schon gut.“

„Vielmehr wundert mich, was Seto sich da wieder reinpfeift. Ich denke, er nimmt keine Tabletten, ohne das mit dir abzustimmen. Das hattet ihr doch damals mit seinem Therapeuten so besprochen, oder nicht?“

„Ja, weil er suchgefährdet ist“ antwortete Yugi und versenkte die Hose im Wäschekorb - ohne Tabletten. „Ich google das mal. Hast du noch so lange Zeit?“

„Als wenn ich jetzt ruhig schlafen könnte, Mann. Ich lege die Kleine eben hin, ja?“

„Ja ja …“ Yugi machte sich währenddessen daran, seinen Laptop hochzufahren und nach diesem ominösen Medikament zu suchen. Als Joey sich neben ihn auf die Couch setzte, hatte er auch schon erste Ergebnisse. „Wenn ich die ganzen Fachbegriffe mal außen vor lasse, verstehe ich, dass das ein Schlafmittel ist.“

„Warum nimmt Seto Schlaftabletten?“

„Das verrät Wikipedia mir natürlich nicht.“ Er klappte den Laptop wieder zu und sah besorgt zum Bett. Warum nahm Seto Schlaftabletten und sagte nichts? Und dann auch gleich drei auf ein Mal. Kein Wunder, dass er so schnell weggeschlummert war.

„Ist er denn in psychologischer Behandlung?“

„In Domino war er. Aber dann natürlich nicht mehr“ gestand Yugi und fingerte ratlos an den Tabletten herum. „Ich dachte, er hätte diese Alleingänge abgestellt. Er kann doch nicht einfach irgendwelche Tabletten nehmen.“

„Sind Schlafmittel nicht verschreibungspflichtig?“

„Wenn Seto was haben will, kriegt er es auch.“

„Nein, ich meine, nicht dass er ne Überdosis intus hat. Drei Tabletten von fünf klingt ziemlich viel.“

„Ich glaube nicht, dass man so schnell davon sterben kann. Aber ich hole mal vorsichtshalber Mokuba. Passt du auf Seto auf?“

„Weglaufen wird er wohl jetzt nicht“ meinte Joey, aber setzte sich dennoch ans Fußende des Bettes, um den schlafenden Drachen zu bewachen.

Yugi indessen huschte hinüber zur nächsten Tür und klopfte kurz. Weil man ja nie wusste, was da drin gerade gemacht wurde, wartete er auf eine erlaubende Stimme von innen und ging dann erst hinein.

Noah war gar nicht anwesend, dafür lag Mokuba auf dem Sofa, Happy End auf seinem Bauch und hielt das Telefon ans Ohr. „Hey, Yugi“ lächelte er und kraulte das dunkle Wuschelfell seines Katzenmädchen. „Was ist?“

„Kannst du kurz auflegen? Ich brauche dich mal.“

„Du, sorry. Ich muss aufhören“ entschuldigte er zum anderen Ende. „Ja, kannst du machen, der ist aber gleich weg. Ladies Night im Kino. … Natürlich! Und du grüß deinen Macker von mir. … Ja, mache ich. Tschaui tschaui!“ Er legte auf und schmiss das Handy zwischen die Kissen. „Schöne Grüße von James. Er und Enrico sind im Urlaub bei seiner Familie in England.“

„Danke. Kannst du kurz mit rüberkommen?“

„Was los, Yugi? Du siehst blass aus.“ Natürlich setzte er die kleine Katze hinunter und ging ihm nach. „Ist was wegen Seto?“

„Der Kandidat hat hundert Punkte.“

„Oh je. Noah meinte schon, er hätte heute ne merkwürdige Laune gehabt. Hat er sich schon wieder die Arme zerkratzt?“

„Das habe ich jetzt nicht kontrolliert.“ Sie kamen schon im Schlafzimmer an und Mokuba sah den Drachen neben Joey selig schlummern. Natürlich war das auf den ersten Blick kein Grund zur Sorge.

„Und was fehlt ihm?“

„Nichts. Er hat eher ein bisschen zu viel.“ Yugi gab ihm die angebrochenen Tabletten und Mokuba las auch zuerst die Rückseite. „Das sind Schlaftabletten“ erklärte er zusätzlich.

„Na ja, noch bin ich kein Arzt“ entschuldigte er und gab die Tabletten zurück. „Hat er denn die ganzen drei Pillen genommen?“

„Davon gehen wir mal aus. Er ist jedenfalls ins Bett gegangen und war sofort weg.“

„Ach, mein großer Bruder und seine Drogen“ seufzte er und setzte sich neben ihn aufs Bett. Er griff um ihn herum und legte die Hand auf seine Stirn.

„Hat er Fieber?“ wunderte Joey sich sofort.

„Nein, ich muss mich konzentrieren. Kannst du mal einen Moment ruhig sein?“

„Immer werde ich angemacht“ murmelte er, aber hielt dann wenigstens die Klappe.

Mokuba hielt die Hand an der kühlen Stirn und spürte sich in ihn hinein. In seinen Körper, in seine Organe, in seine Blutbahn. Wenn er auch kein ausgebildeter Arzt war und vielleicht nicht der weltbeste Heiler, so konnte er zumindest von etwas Erfahrung und Naturtalent leben.

„Sein Herz schlägt ganz normal. Und er atmet gut. Schmerzen hat er auch nicht“ erklärte er und zog die Hand zurück. „Ich spüre zwar die lähmende Wirkung des Medikaments, aber schaden wird es ihm nicht. Seine Leber beginnt schon, das Schlafmittel abzubauen. Ein kräftiger Kerl wie er braucht wohl schon eine erhöhte Dosis, um so weg zu knacken. Ich kann sein Blut reinigen, wenn du willst. Yugi?“

„Nein, lass ihn schlafen“ seufzte er und strich sich über die Stirn. „Ich schnappe ihn mir morgen früh.“

„Was könnte denn der Grund sein, dass er Schlaftabletten nimmt? Wusstest du davon?“

„Nein, ich hatte keine Ahnung“ musste er zugeben und betrachtete sein Sorgenkind mit Mitleid und Bange. „Aber es muss irgendetwas vorgefallen sein, dass er so was macht. Aus Spaß würde er das nicht tun. Er hat sich mit Absicht betäubt, das ist mal klar.“

„Sonst ist aber nichts.“ Joey hatte die Decke gelüpft und sich seine Arme angesehen. Da war zumindest noch alles heil. „Getan hat er sich nichts.“

„Schlaftabletten“ seufzte Mokuba ebenso besorgt. „Er weiß doch, wie leicht er von so was abhängig wird. Da hätte er auch gleich wieder Koks schnupfen können.“

„Er denkt sich eben immer was neues aus“ meinte Joey.

„So neu ist das nicht“ korrigierte Yugi. „Vor einigen Jahren hat er schon mal angefangen, Schlaftabletten zu nehmen. Damals habe ich es aber rechtzeitig spitz bekommen und Seth hat über unsere Medikamente einen Zauber gelegt, der ihn abgeschreckt hat. Seitdem habe ich doch seine Medikamente zugeteilt. Mache ich eigentlich heute immer noch.“

„Er flüchtet aber gern in solche Betäubungszustände, bevor er Amok läuft“ machte Mokuba sich Gedanken. Er wusste genau wie sein großer Bruder tickte. Und er wusste auch, dass irgendetwas in ihm sehr aufgewühlt sein musste und auch, dass er leicht zu solcherlei Verzweiflungstaten neigte. „Sollen wir den anderen etwas sagen, damit sie auf ihn achten?“

„Das wäre ihm überaus peinlich. Und ich will ihn nicht schon wieder bloßstellen“ entschied Yugi sofort. „Lass uns die Sache nicht überdramatisieren. Ich werde morgen mit ihm sprechen und dann sehen wir weiter.“
 

Die Nacht über fand Yugi keinen Schlaf. Immerzu musste er darüber nachdenken, was es sein konnte, was seinem Liebling so auf der Seele lastete, dass er zu Tabletten griff. Nach all den Jahren und nach all den Strapazen und all den Liebesschwüren musste Seto doch wissen, dass es nichts gab, worüber er nicht sprechen konnte. Sie hatten gemeinsam seine Traumata in den Griff bekommen, sie waren durch seine Drogensucht gegangen, hatten den Alkohol verbannt und den Tod überwunden. Es gab kaum etwas, was das toppen konnte. Und dennoch waren Yugis Sorgen dieselben wie damals.

Natürlich hatten Setos verschiedenen Ärzte nie etwas beschönigt. Yugi wusste, dass es niemals leicht für ihn sein würde. Er würde immer Gefahr laufen, einen Rückfall zu haben oder als Ersatz neue Psychosen zu entwickeln. Yugi konnte ihm keinen Vorwurf machen, denn er tat dies nicht mit Absicht. Wer solch eine Kindheit, wer so viel Hass und Verachtung und Demütigung erlebt hatte, für den war das Leben nun mal anders. Noch dazu, wenn man ein solch sensibles Wesen besaß. Und dennoch wünschte Yugi sich, dass ihre harmonischen und stabilen Zeiten einfach mal etwas länger andauerten.
 


 

Chapter 42
 

Am nächsten Morgen machte Yugi die Kinder leise für den Kindergarten fertig. Er wollte Seto nicht wecken, sondern ihn von selbst aufwachen lassen, in Ruhe frühstücken und in möglichst entspannter Atmosphäre mit ihm über alles sprechen.

Doch als er die Kinder zu Mokuba in den Wagen gesetzt hatte und danach mit einer Kanne Kaffee zurück kam - war Seto verschwunden.

Hinterlassen hatte er nur einen Zettel: ‚Yugi, musste dringend ins Büro. Ich liebe dich über alles. Seto.‘ Wieder hatte er sich einem Gespräch entzogen und sich an ihm vorbeigeschlichen. „Das macht er extra!“

Also schrieb er ihm eine SMS: ‚Können wir nachher gemeinsam Mittagessen? Ich möchte mit dir sprechen. Ich liebe dich.‘

‚Tut mir leid. Ich habe heute viel zu tun. Vielleicht heute Abend. Kuss.“

‚Lieber Seto. Das war keine Bitte.‘

Es dauerte einige Momente, doch dann erhielt er sogar eine Antwort: ‚Ich bin gegen ein Uhr bei dir.‘

Und vorsichtshalber noch eine SMS an Joey und Noah - sie sollten ihn im Auge behalten, damit er nichts dummes tat …
 

Im Büro las Noah die SMS von Yugi. ‚Bitte passt heute auf den Engel auf. Ihr wisst schon. Ich zähle auf euch, Yugi.‘

‚Wird erledigt. Kuss, Noah.‘

Er legte gerade sein Handy beiseite als es an seiner Tür klopfte. Joeys Klopfen war ein schnelles Aufeinanderfolgen von drei Knöchelklopfern. Svalas Klopfen war meist nur ein Doppelklöpfchen, welches weniger Frage als Ankündigung war. Seto war der einzige, der drei Male mit dem Fingernagel klopfte. Und so wusste Noah sofort, dass sein heutiges Sorgenkind vor der Tür stand. Und was für ein Glück, dass sein Häschen ihm immer alles erzählte.

„Komm rein, Seto!“

„Woher weißt du, dass ich es bin?“ fragte er und blieb im Türrahmen stehen.

„Weibliche Intuition.“ Noah lächelte und schob das Handy an den Rand des Tisches als sei gar nichts los. Doch er konnte nicht umhin zu bemerken, dass Seto heute schlecht aussah. Sein Haar war stumpf und er wirkte ungeduscht. Seine Kleidung saß nicht so perfekt wie sonst und er war blass, fast bleich. Wer ihn einigermaßen kannte, sah ihm an, dass etwas nicht in Ordnung war. „Was kann ich für dich tun, Brüderchen?“

„Ich … hast du eine Minute Zeit, dass wir was besprechen können?“

„Auch zwei Minuten. Komm rein“ winkte er und rollte mit dem Schreibtischstuhl ein Stück zurück. „Wollen wir uns aufs Sofa setzen?“

„Nein, bleib sitzen.“ Er schloss die Tür hinter sich, nahm den Besucherstuhl von der Seite und setzte sich auf die andere Seite des Schreibtisches.

„Möchtest du einen schwarzen Tee? Ich habe gerade …“

„Nein, mir ist schon schlecht“ raunte er und blickte an ihm vorbei aus dem Zimmer.

Noah wartete einige Momente und betrachtete seine abwesenden, eisblauen Augen. Sie blickten ins Nichts, sie blickten in sich selbst hinein. Er musste sich abwenden, denn diese Augen wirkten auf einer sonderbare Weise hypnotisch. Seto nahm es wahrscheinlich nicht wahr, doch seine Mystik wurde immer offensichtlicher. „Was liegt dir denn auf dem Herzen, Süßer?“

„Was?“ Er horchte auf und realisierte, dass er ja zum Reden hier war und nicht zum Löcher in die Luft starren. „Ach so. Also, ich …“ Er zögerte, beobachtete wie Noah sich selbst einen Tee in sein indisches Glas eingoss und ihn fragend ansah. „Wegen der Email.“

„Email?“ Noah hatte etwas anderes erwartet. Vielleicht den Grund dafür, dass Yugi sich um ihn sorgte. Oder den Grund dafür, weshalb Mokuba schon wieder halb Amoki lief vor Sorge, sein Bruder könne wieder zu Drogen greifen. „Welche Email?“

„Von unserem Lieblingsschleimer aus Washington.“

„Ach, du meinst Pegasus.“ Deswegen war Seto so komisch drauf? Er zog seine Tastatur heran, öffnete besagte Mail und las sich den Text nochmals auf unterschwellige Botschaften durch, die Seto vielleicht aus dem Konzept gebracht haben könnten. „Die ist ja nicht mal von ihm direkt, sondern von seiner Sekretärin.“

„Ich weiß. Und was … was sagst du dazu?“

„Na ja, ist ja nur ein Terminvorschlag. Wenn Pegasus nächste Woche eh durch Europa tourt, ist es naheliegend, dass er uns treffen möchte. Wir haben ihn jetzt auch länger nicht persönlich gesehen.“

„Fehlen tut er mir nicht.“

„Mir auch nicht, aber ein bisschen müssen wir uns schon mit ihm befassen. Da beißt die Maus keinen Faden ab.“ Persönliche Abneigungen brachten sie leider nicht weiter. Industrial Illusions war ihr ärgster Konkurrent und sie mussten mit ihm klarkommen. „Außerdem interessiert es mich schon, wie er seine Unternehmensleitung umstellen will. Ich hätte es schon gern von ihm selbst erklärt und nicht über Gerüchte.“

„Er gibt morgen doch eh ne Pressekonferenz und unsere amerikanischen Direktoren sind eingeladen. Da muss er uns doch nicht noch persönlich belämmern.“

„Er reist doch eh auf dieser Seite des Atlantik herum, um seine europäischen Zweigstellen zu besichtigen. Wir werden wohl nicht drum herum kommen, ihn einzuladen. Wie würde denn das aussehen, wenn wir uns verkriechen?“

Seto blickte ihn an, ließ sich keine Gefühlsregung anmerken und glitt dann mit dem Blick zu Boden.

„Seto, bitte sei ehrlich“ bat er und lehnte sich vertraulich auf den Tisch. „Hattest du schon wieder einen Disput mit Pegasus, der dich aus dem Konzept gebracht hat?“

„Ich bin nicht aus dem Konzept gebracht.“

„Verzeih, wenn ich das so sage, aber es sieht ein Blinder, dass dir was auf den Magen geschlagen ist.“

Er senkte den Kopf noch weiter, sodass ihm die Haare ins Gesicht fielen. Das tat er ganz automatisch, damit man seinen Ausdruck nicht mehr sah.

„Seto, was ist los? Ich kann nicht mit Pegasus arbeiten, wenn ich nicht weiß, was zwischen euch war.“

Doch auch hierauf bekam er keine Antwort. Seto saß nur einfach da, versteckte sein Gesicht und erstarrte. Er bewegte sich einfach gar nicht mehr.

„Bitte sprich doch mit mir. Sonst kann ich dir nicht helfen.“

„Ich … ich bin ein ganz schrecklicher Mensch.“ Er hielt sich die Hand über die Augen und schluckte mit einem leidlichen Ton seine überquellenden Gefühle herunter. Er zitterte wie Espenlaub und brachte außer einem jämmerlichen Ton kein Wort mehr heraus.

Noah wollte aufstehen und zu ihm gehen, doch Seto hob abwehrend die Hand und bat ihn sitzen zu bleiben. „Ich fange mich gleich wieder“ schluchzte er und atmete tief, versuchte, sich zu beruhigen.

Langsam setzte Noah sich in seinen Stuhl zurück und wartete ab bis Seto seine Fassung zurückerlangte. Er konnte erst mal nur ein Taschentuch aus der Schublade fischen und es ihm reichen. Wenigstens nahm er es und trocknete seine Augen.

„Scheiß Tränen“ lachte er verzweifelt und tupfte sein Gesicht ab. Er war schon immer nahe am Wasser gebaut, aber gemocht hatte er das nie.

„Es ist gut, wenn man weinen kann“ erwiderte Noah sanft. „Es ist schlimmer, wenn man es nicht kann.“

„Trotzdem hasse ich das.“ Er schnupfte seine Nase und atmete noch mal durch.

„Geht’s wieder?“

„Ja … tut mir leid.“

„Kein Grund, sich zu entschuldigen. Habe dich schon schlimmer erlebt“ lächelte er und reichte ihm ein neues Taschentuch, damit Seto das alte wegwerfen konnte. Als das erledigt war und der Drache ruhiger wirkte, tastete er sich noch mal heran. „Was ist denn passiert, dass dich die Mail von Pegasus so aufwühlt? Ich hatte das Gefühl, dass ihr euch trotz eurer ‚Herzlichkeiten‘ ganz gut versteht.“

„Ach, Max ist mir doch egal“ tat er das ab, blickte kurz hoch und fing eine neue Träne mit dem Papiertaschentuch auf. „Noah, ich … ich fühle mich schrecklich. Ich bin ein … ein ganz … ein furchtbar verlogener Mensch.“

„Finde ich nicht“ widersprach er milde. „Was lässt dich so denken?“

„Ich dachte immer, ich liebe Yugi“ stammelte er und sah verzweifelt auf. „Aber was ist, wenn ich ihn nicht so sehr liebe wie ich immer sage? Wenn ich uns nur etwas vorgemacht habe?“

„Ich kenne niemanden, der sich so bedingungslos liebt und sich so überaus braucht wie Yugi und du“ antwortete er und ließ einen Moment Pause, versuchte Setos rätselhafte Mine zu deuten. „Und ich kenne niemanden, der für seine Liebe so hart gekämpft hat wie du. Du bist Yugi doch mit Haut und Haaren verfallen.“

„Aber wenn sich das nun ändert? Seth hat auch irgendwann seine Liebe für Yami verloren. Was ist, wenn mir dasselbe passiert?“

„Seto, du hast Yugi dein Herz geschenkt. Und das nicht nur symbolisch, sondern du hast dich ihm voll und ganz verschenkt. Davon abgesehen, hat auch Seth realisiert, dass er ohne Yami nicht glücklich sein kann. Du weißt, dass ich ein Skeptiker bin, aber wenn ich eines ganz sicher weiß, dann dass du und Yugi füreinander geschaffen seid. Ich würde sogar weiter gehen und sagen, dass ich an deine Beziehung zu Yugi mehr glaube als an meine eigene zu Mokuba. Warum zweifelst du an etwas, was einem Naturgesetz gleichkommt?“

„Weil ich mich vor ihm ekele“ flüsterte er fast unhörbar. Selbst der Vogel vor dem Fenster zwitscherte lauter.

„Du ekelst dich …“ wiederholte er leicht verwundert. „Vor Yugi?“

Seto nickte und fing die nächsten Tränen mit dem Tuch auf. Das machte ihm wirklich zu schaffen.

„Wovor genau ekelst du dich?“ versuchte er zu ergründen. „Vor Yugi oder vor seinem neuen Körper?“

„Ich … ich weiß nicht … mir ist schlecht.“ Er sah beiseite, seine Augen huschten nervös durch den Raum. Als wäre er gehetzt, als würde er jeden Moment ein Monster erwarten, welches ihn auffressen wollte.

„Ich versuche, zu verstehen, was du meinst“ sprach Noah sachte weiter.

„Das weiß ich doch selbst nicht … immer, wenn ich an ihn denke … ich ertrage ihn nicht. Seine Anwesenheit … ich weiß nicht, was mit mir los ist …“

„Hast du dieses Ekelgefühl seit gestern? Seit Yugi gewachsen ist?“

„Ja, es kam ganz plötzlich. Ich habe ja alles versucht, aber … ich kann das nicht. Ich habe Angst, dass ich Yugi nicht mehr liebe! Was soll denn aus mir werden, wenn ich ihn nicht mehr liebe? WAS SOLL DENN DANN AUS MIR WERDEN? OHNE IHN BIN ICH NICHTS ALS DRECK!“

„Beruhige dich. Wir finden eine Lösung.“ Noah wollte gern zu ihm gehen und ihn in den Arm nehmen. Aber eine Umarmung, wäre jetzt sicher keine gute Idee. Er hatte schon viele Gespräche mit Seto geführt, auch viele schwierige. Aber in diesem Moment fühlte er sich das erste Mal an seine Grenzen geführt. Eine Erklärung für Setos Gefühle war so schwer zu finden wie Leben auf fremden Planeten. Dabei war sein Fühlen im Grunde sehr schlicht … doch in seiner Schlichtheit zu kompliziert.

„Yugi sieht doch eigentlich wunderschön aus! Oder Noah? Yugi ist doch schön?“

„Objektiv betrachtet ja.“

„Ich meine, er ist ja nicht abstoßend. Er hat eine makellose Haut und gerade Gliedmaßen und eine tiefe Stimme und klare Augen und … oh Gott.“ Er würgte und hielt sich die Hand vor den Mund.

Noah bekam große Augen. Das würde doch wohl nicht so weit gehen? Er kippte gerade noch die Ziersteine aus einer Schale und hielt sie Seto unter, bevor der sich übergab. Zum Glück hatte er einen leeren Magen und sein Würgen brachte nur Galle, doch allein der Gedanke an Yugi überschlug in Übelkeit. Er ekelte sich wirklich. Er sagte das nicht nur bildlich, er ekelte sich ganz körperlich.

„Oh Gott, das tut mir leid. Tut mir leid, Noah.“

„Hey, halb so wild. Die Schale hat nur 1500 Dollar gekostet“ tröstete er und half ihm als er aufstehen wollte. „Komm, wir gehen einen Moment an die frische Luft.“ Er spürte wie Seto bei seiner Berührung verkrampfte und und zwang sich ihm nicht auf. Die Schale ließ er neben der geöffneten Terrassentür stehen und achtete auf Setos wackeligen Schritte bis der auf einem Gartenstuhl Platz genommen hatte und leichter atmete. „Warte hier, ich hole dir ein Glas Wasser.“ Er gab sich Mühe, nicht allzu gehetzt zu wirken, sondern Ruhe auszustrahlen, damit auch Seto ruhiger wurde. Doch in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Das hier war ein Fall für einen richtigen Psychiater und nicht einen Hobbypsychologen wie Noah. Doch wie sollte Seto das auch einem Psychiater erklären? Ich habe meinen Mann geliebt bis er durch einen Feenzauber gewachsen ist und jetzt muss ich mich vor Ekel übergeben? Jeder gute Psychiater würde Seto sofort in die geschlossene Anstalt verweisen.

Noah zog sich einen Stuhl heran und reichte ihm ein Glas stilles, kühles Wasser. Für den Magen sicher nicht die beste Lösung, aber für Setos Gemüt wohl schon. Er legte ihm auch ein neues Taschentuch hin, falls er es brauchen sollte. So saßen sie erst einige Momente da, genossen den Schatten des Sonnenschirms und das Quaken der Enten auf dem Kanal.

„Schau mal“ wies er dann den kleinen Hügel hinab. „Kennst du unsere Entenküken schon?“

Seto folgte seinem Fingerzeig und lächelte tatsächlich ein wenig. Die halbgroßen, bräunlichen, flauschig-fedrigen Dinger gefielen ihm. Sie waren so niedlich wie sie alle ihrer Mama hinterher paddelten und gemeinsam in ein gurrähnliches Geräusch einfielen. Er horchte auf als ein dunkles Etwas in die Nähe der Entenmama fiel und diese sofort aus dem Wasser hüpfte, auf das Ding zuwatschelte und es auffraß. Fragend sah er Noah an, der mit einem abgerupften Schwarzbrot dastand und Seto anlächelte. Der hatte gar nicht mitbekommen wie er sein Frühstücksbrot geholt hatte.

„Hier.“ Er riss das Brot, welches nur dünn mit Butter bestrichen war, in zwei Hälften und reichte ihm eine davon. Da war die Ente auch schon ganz nahe und schnatterte fordernd die beiden Männer an. „Dante und Moki haben sie angefüttert.“

„Ach so.“ Seto nahm das Brot, rupfte ein Stück ab und schnippte es der braunen Ente hinüber, die sich sofort gierig darauf stürzte. „Ihr solltet euch richtiges Entenfutter besorgen. Zu viel Brot ist nicht gut.“

„Eigentlich bin ich dagegen, Wildtiere anzufüttern“ erwiderte Noah und ließ einen Krümel zu den Küken fallen, welche sich um seine Beine scharten. „Vorgestern stand Familie Quack nämlich mitten in meinem Büro und das fand ich nicht so komisch.“

„Ist doch niedlich.“

„Enten gehören auf den Teich oder auf den Teller. Sicher nicht ins Büro.“ Doch wenigstens lenkten die Viecher den traurigen Seto etwas ab.

„So jung sind die Küken aber auch nicht mehr. Sie bekommen schon Federn“ zeigte Seto und fütterte Mamaente sogar aus der bloßen Hand.

„Und bald haben die Küken auch Küken und dann kann ich meine Tür nach draußen gar nicht mehr aufmachen. Wenn Dante Enten füttern will, soll Moki mit ihm in den Zoo gehen.“

„Du bist gemein, Noah.“

„Ich bin nur realistisch. Hat nicht jeder so ein tierliebes Herz wie du“ erwiderte er, warf ihm ein kleines Lächeln zu und legte den Rest seiner Brotscheibe auf den Boden, wo sich die jugendlichen Küken dann darum stritten. „Vielleicht sollte ich meinen Lieblingsfreund Hello mit hernehmen. Der hat die Küken sicher auch zum Fressen gern.“

„Noah!“ Doch Seto lachte wenigstens etwas. Den Witz verstand er dann auch noch.

„Ich meine ja nur.“ Es war klar, dass Noah sich lieber mit Enten herumplagte als diesen Kater freiwillig zu ertragen.

Seto seufzte und rupfte noch mehr Brot für Mamaente ab. „Noah, ich habe Yugi angelogen. Ich habe ihm gesagt, ich fände ihn attraktiv.“

„Und das tust du nicht?“

„Ich verstehe es ja auch nicht“ sprach er nachdenklich und berührte die Ente mit den Fingerspitzen am Flügel. Obwohl er ein Drache war, schreckte das Geflügel überhaupt nicht vor ihm zurück. Nicht etwa, weil es zahm war, sondern einfach weil sie bei Seto, anders als bei anderen Menschen, überhaupt keine Gefahr spürten. Selbst Tiere fühlten die Sanftheit, die sein Wesen ausmachte.

„Was genau fühlst du denn, wenn du Yugi ansiehst?“

„Ich fühle mich verwirrt und ängstlich … und mir wird übel“ antwortete er mit bedrücktem, leisen Ton. „Er sieht ja wirklich gut aus. Ich meine, er entspricht genau dem zivilisierten Schönheitsideal. Deswegen verstehe ich nicht, warum mich das so aufwühlt. Ich sollte mich doch für ihn freuen. Es war immer sein größter Wunsch, so auszusehen. Aber ich …“

„Aber du findest ihn nicht hübsch?“

„Doch, er ist hübsch. Aber du bist auch hübsch. Und Tristan auch und Mokuba. Selbst Joey ist irgendwie hübsch. Yugi ist ja nicht hässlich. Ich meine, er hat keine eitrigen Abszesse im Gesicht oder verkrüppelte Gliedmaßen. Deswegen verstehe ich nicht, was mich so abstößt.“

„Vielleicht genau das.“

„Was?“

„Dass er so aussieht“ versuchte Noah ihn zu ergründen. „Stell dir vor, Yugi wäre ein Brandopfer und am ganzen Körper vernarbt und entstellt. Würdest du dich davor ekeln?“

„Natürlich nicht! Hässlichkeit ist kein Grund, sich …“

„Aber vor seiner Attraktivität ekelst du dich“ sprach er ernst weiter.

„Ich bin so kaputt im Kopf“ seufzte er und gab auch sein letztes Stück Brot her. „Was ist, wenn ich allen nur etwas vorgemacht habe? Wenn meine Liebe nicht so stark ist wie ich geschworen habe? Es kann doch nicht sein, dass ich meinen eigenen Mann nicht berühren will. Das ist doch nicht normal.“

„Niemand hat jemals behauptet, du seiest normal“ tröstete Noah mit einem kleinen Seitenhieb. „Seto, du hast sehr hart an dir gearbeitet bis du dich auf körperliche Nähe einlassen konntest. Du musstest wochenlang in stationäre Behandlung, bevor man dich mal drücken konnte. Doch bei Yugi hast du dich doch immer schon wohlgefühlt. Oder nicht?“

„Ich weiß nicht …“

„Wir haben das doch gesehen. Während du in Panik ausgebrochen bist, wenn dich jemand nur mal falsch angesehen hat, konnte Yugi schon mit dir Händchen halten. Als wir dir das erste Mal auf die Schulter klopfen konnten, hast du schon mit Yugi gekuschelt. Und als wir dich endlich umarmen konnten, hatte Yugi schon Sex mit dir. Von Anfang an war es immer Yugi, der dir nahe kommen konnte.“

„So einfach war das für mich nicht …“

„Aber es war einfacher als bei anderen“ präzisierte er. „Vielleicht lag es genau daran, weil Yugi so weich und freundlich aussah. Du hast dich von ihm niemals bedroht oder beengt gefühlt. Du wusstest von Anfang an, dass du ihm körperlich überlegen bist und konntest seine Nähe vielleicht genau deshalb zulassen.“

„Ich bin ihm körperlich nicht überlegen. Überhaupt nicht“ gab er beschämt zur Protokoll. „Er muss mich nur richtig anfassen und ich falle um wie ein gefällter Baum. Niemand hat mich mehr in der Hand als er.“

„Doch das habt ihr nicht gewusst, bevor ihr euch nahe gekommen seid. Erst als du seine Nähe zugelassen hast, habt ihr erkannt, wie du funktionierst. Und da hattest du dich schon in ihn verliebt. Ich glaube, du hast dich einfach an Yugi gewöhnt. Du brauchst nicht nur mentale Sicherheit von ihm, sondern auch körperliche. Du kennst Yugis Körper und du hast gelernt, ihn zu lieben und diese Liebe zuzulassen. Und ich wage die These, dass dich Yugis körperliche Veränderung vor allem mental verwirrt.“

„Ich bin nicht verwirrt. Ich kann dir ganz genau erklären, wie Yugis Körper aufgebaut ist.“

„Ich meine nicht dein rationales Urteilsvermögen. Ich meine dein Unterbewusstsein. Dein Unterbewusstsein kannst du nicht beeinflussen. Du hast gelernt, mit Yugis Körper zu kommunizieren, doch nun spricht er plötzlich eine andere Sprache als die, welche du gelernt hast. Dein Kopf sagt dir, dass es noch immer derselbe Yugi ist. Derselbe Yugi, den du liebst, dem du vertraust und den du begehrst. Doch dein Unterbewusstsein sagt dir, dass da eine ganz ostentative Veränderung vorliegt und mahnt dich zur Vorsicht. Weil eine extreme Vorsicht ein Teil deines Wesens ist. Und dieser Ekel, den du empfindest, ist etwas, was dein Kopf nicht erklären kann. Dein Unterbewusstsein ekelt sich, weil es die Signale, die von Yugis Körper ausgehen nicht mehr deuten kann.“

„Aber ich liebe Yugi“ bestand er fest darauf und sah Noah an, wurde unsicher. „Oder zumindest glaube ich das.“

„Seto, ich habe einen Freund in Indien. Jeevan. Jeevan leitet unsere Sozialprojekte im nördlichen Umland von Mumbay.“

„Ich kenne Jeevan.“

„Umso besser. Seine Eltern haben ihm eine Braut ausgesucht, die genau seinen Präferenzen entspricht. Sie ist wunderschön. Sie hat eine dunkle Haut, glänzend schwarzes Haar, rehbraune Augen und eine wirklich traumhafte Figur. Außerdem ist sie intelligent und ihm intellektuell gewachsen. Sie haben dieselben Vorlieben für Musik, denselben Humor und dieselbe Weltanschauung. Sie können sich stundenlang unterhalten und er ist überaus gern mit ihr zusammen. Ich habe sie kennen gelernt. Sie ist eine echte Ausnahmefrau, ein bezaubernder, faszinierender, begehrenswerter Mensch.“

„Aber?“

„Aber er liebt sie nicht. Er fühlt sich zwar emotional, aber nicht körperlich zu ihr hingezogen. Er kann es sich nicht erklären, denn alles ist perfekt. Alles ist wie er es sich gewünscht hat. Jeevan konnte mir nicht mal erklären, was anders sein sollte. Fakt ist aber, dass er sich nicht erotisch zu ihr hingezogen fühlt. Objektiv betrachtet ist sie eine wunderschöne Frau, aber er begehrt sie nicht.“

„Das hat mit meinem Problem wenig zu tun.“

„Das denke ich nicht. Denn er hat vor drei Monaten eine andere Frau kennen gelernt und sich verliebt. Sie ist arm und lebt in einem Slum, der von ihm betreut wird. Ihr Geld verdient sie, indem sie in der Stadt kleine, selbstgemachte Tuchstrickereien an Touristen verscherbelt. Sie ist Analphabetin und gut zwanzig Kilo zu dick. Sie ist all das, wovon er niemals geträumt hat und all das, was seine Familie niemals für ihn wollte. Aber aus irgendeinem Grunde fühlt er sich zu ihr hingezogen. Bei ihr hat er das Gefühl, dass einfach alles stimmt. So ist Liebe nun mal.“

„Du meinst also, ich liebe Yugi nur solange er ‚hässlich‘ ist?“

„Nein, das will ich nicht sagen. Ich will nur sagen, dass der Kopf und das Herz allein nicht über Zu- oder Abneigung entscheiden. Eine reine Kopfliebe macht dich kaputt. Eine reine Herzliebe zerfrisst dich. Wichtig ist, dass du all deine Bedürfnisse berücksichtigst. Denn es ist auch der Körper, der sein Recht einfordert. Und ob du es wahrhaben willst oder nicht, auch du hast körperliche und vor allem sexuelle Bedürfnisse. Und nur wenn dein Kopf, dein Herz und dein Körper einen Kompromiss finden, im besten Falle sogar alle dasselbe begehren, nur dann fühlt sich deine Liebe erfüllt an.“

„Noah …“ Er legte die Stirn in die Hand und seufzte tief. Spätestens jetzt kam er nicht mehr mit. Er verstand nicht, worauf Noah hinauswollte. „Ich habe Angst, dass ich Yugi nicht mehr liebe. Ich meine, der Körper allein darf doch nicht über Zu- oder Abneigung entscheiden. Die Liebe im Herzen ist doch viel wichtiger.“

„Ja, vielleicht. Aber wenn Moki ein Mädchen wäre, würde ich mich wahrscheinlich sexuell wenig zu ihm hingezogen fühlen. Ich müsste erst versuchen, meinen Kopf, mein Herz und auch meinen Körper in Einklang zu bringen. Entweder müsste ich eine Beziehung ablehnen oder ich müsste versuchen, mich an den weiblichen Körper zu gewöhnen. Ich müsste erst lernen, ihn als Mädchen anziehend zu finden. Und ich bin ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Ich glaube, du hast dich auch deshalb in Yugi verliebt, weil diese Vorliebe für kleinere Männer schon immer in dir war. Vielleicht ist es dir nie so bewusst geworden, aber du liebst Yugi nicht nur auf mentaler, emotionaler, sondern auch auf einer sexuellen Ebene. Und nun wo du dich sexuell nicht mehr zu ihm hingezogen fühlst, gerät dein Liebesgefühl aus den Fugen. Und gerade ein, entschuldige bitte den Ausdruck, ein Sensibelchen wie du reagiert auf so etwas sehr empfindsam. Das ist es, was ich vermute.“

„Aber ich fühle mich so verlogen“ zagte er noch immer. „Yugi war immer für mich da. Egal, ob ich abgemagert war, verletzt, high oder sterbenskrank. Er hatte niemals eine Barriere, er hat mich immer bedingungslos geliebt. Auch körperlich. Es ist doch meine Pflicht, dasselbe für ihn zu empfinden.“

„Gefühle und Begierden unterliegen keiner Pflicht, mein Brüderchen. Man kann sie haben, manchmal kann man sie auch lernen. Aber man kann sie nicht erzwingen. Wenn du dich zwingst, Yugi zu begehren, setzt du dich selbst einem Druck aus, dem du nicht standhalten kannst. Yugi ist erst zwei Tage so verändert und du bist schon am Ende deiner Kräfte. Wie willst du das durchhalten?“

„Ich weiß es nicht … ich muss es einfach.“

„Hast du mit Yugi darüber gesprochen?“

„Nein … das kann ich nicht.“

„Das solltest du aber“ bat er intensiv und versuchte ihm in die Augen zu sehen. „Yugi hat ein Recht darauf, dass du ehrlich zu ihm bist. Wenn Yugis Körper ein Problem für dich ist, ist das euer beider Problem.“

„Nein … es ist nur mein Problem.“

„Das denke ich nicht. Was willst du tun, wenn er mit dir schlafen will? Das funktioniert doch so nicht.“

„Doch, es funktioniert“ flüsterte er schuldbewusst. „Ich habe schon mit ihm geschlafen.“

„Ja, aber ich meine, mit diesem Körper. Wenn du dich nicht zu ihm hingezogen fühlst, kannst du nichts erzwingen. Wenn er dich nicht erregt, kannst du nichts tun.“

„…“

„Seto, du musst mit ihm reden.“

„Ich habe ihm was vorgespielt“ gestand er mit bodengewandtem Blick.

„Du hast …?“ Jetzt kam Noah ausnahmsweise mal nicht ganz mit. „Was genau hast du ‚vorgespielt‘?“

„Er hat nichts gemerkt“ hauchte er und wurde immer leiser. „Ich habe mich nicht berühren lassen. Ich habe nur so getan als ob ich einen Orgasmus hätte und habe ihm nur meinen Rücken gezeigt. Ich habe ihm was vorgespielt.“

„Du hast Yugi einen Orgasmus vorgespielt?“ Das war nicht wahr! Das konnte nicht wahr sein! „Ich habe schon gehört, dass Frauen so etwas tun, aber Männer … ich meine … entschuldige, wie gaukelt man eine Ejakulation vor?“

„Indem man so tut als bräuchte man ein Taschentuch …“

„Du bist kreativer als ich dachte.“ Er pustete in die Luft und lehnte sich geschafft im Stuhl zurück. Seto hatte Yugi einen Orgasmus vorgespielt. Das sollte ihm mal jemand nachmachen. „Glaubst du, dass das richtig war?“

„Ihn anzulügen, ist nicht richtig. Das weiß ich auch“ stritt er mit zitternder Stimme von sich. „Aber ich kann ihm das nicht kaputt machen. Endlich geht sein größter Wunsch in Erfüllung und … und … ich … er hat doch ein Recht darauf. Nach allem, was er für mich getan hat, hat er ein Recht darauf, dass ich dasselbe für ihn tue.“

„Ich glaube nicht, dass er glücklich darüber wäre.“

„Aber ich musste es tun!“ Seto schlug den Kopf herum und verteidigte sich nach Worteskräften. So bitter, dass die Entenmama ihn warnend anquakte und ihre Kleinen ins Wasser trieb. „Du hast nicht gesehen wie glücklich er war! Seine Augen haben gestrahlt und er war so zufrieden wie noch nie! Sein größter Wunsch ist ihm endlich erfüllt worden! Er hat so viel für mich getan und er hat es nicht verdient, dass ich mich … dass ich mich ziere! Ich muss ihn doch auch glücklich machen!“

„Aber Seto“ bat Noah sanfter. „Liebe und Sex sind keine Pflichten. Du solltest mit ihm schlafen, weil ihr es beide wollt. Und nicht weil du dich dazu verpflichtet fühlst.“

„Aber er hat es verdient, glücklich zu sein!“

„Glaubst du, er wäre glücklich, wenn er wüsste, dass du beim Gedanken an ihn das Kotzen kriegst?“

Nun blieben Seto alle Rechtfertigungen und alle Erklärungen im Halse stecken. Natürlich wäre Yugi nicht glücklich und das wusste er auch. Aber dennoch … dennoch … er hatte es verdient, glücklich zu sein.

„Seto, du machst viel mehr kaputt als du bewahrst“ bat Noah und lehnte sich zu ihm. Nur mit dem Ergebnis, dass Seto zurückwich. „Beim Sex ist Vertrauen eine unverzichtbare Grundlage. Wie soll er dir vertrauen, wenn du ihm etwas vormachst?“

„Ich schaffe das schon noch. Ich kriege das hin.“

„Bitte sei vernünftig“ beschwor er und legte die Hände auf die, nachdem Seto seine Arme fortzog, leere Stuhllehne. „Du machst es nur schlimmer. Du bist doch jetzt schon völlig fertig. Wie stellst du dir vor, soll es weitergehen?“

„Ich schaffe es schon noch.“

„Was denn? Was willst du denn schaffen?“

„Ihn erotisch zu finden. Ich werde mich daran gewöhnen und es lernen.“

„Das ist natürlich sehr ehrenvoll von dir“ seufzte er und nahm die Hände wieder zurück. Er wollte ihn ja nicht bedrängen. „Aber glaubst du nicht, dass dein Mann ein Recht darauf hat, darum zu wissen? Wenn du wirklich daran arbeiten willst, dann hat er ein Recht darauf, mit dir gemeinsam zu arbeiten.“

„Aber … aber …“ Er senkte den Blick und die Stimme. Er wusste ja selbst nicht wirklich, wie es weitergehen sollte. Er wusste nur: „Yugi wäre enttäuscht von mir. Nach allem, was er für mich getan hat, reicht meine Liebe nicht mal, um über seinen Körper hinwegzusehen. Das hat er nicht verdient.“

„Wenn deine Liebe nicht reichen würde, fiele dir das alles hier nicht so schwer.“

„Aber ich liebe ihn doch. Wie kann ich mich da vor ihm ekeln?“

„Verzeih, wenn ich das so direkt sage“ bat Noah und versuchte, möglichst einfühlsam zu klingen. „Ich glaube, du bist zu weit gegangen. Anstatt dich an Yugis Veränderung zu gewöhnen, hast du dich selbst erniedrigt und eine Lüge aufgebaut, die du kaum aufrechterhalten kannst. Du hast dich selbst sabotiert und in eine Notlage gebracht.“

„Danke, das hilft mir sehr.“

„Du solltest mit Yugi darüber sprechen“ insistierte er und fasste seine Hand. Er musste endlich zu ihm durchdringen. „Bitte Seto, du machst dich kaputt. Nichts hat Yugi weniger verdient als das.“

„Was weißt du schon?“ Er zog seine Hand zurück und stand vom Stuhl auf. „Du weißt nicht, wie es ist, so sehr in der Schuld eines anderen zu stehen! Es ist meine Pflicht, alles für Yugi zu tun. Auch wenn es mich selbst schädigt.“

Noah atmete tief, wollte sich nicht auch noch zu Überreaktionen hinreißen lassen. „Aber du schädigst nicht nur deine Seele, mein Brüderchen. Du schädigst Yugis Vertrauen in dich, wenn du ihn belügst.“

„Und genau deshalb muss ich alles tun, um ihn glücklich zu machen.“

„Du hast dich da in etwas verrannt. Du machst Yugi nicht glücklich, indem du ihm etwas vorspielst, was gar nicht da ist. Wenn du Yugi wirklich liebst, dann hat er vor deiner Leidenschaft vor allem deine Ehrlichkeit verdient. Selbst wenn du dich dafür entscheidest, seinen neuen Körper lieben zu lernen, so schaffst du das nicht mit erzwungenem oder vorgetäuschtem Sex. Das schafft ihr nur gemeinsam. Durch sanfte Berührungen, durch Vertrauen und viel Geduld. Du zäumst das Pferd von der falschen Seite auf, Seto.“

„Ich bin es Yugi schuldig, ihn sein Glück genießen zu lassen. Ich darf ihm das jetzt nicht kaputtmachen! Verstehst du das nicht?“

„Doch, ich verstehe dich. Aber je länger du ihn belügst, desto auswegloser wird deine Situation. Ich kenne dich und ich weiß, dass du diesem Druck nicht standhältst. Du provozierst etwas, was vermeidbar wäre.“

„Das war nicht das, was ich hören wollte“ sagte er mit kalter Stimme. „Ich werde lernen, Yugi zu begehren und seinen neuen Körper so zu lieben wie seinen alten. Das und nichts anderes hat er verdient. Das bin ich ihm schuldig.“

„Seto, bitte höre auf mich. Ich bitte dich.“ Er stand auf, ging langsam den einen Schritt auf ihn zu und hielt ihm unbedrohlich die Hände entgegen. „Du musst mit Yugi sprechen. Bitte.“ Er kam direkt vor ihm an und bat ihn ins Antlitz. „Du machst dich kaputt und Yugi auch. Bitte sprich mit ihm. Wenn du es nicht kannst, dann tue ich es.“

Doch Seto beugte sich mit verengten Augen zu ihm herunter und zischte ihm ins Gesicht. „Wehe du sagst ihm auch nur ein Sterbenswort. Wenn du ihm auch nur etwas andeutest, lernst du mich kennen, Noah.“

Und dem blieb nun seinerseits alles im Halse stecken. „Du drohst mir?“

„Das ist eine Sache zwischen Yugi und mir. Und wenn du dich da einmischst …“

„Du bist doch zu m i r gekommen, Seto. Du bist derjenige, der meinen Rat hören wollte.“

„Deinen Rat vielleicht, aber deine Hilfe brauche ich nicht. Also halte dich zurück, bevor ich mich vergesse, klar?“

„Seto, habe ich jemals etwas ausgeplaudert, was du mir anvertraut hast?“ So langsam bekam Seto schon Angst vor den falschen Leuten.

Er versetzte Noah noch einen letzten, kalten Blick und verließ dann die Terrasse, das Büro und das Gebäude. Und hinterließ einen sehr zwiegespaltenen Ratgeber. Er liebte Seto über alles … doch in diesem Moment fürchtete er ihn zum ersten Mal …
 


 

Chapter 43
 

Yugi kam gerade die Treppe hinauf und fand Seto in einem angeregten Gespräch mit seinem kleinen Bruder. Nicht nur, dass er die Worte „Studium“, „Uni“ und „Zuhause“ hörte, verwunderte ihn, sondern vor allem, dass Seto zuhause war. Es war gerade mal elf Uhr am Vormittag und er hatte ihn erst zum Mittagessen erwartet. Zumal er ihm gestern Abend und heute Morgen so aus dem Wege gegangen war.

„Guten Tag die Herren“ grüßte er verwundert und sah Seto an. „Was treibt dich denn hier her?“

„Du. Was sonst?“ Er lächelte, beugte sich das erstaunlich kurze Stück herab und küsste ihn. Nicht weich und kurz, sondern richtig saftig, sodass Yugi fast den Wäschekorb hätte fallen lassen.

„Wow!“ keuchte er und taumelte gegens Treppengeländer. „Wie bist du denn drauf?“

„Habe ein gutes Geschäft abgeschlossen. Jetzt bin ich auch wieder besser gelaunt.“

„Aha … und worüber habt ihr eben gesprochen?“

„Darüber, dass ich einen Brief von der Uni bekommen haben“ erzählte Mokuba mit besorgtem Blick. „Wenn ich weiter Student bleiben will, soll ich vor Ort eine mündliche Zwischenprüfung ablegen.“

„Warum das denn? Ich dachte, das mit dem internationalen Studiengang wäre geklärt.“

„Ist es im Grunde auch. Aber Mokeph und ich haben uns seit den Semesterferien zu Weihnachten in keiner Uni mehr blicken lassen. Und im Gegensatz zu meinem Yami habe ich gar keine Hausarbeiten abgeliefert.“

„Jetzt macht sich deine Faulheit doch bemerkbar“ versetzte Seto.

„Danke für die Aufbauarbeit, großer Bruder.“

„Kein Problem.“

„Aber hier in Blekinge gibt es doch auch eine Uni“ meinte Yugi. „Warum kannst du da nicht eine Zwischenprüfung machen?“

„Weil ich nicht eine einzige Vorlesung besucht habe und die Profs mich gar nicht kennen. Wenn ich nicht vor Semesterende nach Domino reise, werde ich exmatrikuliert. Es ist eh nur Noah zu verdanken, dass ich trotz meines unzureichenden NC zum Studium zugelassen wurde. Wenn Mokeph und ich da rausfliegen, ist das echt scheiße. Und ich stehe noch höher auf der Abschussliste als er.“

„Dann flieg doch nach hause, mach die Prüfung und komm zurück.“

„Das an sich ist ja auch nicht sein Problem“ erklärte Seto. „Aber er hat nicht eines seiner Bücher angefasst.“

„Doch, ab und zu habe ich schon mal reingeguckt“ verteidigte er sich. Wenn auch etwas schwach. „Mokeph schafft die Prüfung ja vielleicht sogar. Aber ich … ich falle da garantiert durch.“

„Weil du faul warst.“

„Ja, ich weiß. Danke, Seto.“

„Tja, Moki“ musste da auch Yugi mitleidig lächeln. Das hatte er nun davon. Er wollte unbedingt Arzt werden, um genau zu sein medizinischer Wissenschaftler, aber dafür musste er eben auch etwas mehr tun als nur mal Post-Its in Bücher kleben. Mokeph hatte zwischendurch wesentlich mehr fürs Studium getan als er. Und das obwohl sein Yami zwei Kinder mehr und eine wütende Ehefrau hatte.

„Eigentlich reicht es ja, wenn Mokeph hingeht“ schmunzelte er zu schelmischen Gedanken aufkeimend. „Ich gebe ihm meinen Haarglätter und meinen Ausweis und niemand merkt den Unterschied.“

„Nur deine Patienten merken später den Unterschied.“

„Du verstehst auch gar keinen Spaß, was?“ guckte er dunkel an Seto hoch. Auch wenn das nur zur Hälfte ein Spaß gewesen war …

„Sprich am besten mit Noah“ riet Yugi. „Er kennt sich bei diesen universitären Organisationssachen am besten aus und soweit ich weiß, hat er doch ganz gute Kontakte unter den Professoren. Und den einen Tag können wir dich sicher auch entbehren und danach kannst du hier weiter studieren. Ich meine, wer weiß wie lange wir hier noch festsitzen?“

„Irgendwie will ich ja schon wieder nach hause“ gab er zu. „Blekinge ist zwar eine schöne Stadt und auch nicht gerade klein, aber Domino ist mir irgendwie doch lieber. Ich vermisse meine Freunde und Opa.“

„Ja, Opa vermisse ich auch“ seufzte Yugi. „Ich habe ihn gefragt, ob er zu meinem Geburtstag in zwei Monaten nicht herreisen will, aber da ist in Domino gerade Ferienende und im Laden viel los.“

Und was im Gegensatz zu Yugi und Seto alle wussten: Opas Rücken war kaputt. Der Alte konnte sich kaum bewegen, geschweige denn eine so weite Reise auf sich nehmen. Noah hatte ihm einige vertrauenswürdige Männer und Frauen aufgedrängt, welche im Laden halfen und ihm auch eine sehr gute Krankengymnastin verpflichtet. Doch wenn Yugi erfuhr, dass sein Großvater im Krankenhaus gelegen hatte, würde er vor Sorge keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Und dasselbe galt für Seto. Also entsprachen alle Mitwisser Opas Wunsch und verschwiegen sein Gebrechen. Schweren Herzens und nicht ganz reinen Gewissens.

„Wir werden deinen Geburtstag auch so gebührend feiern“ munterte Mokuba ihn lieber auf. „Das letzte Mal, dass du eine zwei im Alter hast. Das Jahr drauf wirst du schon 30.“

„Ja, da biste neidisch, was?“ schlug Yugi zurück. „Jetzt sehe ich endlich so alt aus wie ich bin.“

„Ich sehe auch aus wie 26.“

„Nur benimmst dich nicht so“ kommentierte Seto.

„Was bist du gehässig heute, Großer“ schaute Mokuba ihn beleidigt an.

„Ich will nur, dass mal mehr aus dir wird als Noahs Anhängsel. Wenn du Mediziner werden willst, musst du jetzt bald mal Gas geben, Kleiner.“

„Ich setze mich keinem Druck aus. Das gibt nur Falten. Und das ist medizinisch sogar erwiesen“ meinte er und schnalzte über die Schulter. „Ich fahre weg, wer will mitkommen?“

„Mau!“

„Mauwau!“

„Miiiaaaauuuu!“

Drei mal vier Samtpfötchen liefen aus verschiedenen Ecken herbei. Zuerst Happy Birthday, welche aus Mokubas Schlafzimmer kam. Dann Happy End, welche vom Fenstersims des Flures herunterhüpfte. Und Happy Eastern, welcher die Treppe heraufsprang.

„Kommt, wir fahren Tjergen besuchen.“

„Ihr habt euch wohl doch noch richtig gern, was?“ stellte Yugi fest.

„Tjergen ist okay“ erwiderte Mokuba. „Ich finde ihn faszinierend und außerdem glaube ich, dass wir auf einer Welle liegen. Und ich glaube, er braucht auch mal einen Freund, der mit ihm und nicht mit seinem Beruf befreundet ist.“

„Warum auch nicht? Gleich und gleich gesellt sich gern, oder?“

„Na klar. So, Pfötchenarmee, auf zum Wagen!“

„Maauuuaaa!“

„Miiaauu!“

„Maunz!“

Und so tobten sie zu viert die Treppe herunter, Katzenhauptmann Mokuba und seine drei Kuschelsoldaten.

„Diese Katzen sind mehr Hund als Katz“ schüttelte Yugi den Kopf.

„Das sind die Siamgene“ meinte Seto und nahm ihm den Wäschekorb ab. „Du wolltest mit mir sprechen?“

„Ähm ja. Komm rein, Liebling.“ Zwar freute Yugi sich über die ausgesprochen gute Laune, jedoch konnte er auch die Wegschleichsache und die Tablettengeschichte nicht beiseite schieben. Dies bedurfte Klärung, am besten unter vier Augen.

Sie gingen ins Zimmer, Yugi schloss die Tür und Seto setzte den Korb mit der sauberen Wäsche auf dem Bett ab. Um eine möglichst entspannte, beiläufige Stimmung beizubehalten, nahm Yugi eine kleine Jeanshose aus dem Korb und begann die Sachen zusammenzulegen. Seto setzte sich aufs Bett und sah ihm zu. Tatos Jeans, ein Shirt und noch ein Shirt begannen den ersten Haufen. Ein rosa Kleidchen und zwei Schlüpfer den zweiten. Setos Haufen zählte nur erst mal zwei Hosen, dann kamen noch ein paar von Tatos Sachen.

„Tato ist ein ganz schöner Dreckspatz, oder?“ bemerkte Seto.

„Genau wie Jungs sein sollten“ lächelte Yugi. Noch länger nachzudenken, würde nichts bringen. Er musste seinem Mann auf den Zahn fühlen. „Was hast du denn für ein gutes Geschäft abgeschlossen, dass du so früh zurück bist?“

„Das würde dich nur langweilen. Viel interessanter, dass Maximilion uns nächste Woche besuchen will.“

„Pegasus kommt nach Blekinge?“

„Mitsamt seiner neuen Vorstände. Ich habe nicht so viel Lust darauf, aber Noah meinte, wir sollten seine Leute mal kennenlernen und auch sehen wie er so drauf ist. Es ist jetzt ne ganze Weile her seit wir uns persönlich getroffen haben.“

„Ist das auch der Grund, weshalb du gestern so müde und heute so früh weg warst?“

„Ja, so halb. Die Ereignisse haben sich etwas überschlagen, aber jetzt habe ich genug Zeit für dich.“ Er lächelte Yugi an und der besah sich dieses Lächeln sehr skeptisch. Seto wirkte ehrlich und erstaunlich entspannt. Hätte er gestern die Tabletten nicht gefunden, würde er ihm sogar glauben.

Also versuchte er sich an einer kleinen List. „Schau mal“ zeigte er und zog eine schwarze Stoffhose aus dem Korb. „Die Hose hattest du erst gestern an und schon ist sie wieder sauber und trocken. Was sagst du dazu?“

„Gute und schnelle Arbeit, Mr. Muto“ lobte er in Arbeitgebermanier. „Sie haben sich ihren Halbjahresbonus verdient. Und eine Belobigung, wenn Sie sie zudem noch bügeln.“

„Aha.“ Kein Anzeichen von schlechtem Gewissen oder davon, dass er irgendetwas vermisste. „Kann ich dich mal etwas fragen?“

„Kannst es ja mal versuchen.“

„Ich untersuche ja immer die Taschen der Kleidung, bevor ich sie wasche“ begann er und legte beiläufig die Hose zusammen. „Und bei dir habe ich gestern etwas gefunden.“

„Oh, das tut mir leid“ bat er und zog die Augenbrauen zusammen. „Habe ich schon wieder Taschentücher stecken lassen?“

„Nein, nicht direkt.“ Nach der Hose griff er sich Ninis Strumpfhose. „Ich habe Schlaftabletten in deiner Hosentasche gefunden.“

„Ach die. Die habe ich ganz vergessen.“

Er stritt es nicht ab? Das wunderte Yugi jetzt ein wenig. Okay, eine Tatsache abzustreiten, wäre ohnehin vergeblich, aber Seto wirkte nicht einmal beunruhigt. Ganz im Gegenteil, er wirkte fast gruselig gut gelaunt.

„Okay … Liebling, woher hast du denn die Tabletten?“

„Die habe ich mir vom Arzt verschreiben lassen.“

„Du warst beim Arzt?“

„Ja, Freitagabend. Entschuldige, das muss irgendwie in der Hektik untergegangen sein. Ich dachte, ich hätte es dir schon erzählt.“

„Erzählt? Was denn?“

„Ich stand ziemlich unter Stress. Die Sache mit Sethos und dann diese Dinge, die auf mich einprasseln. Manchmal bin ich wie gelähmt und komme nicht von der Stelle. Wie bei einer Panikattacke. Worüber wir schon gesprochen haben.“

„Okay. Und weiter?“

„Ich war beim Arzt und er hat meine Krankenakte aus Domino angefordert. Ich habe ihm gesagt, dass ich wieder vermehrt an Panikkrämpfen und Alpträumen leide und er verschrieb mir diese Beruhigungsmittel.“

„Da fehlten schon drei Tabletten.“

„Eine habe ich noch am Freitag genommen. Eine am Montag und gestern Mittag die letzte. Ich werde mir wohl auch wieder einen Psychiater hier in Blekinge suchen.“ Und lachend setzte er hinzu: „Auch wenn ich noch nicht weiß, was ich ihm für eine Geschichte auftischen soll.“

Yugi sah ihm in die Augen und legte das hellgrüne Kleid aus der Hand. Er ging um die Bettecke herum und setzte sich neben Seto. Hörte aber nicht auf, ihn anzusehen.

„Was ist?“ So langsam wurde er misstrauisch. „Du guckst so komisch.“

„Ich glaube dir kein Wort“ eröffnete er ernst. „Du gehst zum Arzt, nimmst Tabletten, willst dir einen Psychiater suchen und sagst mir überhaupt nichts?“

„Weißt du, es war so viel los und …“

„Ich hasse es, wenn du lügst“ unterbrach er mit harter Stimme. „Hältst du mich für blöde oder so?“

„Yugi, ich …“

„Und jetzt will ich die Wahrheit hören, Seto. Woher kommen die Tabletten wirklich?“

„Vom Arzt. Sage ich doch. Ich habe nur vergessen, dir etwas zu sagen. Ich dachte, ich hätte es dir schon erzählt.“

„Du vergisst so etwas nicht“ hielt er sehr ernst dagegen. „Wenn du es mir nicht erzählt hast, wem hast du es dann erzählt?“

„Ähm …“ Das erste Zögern. Aber er durfte nicht zögern. Er durfte sich seine Ruhe nicht nehmen lassen. „Noah habe ich es gesagt. Aber er sagt so was nicht weiter. Ich meine … das ist ja nichts, womit man hausieren geht.“

„Noah also, ja? Und wenn ich Noah jetzt anrufe, würde er diese Geschichte bestätigen?“

„Glaubst du mir etwa nicht?“

„In dieser Hinsicht nicht. Dafür kenne ich dich zu gut.“ Er stand wieder auf, sah Seto durchdringend an und machte sich zurück an den Wäschekorb. Er wusste, dass ihm hier eine Lüge aufgetischt wurde. Er wollte Seto vertrauen, er wollte ihm glauben, aber alles in ihm läutete Alarmglocken.

„Yugi, ich nehme nicht unkontrolliert irgendwelche Tabletten“ legte er für sich selbst ein gutes Wort ein. „Darüber bin ich hinweg. Das ist alles ärztlich kontrolliert.“

„Dann würde ich diesen Arzt gern kennen lernen. Bisher habe ich immer mit deinen Ärzten gesprochen. Mir ist wohler, wenn ich weiß, wem du Einblick in dein Seelenleben gewährst.“

„Das hat ja mit Seelenleben nichts zu tun. Das ist nur ein normaler Hausarzt. Er hat mir die Tabletten nur einmalig gegen die Krämpfe verschrieben und gesagt, ich solle mich wieder in Behandlung begeben. Ich habe sogar eine Überweisung im Büro liegen.“

„Na ja, dann kann ich diesen normalen Hausarzt doch sicher auch kennen lernen, oder?“ fragte er genauer nach. „Wo bist du denn hingegangen? Zu Doktor Larsson?“

„Nein zu … zu Doktor Muwambi Kassandri Dowamba Misaringe. Das ist ein afrikanischer Arzt.“

„Den Namen kann ich mir ja kaum merken.“

„Reicht doch, wenn ich ihn erinnere“ lächelte er und fühlte sich auf der sicheren Seite. Je komplizierter es wurde, desto weniger würde Yugi nachforschen können.

„Aber so viele afrikanische Ärzte gibt es in Blekinge ja sicher auch nicht. Ich frage einfach Arnor, wo der ist.“

„Ähm … der hat seine Praxis aber Montag geschlossen.“

„Na ja, heute ist Mittwoch.“

„Nein, ich meine er hat sie am Montag für immer geschlossen. Er hat sie aufgegeben.“

„Ach!“ Na, was für eine Überraschung. „Warum?“

„Das war nur ein internationaler Austausch. Er geht jetzt zurück nach Mosambik.“

„Er macht eine Praxis auf und kaum bist du in Behandlung, wandert er aus?“

„Vielleicht habe ich ihn ja erschreckt“ lachte er und kratzte sich verlegen am Kopf.

Doch Yugi reichte es jetzt. Er schmiss Tatos Socken zurück in den Waschekorb und ballte die Fäuste. Er musste sich sehr beherrschen, um nicht laut zu schimpfen und Seto damit zu verschrecken.

„Was ist? Ist dir nicht gut?“

„Ich koche vor Wut“ erklärte er mit gezügelter Stimme. „Du tischst mir hier eine Lüge nach der anderen auf und erwartest, dass ich das schlucke. Was ist los mit dir?“

„Gar nichts“ verharmloste er. „Du machst dir wieder viel zu viele Sorgen. Das führt doch zu nichts.“

„Und wenn ich mich nicht sorge, führt es dich irgendwann wieder in einen geschlossenen Entzug. Ich kenne dich und ich weiß, wie verdammt leicht du in Abhängigkeiten rutschst.“

„Ich weiß. Aber du übertreibst.“

„Was habe ich getan, dass du mich so dermaßen verarschst?“ fragte er und vor Wut stiegen ihm die Tränen in die Augen. „Ich war immer fair zu dir, ich habe dir immer geholfen und immer versucht, Verständnis zu zeigen. Ich mache alle deine Merkwürdigkeiten mit und verteidige dich vor bösen Stimmen. Ich bin immer geduldig und ruhig. Was läuft schief, dass du jetzt wieder anfängst, zu lügen?“

„Yugi, ich lüge nicht. Du weißt doch, dass die Wahrheit manchmal abstruser ist als jede Lüge.“

„Gut, dann nimm deine Jacke“ forderte er auf, drehte sich um und nahm seine neuen Schuhe in die Hand. „Wir fahren jetzt zur Handelskammer, da sind alle Einrichtungen in Blekinge verzeichnet. Und da zeigst du mir dann diesen afrikanischen Arzt.“

„Der wird da nicht mehr drinstehen. Der ist doch weg.“

„Aber in der Historie können wir ihn finden, meinst du nicht?“

„Wir haben doch Mittwoch. Mittwochs hat die Handelskammer früh geschlossen.“

„Hörst du dir eigentlich zu, Seto? Du findest auf alles eine Ausrede.“

„Ich rede mich nicht raus. Aber du beschuldigst mich hier, dass ich lüge und wirfst mir uralte Geschichten vor. Das ist nicht viel besser, Yugi. Du bist ziemlich unfair!“

„Okay, ich will mich nicht streiten.“ Er schlüpfte dennoch in seine Schuhe und blickte Seto dann ernst an. „Ich fahre jetzt ins Aquarium. Ich möchte, dass du hier in der Nähe bleibst und wenn ich in etwa zwei oder drei Stunden wieder zurück bin, möchte ich, dass du in dich gegangen bist und wir dann noch mal ehrlich miteinander sprechen. Bitte überlege dir, ob du deine Behauptungen aufrecht erhalten möchtest oder nicht.“

„Aber Yugi! Ich lüge nicht!“

„Wie dem auch sei“ sprach er ernst weiter. „Ich werde auch nicht nachprüfen ob du die Wahrheit sagst oder nicht. Ich glaube dir einfach. Weil ich dich liebe und weil ich dir vertrauen will. Aber wenn du mich trotzdem anlügst, musst du damit leben, dass du mir etwas ganz, ganz, ganz schlimmes antust.“

Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
 

Und damit saß Seto allein auf dem Bett und fragte sich: „Was habe ich denn falsch gemacht?“ Doch diese laute Frage zielte weniger darauf ab, weshalb er Yugi weiter angelogen hatte, sondern eher darauf, weshalb der ihm diese Lüge nicht abgekauft hatte. Seto hatte sich zusammengerissen und ihm trotz seines schmerzenden Magens und des Würgereizes einen möglichst innigen Kuss gegeben. Er hatte sich um ein Lächeln bemüht, um gute Laune und eine ruhige Stimme. Was bitte hatte er falsch gemacht, dass Yugi ihm misstraute? War er zu fröhlich? Zu viel gelächelt? Irgendwo musste der Fehler liegen …

Als nächstes fragte er sich: „Was mache ich jetzt?“ Er stand auf und lief mit wenigen Schritten zur Badezimmertür. Dort drehte er um und lief um die Couch herum zum Fenster, blickte hinaus. Die Straße war ruhig, nur ein paar Passanten mit Einkaufstüten und eine Gruppe Schuljungs, welche an der Straßenbahnstation warteten. Er drehte sich um und ging an Tatos Zimmertür vorbei, an Ninis Zimmertür vorbei und zum Badezimmer und zurück zum Fenster. Doch es wollte ihm keine Idee kommen, was er nun tun sollte.

Yugi ahnte, dass etwas im Busch war. Es mussten die Tabletten gewesen sein, die ihn alarmiert hatten. Er hätte sie nicht in der Hose stecken lassen dürfen. Er wusste doch, dass Yugi die Kleidung vor dem Waschen durchsuchte. Wie konnte er nur so dumm sein und das vergessen? Nein, er hatte es eigentlich nicht vergessen, aber es fehlte die Zeit. Mit bereits betäubtem Kopf darauf zu warten bis Yugi aus dem Zimmer raus war, sich dann schnell hereinschleichen, den Pyjama anziehen und ins Bett gehen, bevor Yugi ihm ein Gespräch, einen Kuss oder noch mehr abforderte. Sein Kopf war einfach zu müde gewesen, um noch an solch eine Kleinigkeit zu denken. Hätte er die Tabletten einfach zwischen den Akten versteckt, würde er jetzt nicht in diesem Salat stecken.

„VERDAMMT!“ Er schlug den Kopf an die Wand und biss die Zähne zusammen. Er durfte Yugi nichts sagen. Er musste sich ganz schnell eine andere Geschichte einfallen lassen. Alles, nur nicht die Wahrheit. Was sollte er denn auch sagen? Dass er ihn eklig fand? Dass er ihn nicht berühren wollte? Dass er ihn weder ansehen, noch hören konnte? Dass er Angst bekam bei jeder seiner Bewegungen? Er liebte Yugi doch! „VERDAMMT!“ Er schlug den Kopf nochmals gegen die Wand und lehnte sich dagegen. Sein Hirn schwindelte und ein Pochen breitete sich an seiner Stirn aus. Warum nur glaubte Yugi ihm nicht? Er musste ihm glauben, damit er glücklich sein konnte. Wenn Seto ihm sagte, dass er diesen Körper verabscheute, würde Yugi den Zauber rückgängig wünschen und somit seinen größten Wunsch aufgeben. „VERDAMMT! WARUM?! WARUM BIN ICH SO VERKOMMEN?!“ Er knallte mit dem Kopf nochmals gegen die Wand und fühlte den wohltuenden Schmerz. Er erinnerte ihn daran, dass sein Problem real war. Yugi war real. Die Folgen seines fehlerhaften Handelns waren real. Wenn er seinen schöneren Körper aufgab, wenn er ihn für Seto aufgab, würde er niemals wirklich glücklich werden. Er würde sich immer fragen, ob manches anders wäre, wäre er nicht so klein. Nein, nicht Yugi war das Problem. Seto war das Problem, weil er damit nicht zurechtkam. „ICH BIN SO NUTZLOS!“ Er knallte den Kopf gegen die Wand. Noch mal. Und noch mal. Er schmeckte das Aroma von Eisen auf seiner Zunge und von seiner Stirn lief es warm über die Wange und tropfte das Kinn hinab. Sein Kopf schmerzte, aber viel schlimmer drehte sich sein Magen um, sein Herz verkrampfte und er konnte ein Schluchzen nicht zurückhalten. „Was soll ich denn sagen? Was mache ich? Warum?“ Seine Knie knickten ein und er glitt die Wand hinunter auf den Boden. Wenn Yugi herausbekam wie wenig Seto mit dieser Situation klarkam und sich zurückwünschte - er würde niemals ein wahrhaft erfülltes Leben führen. „Warum kann ich dich nicht so lieben wie du mich?“ Er schlug mit der Schläfe gegen den Türrahmen und schluchzte laut auf. Er wusste nicht weiter. Yugi würde zurückkommen und er würde ihm nicht glauben. Wenn er ihn anlog, tat er Yugi etwas furchtbares an. Und wenn er die Wahrheit sagte, tat er Yugi etwas furchtbares an. Es gab kein Entkommen. Aus der Ferne hörte er eine Stimme langgezogen und etwas zu schrill schreien. Er wusste, es war seine eigene Stimme, doch er konnte den Atem nicht anhalten. >Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen< flehte er aus seinem Innersten. Doch sein Kopf schlug wie von selbst gegen die Wand und der Schmerz und der Schwindel waren so beruhigend. >Ich darf nicht zusammenbrechen … ich darf nicht zusammenbrechen … ich muss mich beruhigen … ich muss … ich muss mich beruhigen … hör auf zu schreien … du musst … du musst musst musst …< Er hörte sich Schreien, er hörte das dumpfe Geräusch seines krachenden Kopfes gegen die Wand, er schmeckte das Blut und es nahm ihm die Augensicht. Ach, hätte er doch nur diese blöden Tabletten genommen und würde diese Sache einfach überschlafen. Ihm war schwindelig, alles drehte sich. Nur das krachende Geräusch der Wand und das angenehme Gefühl im Kopf lenkten ihn von der Frage ab, was sein würde. Was sein würde, wenn … wenn … alles … schwarz …
 

Bevor seine Augen wieder Licht sahen, spürte er vor allem ein warmes Gefühl in seinem Rücken. Ein warmes, weiches, ungewohntes Gefühl. Seine Unterschenkel und sein Nacken jedoch fühlten sich angenehm kühl an.

„Ist jedenfalls besser als ein Notarzt.“ Das war Tristans Stimme, die da an Setos Ohren drang. Sie sprachen über Notärzte? War denn jemand verletzt?

„Okay, ich spreche mit ihm.“ Es war Narlas Stimme, welche ihm antwortete. Dann hörte er Schritte und das Schließen einer Tür. Im Hintergrund war ein Plätschern zu vernehmen. Wie ein kleiner Bach. Dann hörte es wieder auf.

Erst als Seto ein kühles Gefühl an seiner Nase fühlte, kniff er die Augen zusammen und versuchte sie langsam zu öffnen. Seine Sinne waren gedämpft und sein Kopf von einem stumpfen Pochen erfüllt. Jedes Zwinkern seiner Augen und das helle Licht taten weh.

„Seto, ganz langsam.“ Tristans Stimme klang besorgt und er fühlte ein schweres Gefühl an seinen Schultern. Wurde er etwa heruntergedrückt? „Bleib liegen. Es ist alles in Ordnung. Wir kümmern uns um dich. Ganz ruhig.“

Nur langsam sammelten sich die Eindrückte. Tristan saß neben ihm und drückte ihn tatsächlich aufs Bett hinunter. Aber der Druck ließ nach und er nahm dann auch seine Hände fort, seufzte und sah ihn besorgt an.

„Verstehst du mich? Kannst du mich sehen?“

Er öffnete den Mund, wollte ihm antworten, dass er ihn sehr gut hörte. Doch es kam nur ein heiseres Hauchen hervor. Als wäre keine Stimme in seinen Lungen. Also schloss er erschöpft die Augen und nickte. Jede Bewegung seines Kopfes entfachte einen Blitz von Schmerz zwischen den Schläfen und er stöhnte auf. Es war also doch noch Stimme in ihm.

„Bleib liegen. Ein Arzt kommt gleich“ beruhigte er und legte seine Hand auf Setos Brustbein. Für gewöhnlich fasste er ihn nicht so vertraulich an, jedoch entspannte es den schmerzenden Körper und selbst Seto verspürte wie sein Atem leichter wurde. Tristans warme, kräftige Hand fühlte sich behütend an. Angenehm. Fürsorglich.

Seto wusste nicht genau, was los war. Sein Kopf war taub, von Schmerzen durchzogen und lähmte den ganzen Körper. Doch gleichzeitig fühlte er sich unter Tristans Hand so wohl.

Er überlegte, was geschehen war. Er erinnerte sich an Yugis Forderung, dass er ehrlich sein sollte. Und danach an die Verzweiflung. Wie verzweifelt er eine Antwort suchte. Eine Antwort, die er Yugi geben konnte. Eine Antwort, welche ihm geglaubt wurde. Eine Antwort, welche nicht dazu führte, dass Yugi den Körper aufgab, den er sich seit so vielen Jahren wünschte. Doch wie sollte Seto das schaffen? Er fühlte wie sich dieser Druck in ihm aufbaute und er zusammenzuckte. Doch Tristans Hand hielt ihn ruhig, sodass er nur den Kopf zur Seite ruckte.

„Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung“ beruhigte Tristan und legte die andere Hand zusätzlich an Setos Wange. Das fühlte sich noch besser an. Warm und geborgen.

Dann dämmerte ihm, was geschehen war. Er hatte sich den Kopf angeschlagen. Nicht aus Versehen. Aber auch nicht absichtlich. Es war einfach passiert. Seine Gedanken hatten sich von seinem Körper getrennt und irgendwie war es plötzlich so erleichternd ruhig.

„Thristan“ hauchte er und versuchte zu ihm aufzublicken. Er erheischte einen kurzen Blick in sein besorgtes Gesicht, doch dann wurde ihm schwindelig und er musste die Augen schließen. Im Hintergrund war wieder dieses Plätschern zu hören. Wo kam das her? Was war passiert? War es wieder passiert? „Hatte hich einhe Attackhe?“

„Sah so aus“ antwortete er mit weicher Stimme. „Ich bin froh, dass du wieder bei Bewusstsein bist. Hast du Schmerzen?“

„Jha“ hauchte er und setzte wie in Trance hinzu: „Geschieht mhir recht.“

„Ach Seto“ seufzte er und streichelte seine Wange. Dazu sagte er nichts weiter.

„Dheine Hände fühlen shich schön han.“

„Danke.“

Da war es wieder. Dieses Plätschern. Das machte ihn wahnsinnig. „Whas ist dhas?“

„Was denn?“

„Ah, du bist wieder unter uns.“ Er hörte Tatos Stimme. Er hörte Schritte und sah dann einen Schatten auf der linken Seite. Ein Gewicht drückte die Matratze herab und er spürte eine andere, intensivere Hand, welche sich an seine Hüfte legte.

Er öffnete die Augen und sah das gealterte Gesicht seines Sohnes über sich. Die blauen Augen fuhren prüfend über seinen Körper bis sich ihr Blick traf. Jedoch nur kurz, bevor ihm wieder schwindelig wurde und er den Brechreiz unterdrücken musste. Das Zucken in seinem Bauch ließ seine Schläfen schmerzen.

„Sieht aus als hättest du eine Gehirnerschütterung.“ Tato klang abgeklärter und härter als Tristan. Aber auch durch seine Hand auf dem Körper verspürte er eine unendliche Fürsorge. „Sollen wir Papa anrufen, dass er herkommt?“

„Auf keinen Fall! AAHH!“ Er sank zurück in die Kissen und atmete den Schmerz aus seinem Kopf fort. Das war ja schrecklich.

„Schon gut. Bleib einfach liegen“ bat nun auch er und legte seine Hand neben die von Tristan, welche seine Brust sanft drückte und das Atmen erleichterte.

Dann hörte er wieder dieses Plätschern. Er öffnete die Augen und huschte schwindelig über die Decke, neben Tato, neben Tristan. Doch dann war es wieder weg. „Hört ihr dhas auch?“

„Was denn?“ fragte Tristan verwundert. „Was hörst du immer, Seto?“

„Dhas Plätschern. Irgendwho plätschert hes.“

„Das ist der Spatz. Er wischt den Boden“ antwortete Tato. Er rutschte höher, griff unter Setos Schultern und hob ihn vorsichtig an. Sein Kopf schmerzte noch mehr, aber es wurde besser als er erhöht lag. Nun konnte er auch ein wenig besser sehen.

Phoenix setzte sich ans Fußende und lächelte ihn halb tröstend, halb besorgt an. In diesem Moment stellte er einen kleinen, weißen Eimer auf den Boden und trocknete sich die Hände in einem Handtuch ab. Er wischte also den Boden?

„Wharum?“ Der Boden war doch sauber. Yugi war ein guter Haushälter.

Eine Antwort bekam er nicht, doch je mehr sich sein Blick klärte, desto besser erkannte er seine Lage. Er sah rote Spuren mitten auf der weißen Wand und darunter einige kleinere, welche sich bis zum Boden tüpfelten. Um seine Beine waren feuchte, kühle Handtücher geschlungen und das kühle Gefühl in seinem Nacken stammte von einem gefrorenen Coolpad, welches von einem flauschigen Handtuch umwickelt war. Nur die Wärmflasche in seinem Rücken passte nicht zu der Kühlung.

„Die ist, damit dein Kreislauf nicht ganz abkackt“ erklärte Tato seinen Gedanken.

Seto seufzte und ließ sich ins Kissen zurücksinken. Je ruhiger er wurde, desto mehr kamen seine Sinne zurück. Dumpf, aber langsam. Um seinen Kopf spürte er nun auch einen Druck von außen. Wahrscheinlich hatte man ihm eine Wunde auf der Stirn verbunden. Irgendwo musste das ganze Blut an der Wand ja herkommen. Er hatte also doch einen Panikanfall gehabt. Er wollte das nicht. Er hatte versucht, es zu verhindern. Doch sein Körper hatte sich selbstständig gemacht und seine Seele mit hineingezogen. Es war genau wie Noah es kritisiert hatte. Yugi war kaum einen Tag verändert und schon brachte es ihn ans Ende seiner Kräfte. Wie sollte er das durchhalten? Wie sollte er seine Lüge zu Yugis Wohlbefinden aufrecht halten, wenn er sich selbst nicht aufrecht halten konnte?

„Mama?“ Tato trennte ihn abermals von seinen Gedanken und berührte behutsam seine Schläfe. „Wir können Onkel Moki im Moment nicht erreichen, aber Dr. Aksel Mäkinen ist hier. Er ist ebenfalls ein Heilhexer und er hat sich bereiterklärt, sich deinen Kopf mal anzusehen.“

„Meinen … Kopf.“ Er meinte wahrscheinlich das Ding zwischen seinen schmerzen Schläfen, dem pochenden Hinterkopf, den flackernden Augen und den knirschenden Zähnen.

„Arnor und Finn haben Dr. Mäkinen beide ihr Vertrauen ausgesprochen. Wenn es für dich in Ordnung ist, würde er sich zu dir setzen.“

„Ein … ein fremder Heiler …“ Seto hatte zwar viel Erfahrung mit diversen Ärzten, aber einen anderen Heiler als den eigenen Bruder hatte er noch nie an sich gelassen. Sicher war auf die Empfehlung von Arnor und Finn viel zu geben, aber ein fremder Heiler mit fremder Kraft? Im ersten Augenblick schnürte sich seine Kehle zu bei dem Gedanken daran. Doch im zweiten Augenblick fuhr ein Zischen durch seinen Kopf, welches der Kehle sagte: Halt die Klappe, Alter! „Jha, ist okay“ hauchte er und schloss die Augen. Ihm wurde schon wieder schwindelig. Er hatte schon so viel Mist verbockt und wenn er Yugi jetzt auch noch so unter die Augen trat, war alles aus. Dann würde er diese Sache gar nicht mehr selbstständig geregelt bekommen. Eine schnelle Heilung versprach wenigstens etwas Hoffnung.

„Eraseus?“ Seto hatte niemanden hinter Tato sehen können, doch die Stimme des Heilers war angenehm tief und klang ruhig, sodass er nur irritiert war, doch zumindest nicht erschrocken. Er öffnete die Augen und sah einen Mann neben dem Bett knien. Wie die Stimme bereits vermuten ließ, ein älterer Herr. Sein hellgraues Haar war nach hinten gelegt und seine Haut sonnengebräunt. Seine Augen waren zwar recht klein, aber von freundlichen Lachfalten umrandet. Ein sehr schlanker Mann mit positiver, fröhlicher Aura. „Oder möchten Sie, dass ich Sie Mr. Muto nenne?“

„Egal.“ Das war ja nun das geringste seiner Probleme.

„Dann sage ich Mr. Muto, wenn es recht ist“ suchte er sich aus und betrachtete Setos Gesicht, seinen ganzen Kopf eindringlich. Dann seinen Hals und seine Brust, auf welcher noch immer Tristans Hand lag. „Mr. Muto, Ihr Sohn hat mir gesagt, Sie haben es nicht gern, wenn man Sie berührt. Für eine Heilung, müsste ich Ihnen jedoch die Hand auflegen. Ich würde mich in ihre Physis einfühlen und ihre Selbstheilungskräfte anregen, sodass Sie sich im Endeffekt selbst gesunden. Da ich bereits seit meiner Kindheit Magier heile, bin ich sehr erfahren. Wo ich Sie berühre, ist daher völlig gleichgültig. Wenn Sie gestatten, würde ich Sie nur ganz leicht an der Hand berühren. Sie dürfen mir aber natürlich gern eine andere Stelle, welche Ihnen angenehmer wäre, erlauben.“

Der Mann war ruhig und wirkte nicht im Geringsten einschüchternd. Dass er ihn anfassen wollte, rührte zwar eine gewisse Unruhe in ihm an, jedoch schmerzte ihn sein Kopf so sehr, dass er vieles tun würde, um dem abzuhelfen. Außerdem musste er schnell wieder auf den Beinen sein. Mit einer Gehirnerschütterung konnte er nicht mit Yugi diskutieren und sich auch keine praktikable Lösung einfallen lassen.

„Mr. Muto“ sprach der Arzt nochmals mit dunkler, milder Stimme. „Ich werde nichts tun, was Sie mir nicht gestatten.“

„Mein Khopf thut weh“ atmete er und wollte die Augen nicht vor ihm schließen. Er musste sehen, was der Mann tat. Er musste die Unruhe und den Fluchtreflex in Zaum halten. Auch wenn ihm dabei schrecklich schwindelig wurde.

„Ich kann Sie auch an der Stirn berühren“ bot der Heiler an und erwiderte den starren, blauen Eisblick mit Freundlichkeit. „Ich nehme nur eine Fingerspitze dazu. Sie werden kaum etwas von mir fühlen. Zumal ein Verband zwischen uns ist.“

„Nhein … nehmen Sie dhie Hand“ bat er und schluckte den erneut aufblitzenden Schmerz herunter. Sein Herz schlug ungesund schnell. Dieser Mann musste ihn anfassen. Am liebsten würde er aufspringen und davonrennen. Doch er spürte über diesen Kopfschmerz seine Beine kaum.

„In Ordnung. Ich setze mich neben Sie, wenn ich darf. Meine Knie sind nicht mehr die jüngsten.“ Da Seto nichts sagte, setzte sich der Heiler an die Stelle, wo eben noch Tato gesessen hatte. Doch sein Körper drückte die Matratze nicht so schwer herunter wie Tatos. Weiter sahen sie einander in die Augen. Seto war das alles hier enorm unangenehm und er fühlte als würden ihn diese hellen Augen auffressen wollen. Was sah der Mann, wenn er ihn ansah? Sicher einen gestörten, schmutzigen, dummen Menschen …

„Dr. Mäkinen“ sprach Tristan mit sehr leiser Stimme als würde er nicht wollen, dass Seto es hörte. „Sehen Sie nicht so lange direkt in seine Augen.“

„Natürlich. Entschuldigung.“ Seto hatte das zwar gehört und es war ihm peinlich, dass er sich an Dingen, welche für andere völlig normal waren, so sehr störte. Doch in ihm tobte und raste und brüllte alles auf. Je länger dieser Heiler neben ihm saß, desto größer wurde seine Nervosität. Wenigstens wandte der Alte sofort den Blick ab und machte sich selbst dadurch erträglicher. „Mr. Muto, ich berühre jetzt Ihre Hand, wenn ich darf. Mr. Taylor, wenn Sie so freundlich wären und Ihre Hand fortnehmen würden.“

Seto hielt mit aller Kraft seine Augen offen und hoffte, dass der Schwindel, der Schmerz und diese unangenehme Situation gleich ein Ende nehmen würden.„Jha … okay“ hauchte er schwach und vernahm doch ein Zittern in der eigenen Stimme. Er war schon wieder so sensibel und angreifbar. Er hasste sich selbst dafür. Er hasste sich dafür wie verloren er sich vorkam ohne Tristans warme, behütende Hand auf seinem Brustbein.

„In Ordnung. Sie werden es kaum spüren, Mr. Muto“ versprach der Heiler und nahm nur die Spitze des Zeigefingers, um Setos linken Handrücken zu berühren.

Was dann geschah, konnte Seto nicht kontrollieren. Es fühlte sich als würde er in seinen Seelenraum gesogen werden und schaute doch von außen auf sich selbst. Als würde er direkt neben sich stehen, als wäre er sein eigener Yami. Und was er sah, schockierte ihn.

„ZURÜCK!“ schrie Tato und stieß den Heiler vom Bett. Doch nur, um Seto entgegen zu stürzen und ihn zurückzuhalten. Der sprang nämlich mit einem Satz auf, brüllte aus allertiefster Lunge einen markerschütternden Drachenschrei und schnappte mit seinen Kiefern ins Leere. Der alte Mann landete halb am Bettende, halb auf dem Boden, während Tato auf seinen Vater weniger Rücksicht nahm. Er packte ihn an der Kehle und stieß ihn mit aller Kraft an die Wand. Seto sah sich selbst die Zähne fletschen und seine Augen einen Ausdruck annehmen, den er bei sich selbst niemals erfahren hatte. Seine Lippen bebten, seine Brust grummte wie eine Bohrmaschine und seine Arme wischten Tatos kräftigen Körper beiseite. Mit geiferndem Schlund stürzte er erneut auf den Heiler zu, wollte ihn mit den Krallen am Bein packen, doch ein Windstoß wälzte ihn über den Heiler hinüber und knallte ihn an die gegenüberliegende Wand.

Tatos Brüllen prallte auf sein eigenes und Seto beobachtete sich dabei wie die Flügel sein Hemd zerrissen und den Sessel in den Fensterrahmen trieben. Doch nicht nur aus seinem Rücken wuchsen weiße Ungetüme. Erstmals verwandelten sich seine Hände in gepanzerte Pranken mit dolchartigen Klauen. Er spie die Galle beiseite und stieß sich mit den Flügeln von der Wand ab. Er hob seine Krallen und stürzte auf den vor Schreck erstarrten Heiler zu. Er zielte auf seinen Brustkorb und wusste, wenn er ihm die Kehle zerriss, ließ er ihn in Ruhe.

Tristan warf sich zwar über den Alten, doch Seto wusste, er hätte ihn dennoch erwischt. So oder so. Hätte nicht Tato seine Flügel mit einem noch heftigeren Windstoß, welcher den Sessel endgültig durchs Fenster stieß, gegen die Wand geschleudert. Noch während er den Wind vorschickte, überwandte er die kurze Distanz, griff die Flughaut seines Vaters und zog sie tief in einen kräftigen Haltegriff. Seto hörte seine spitze Stimme an der Wand wiederhallen und sah dann wie sich seine eigenen Krallen in die Hüfte seines Sohnes trieben. Tato schrie auf vor Schmerz und donnerte ihm einen Groll entgegen, doch er ließ ihn nicht los. Im Gegenteil.

Er zog die Flughaut hinunter und zwang Seto in eine leicht gebeugte Position. Noch während der schrie und fauchte und ihm die zweite Pranke in den Oberschenkel rammte bis das Blut sie beide verschmierte, löste Tato seinen Griff und schnappte sich stattdessen die Knochen der Flügel. Er drängte den tosenden Drachenmenschen zurück und tat selbst etwas erschreckendes. Er drückte sich ihm näher, hielt die umher schlagenden Flügel so weit es ging fest an die Wand gepresst und biss ihm im geeigneten Moment in die Kehle. Seto spie ihm all seine Abwehr entgegen, doch Tato hatte sich festgebissen und ließ nicht von ihm ab. Und wenn Seto ihm in diesem Moment den Torso aufgeschlitzt oder ihm das Bein abgerissen hätte, Tato hätte ihn nicht losgelassen. Sie hatten sich ineinander verkeilt und allein der Instinkt befahl ihnen, sich nicht zu lösen. Sie würden einander zerfleischen, wenn jetzt einer losließ.

Von Brüllen, Knurren und Donnern begleitet, rangen sie miteinander auf dem Boden. Von außen erkannte Seto selbst nicht, wer oben und wer unten war. Doch eines wusste er - sein Körper verletzte den eigenen Sohn. Das durfte doch nicht sein! Warum geschah das? Warum sah er sich selbst von außen und war unfähig etwas dagegen zu tun? Warum kämpfte er mit Tato? Warum wollte er diesen Alten töten? Aus welchem Grunde? Aus welchem, kranken Grunde?

Setos Sicht auf die Dinge verschwamm und ganz kurz blitzte ein Schmerz an seiner Kehle auf. Er spürte wie warm und feucht seine Hände waren und wie beißend der Schmerz in seinem Rückenmark. Dann ging erneut alles betäubend schnell.

Tato nutzte den winzigen Moment, löste seinen Biss, rollte sich auf ihn, rammte ihm das Knie zwischen die Flügel und umklammerte mit der ganzen Kraft seiner Arme die dicken Flügelknochen. Diese drückte er an sich und schrie selbst auf vor Schmerz und Energie. Setos schneeweiße Krallen schnitten den Parkettboden auf, genau wie sein spitzer Schrei die Luft zerschnitt. Doch Tato hatte die Überhand gewonnen und hielt ihn auf dem Boden fest. Halb gelähmt und fast bewegungslos stockte Setos Atem und der Blick klärte sich wieder. Er durfte Tato nicht verletzten. Er wollte ihn nicht verletzen. Ihn nicht und niemand anderen …

Er sah vor sich das Fußende des Bettes. Das Bett stand schief und irgendwie nicht dort, wo es hingehörte. Der Boden fühlte sich warm an seiner Wange an und sein Körper wurde taub. Doch gleichsam spürte er wie sein Atem sich beruhigte. Das Grollen wurde weniger und die unbändige Angst und Wut und der Fluchtinstinkt ließen nach. All diese übermächtigen Gefühle wurden weniger und weniger und als er das nächste Mal seine Hände ansah, waren die Krallen verschwunden. Stattdessen überzog weiße, ledrige Haut seine Hände und verblasste erst kurz vor dem Ellenbogen zu normalem, rosa Fleisch.

„Was habe ich getan?“ entfuhr ihm mit leerer Stimme. Er war nicht ängstlich. Jedoch auch nicht reuig oder aggressiv. Er fühlte sich … wie ausgehöhlt. Erschöpft und taub.

„Scheißhe“ hörte er Tato über sich und fühlte den Druck in seinem Rücken verschwinden. Dafür hörte er einen dumpfen Knall und sah seinen Sohn blutüberströmt neben ihm auf dem Boden liegen. Seine Hüfte war fast bis zur Schulter aufgerissen und aus seinem Bein pulsierte eine Blutader rote Bäche auf den Läufer.

Das erste Gefühl, was ihn ereilte war Angst. Doch nicht Angst vor sich oder vor dem, was er getan hatte. Sondern Angst um sein Kind.

„TATO!“ Seine weißen Hände griffen dessen Schultern, doch das blasse Gesicht zeigte keinerlei Regung. Er hatte wahrscheinlich zu viel Blut verloren. Nur Seto war unverletzt bis auf eine kaum blutende Bisswunde am Nacken. „TATO! OH GOTT!“

Sein erster Gedanke ging zu dem Heiler hin, doch dieser lag nicht mehr auf dem Bett. Tristan hatte ihn in die nächstbeste Deckung gedrückt und so saßen sie gemeinsam zwischen Sofa und Couchtisch. Diese standen auch nicht mehr seitlich neben der Tür, sondern wie barrikadiert vor dem Bad. Tristan sah nur geschockt auf die blutrote Szene. Der Heiler jedoch zitterte am ganzen Körper, klapperte gar mit den Zähnen. Doch darauf konnte Seto jetzt keine Rücksicht nehmen.

„Er verblutet!“ schrie er und sah den Heiler flehentlich an. „Hilf ihm! Komm her und hilf ihm.“

Doch der Alte konnte sich nicht rühren. Er war erstarrt.

„Dr. Mäkinen!“ Tristan behielt zwar seinen panischen Ausdruck, doch er schüttelte den Mann an den Schultern. „Machen Sie schon! Sie müssen ihm helfen!“

Noch immer fand der freundliche und sanfte Doktor keinen Mut, sich aus seiner Panikstarre freizumachen. So etwas hatte er wahrscheinlich noch niemals gesehen oder gehört.

„TATO VERBLUTET!“ schrie Seto ihn verzweifelt an. „MEIN BABY VERBLUTET! HELFEN SIE IHM! BITTE! ER VERBLUTET!“

Doch um den Heiler war’s geschehen. Der starrte ihn an, ohne wirklich etwas zu sehen. Der Schock saß tief. Wer sah denn auch schon zwei Halbdrachen, welche sich an die Kehle gingen?

„Seto, wir müssen die Blutung stoppen! Binde sein Bein ab!“ Tristan suchte sofort nach einer anderen Lösung, griff sich eines der verwehten Handtücher vom Sofa und quetschte sich hoch.

Doch wieder war ihnen jemand gütig gesonnen. „Was ist denn hier los?“ Mokuba erschien in der Tür und sah das verwüstete Zimmer. Das Bett mitten im Raum. Die Fenster kaputt. Die Couch und der Tisch vorm Badezimmer. Die beiden Kommoden an verschiedenen Zimmerecken und das Bücherregal lag ausgekippt im ganzen Raum.

„MOKUBA!“ Seto sah die Rettung. „HILF IHM! MEIN BABY! MEIN BABY VERBLUTET!“

„Wer?“ Er sah seinen großen Bruder nur irgendwo hinter dem Bett kauern. Doch als er einen Schritt nach dem anderen näherkam, sah er nackte Füße, dann Beine, eine zerrissene Jeans und dann eine klaffende, blutende Fleischwunde. „Fuck! Was habt ihr denn gemacht?“ Sofort sprang er über das Bücherregal, über das Bett und fiel auf der anderen Seite herab. Dann sah er noch viel schlimmeres. Der Oberschenkel war nur das kleinere Problem. An der Seite war Tatos Brustkorb aufgeschnitten. Ein Wunder, dass er hier vergleichsweise wenig blutete.

„Hilf ihm“ winselte Seto und sah ihn durch Tränen an. „Bitte, Mokuba. Bitte hilf ihm.“

„Habt ihr ein Glück, dass ich so ein komisches Gefühl hatte.“ Er schob die Ärmel seines Seidenshirts hoch und legte sofort die erste Hand in den geöffneten Brustkorb hinein. Mit der anderen drückte er die Blutung am Bein zurück.

„Hilf ihm, bitte. Mokuba. Bitte. Bitte. Er verblutet.“

„Ja, Seto. Ich bin schon dabei.“

„Bitte. Er verblutet. Bitte, Mokuba. Bitte.“

„Ja, doch.“ Seto klang als würde er selbst unter Schock stehen. Wie ein Tantra wiederholte er immer wieder dieselben Worte:

„Bitte. Hilf ihm. Er verblutet. Bitte. Hilf ihm. Mein Baby … hilf ihm. Er verblutet …“

„Ja, Seto. Sei ruhig. Ich muss mich konzentrieren.“

„Tut mir leid. Bitte hilf ihm. Mein Baby verblutet. Er verblutet. Bitte. Bitte.“

„TRISTAN!“ schrie er zu dem hinüber. „Schaff mir Seto vom Leib!“

Der hatte zwischendurch den Doktor flach auf den Boden gelegt und dessen Beine auf einige Kissen. Danach kam er schnell zu dem schockierten Seto und nahm ihn vorsichtig an den Schultern. „Komm, Seto. Du störst Moki nur.“

„Aber Tato verblutet.“ Er wandte ihm seine eisblauen Augen zu und begann am ganzen Leibe zu beben. Jetzt erst realisierte er, was geschehen war. „Mein Baby. Ich habe mein Baby getötet.“

„Unsinn. Tato ist hart im Nehmen. Komm jetzt hoch. Los.“ Es brauchte schon etwas Kraft, um einen Berg wie Seto zu versetzen, doch der leistete nicht wirklich Widerstand.

Während er Seto wenigstens einen Meter aus der Blutlache zog, sah er sich nach dem Letzten im Bunde um. Phoenix war in dem Gemenge irgendwo untergegangen und rührte sich auch nirgends. Erst als Seto aus Mokubas direktem Dunstkreis entfernt war, stellte er sich hin und überblickte das Chaos im Raum. Ihn zu rufen, wäre wohl unklug - er würde sich ja doch nicht melden.

„Bleib hier sitzen“ befahl er Seto mit ernstem Ton und bekam einen herzzerreißend eingeschüchterten Blick dafür. „Genau hier. Bleib genau hier sitzen. Seto.“ Er deutete mit dem Finger auf ihn und warnte. Er hatte Seto zwar nichts entgegenzusetzen, doch der würde in diesem Moment wohl sogar vor einer Fliege Angst haben. „Okay. Du bleibst hier sitzen und bist ruhig.“ Dann erst konnte er suchen gehen. Er beugte sich herab, doch unter dem Bett war niemand. Er zog die umgekippte Kommode ab, doch dort war auch niemand. Hoffentlich war ihm nichts passiert. Phoenix war eh nur so ein schmächtiges Bürschlein. Wenn ein Möbelstück auf ihn herabfiel, wäre es um ihn geschehen. Er stieg über die Trümmer des Bücherregals und suchte jeden Zentimeter ab. So groß war das Zimmer doch nicht, verdammt! Dann sah er endlich einen Arm, welcher aus einem der Kinderzimmer ragte. „Spatz!“ Er stolperte dorthin, öffnete die Tür und sah ihn dort bewusstlos liegen. Sofort kniete er sich zu ihm und prüfte seinen Atem. „Puh. Was liegst du denn hier rum und schläfst?“ seufzte er erleichtert. Mit seinem Fliegengewicht war er von einem der Windstöße offensichtlich in Ninis Zimmer gepustet worden. Sein Arm war etwas rot und geschwollen, wahrscheinlich hatte er ihn sich in der umherschlagenden Tür geklemmt. Doch bis auf das schien es ihm gut zu gehen.

Es war ein Leichtes für Tristan, ihn auf den Arm zu nehmen und zu dem schockerstarrten Heiler aufs Sofa zu legen. „Also, eines muss man euch Drachen lassen“ sprach er leise zu sich selbst. „Wenn ihr euch prügelt, dann richtig.“
 


 

Chapter 44
 

Dieses Mal war es dann Tato, welcher die Augen auftat und sich erst orientieren musste. Er fand sich selbst auf dem Bett, wenigstens seinem eigenen Bett, liegend und das erste, was er sah, waren rotgeweinte, stahlgraue Augen hinter einer Brille, die einen Sprung hatte. Dann fühlte er wie seine Hand gedrückt wurde und hörte diese feine, helle Stimme, welche er so sehr liebte.

„Asato. Wie fühlst du dich?“

„Hey, Kleiner.“ Er musste lächeln. Phoenix war einfach zu niedlich, wenn er mit seinen großen Augen so bang dreinschaute.

„Geht es wieder? Ist dir schwindelig? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?“

„Oh, Spätzchen“ seufzte er und verdrehte die Augen. Er wusste wie gruselig das aussah, wenn er dazu noch mit der Oberlippe zuckte. „Diese Schmerzen …“

„ASATO!“ Phoenix griff seine Schultern und legte ihm dann vorsichtig die Hand auf die Stirn. „Bitte, bleib bei Bewusstsein. Moki, warum tust du denn nichts?“

„Oh, mein Süßer“ ächzte Tato und schloss die Augen. Atmete schwer ein und ließ seinen Hals rasseln.

„Asato. Was ist denn?“

„Ich glaube, ich sterbe.“

„Mach keinen Quatsch! MOKI! MOOKII!“

„Phoenix, mein Süßer.“ Er griff seine Hand und hielt sie schwach zwischen Daumen und Ringfinger. „Mein Süßer. Erfüllst du mir noch einen Wunsch?“

„Rede nicht so was! Du kommst wieder auf die Beine.“

„Es ist mir wichtig. Bitte. Bitte, Süßer.“ Er hustete und sein Atem klang feucht. Seine Kehle zitterte und er hatte kaum Kraft in der Hand …

„Okay.“ Ihm stiegen schon wieder die Tränen in die Augen. „Was ist es denn? Ich tue alles für dich.“

„Dhas ist ghut“ keuchte er, öffnete die Augen und sah ihn leidlich an. „Bläst du mir einen?“

„ASATO!“

„Du bist unmöglich“ musste Mokuba jetzt endlich lachen. Er wusste, dass er ganze Arbeit geleistet und den zerfetzten Drachen komplett heilgemacht hatte. Nur Phoenix ließ sich zu leicht ins Boxhorn jagen.

„Also, das heißt wohl nein“ lachte auch Tato und rieb sich den Arm, auf den Phoenix ihn schlug. „Schade.“ Jetzt sah er nur noch dessen Rückseite, weil er sich beleidigt umgedreht hatte.

Er fühlte sich trotz allem noch etwas schwach und brauchte einen zweiten Anlauf bis er sich auf die Ellenbogen stützen und gegen die Wand lehnen konnte. Dann sah er seinen Vater am Fußende sitzen, seinen Bauch umklammert und zu Boden starren. Seine Hände und die Unterarme waren noch immer von weißem Leder überzogen, doch er schien sich beruhigt zu haben. Auch ein neues Hemd hatte man ihm übergezogen. Auch wenn man schwarz an ihm selten sah.

„Hey Mama“ lächelte er ihn versöhnlich an. „Ist das etwa mein Hemd?“

Ganz langsam drehte er den Blick herum und sah ihn an. Mit traurigem, schuldigen Blau. Es fehlte nicht viel und er würde in Tränen ausbrechen. Das sah man ihm sofort an.

„Tjaaa … dann …“ meinte Mokuba und sah hilfesuchend zu Tristan, welcher in der Tür erschien. Und was tat man nun? Sollten sie gehen oder Seto beistehen? War ja schwierig, wenn der schon die ganze Zeit kein Wort herausbrachte und sich nur willenlos von einer Ecke in die nächste treiben ließ.

„Herrje.“ Tatos Augen wurden groß und er rutschte noch ein Stück höher bis er aufrecht saß. „Mama, erzähl jetzt nicht, das war dein erstes Mal?“

„Mein was?“ Endlich fand er seine Stimme wieder. Es wäre verständlich, wenn Tato ihm den Kopf abriss, ihn beschimpfte oder ihm Vorhaltungen machte. Doch der schien alles andere als gekränkt. „Was meinst du?“

„Na ja … das“ versuchte er zu beschreiben.

„Du meinst, dass ich mich in ein Monster verwandle und meine Kinder zerfleische?“

„Zum Beispiel.“

„NEIN! Natürlich ist mir das noch nie passiert!“

„Hat dich erschreckt, was? Ich dachte, diesen Selbsterfahrungstripp hättest du schon hinter dir. Ich war 13 als meine Drachen mich das erste Mal zurückgedrängt haben.“

„Zurückgedrängt?“

„Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, oder?“ So langsam dämmerte es Tato. Er war hier offensichtlich mehr als nur einen Schritt voraus.

„Ich habe dich lebensgefährlich verletzt“ antwortete Seto mit brüchiger Stimme. „Den Doktor hätte ich vielleicht sogar getötet, wenn du dich nicht vor ihn gestellt hättest. Was auch immer das war, es darf nicht noch mal passieren.“

„So wie du im Moment denkst, wird es ganz sicher noch mal passieren“ erwiderte er ernst. „Mama, erst mal solltest du dich beruhigen und danach …“

„Da bin ich schon.“ Yugi erschien neben Tristan und war ganz außer Atem. Mokuba hatte ihn angerufen und in Telegrammform berichtet, was geschehen war. Natürlich war er da mit einigen Geschwindigkeitsübertretungen heim gerast. Er sah, dass Tato zwar auf dem Bett lag, jedoch schon wieder ganz passabel aussah. Von den zerrissenen Klamotten mal abgesehen, war ihm kaum anzusehen, was Mokuba beschrieben hatte. Dafür saß Seto am Fußende und machte einen nicht ganz so stabilen Eindruck. „Liebling, ist alles in Ordnung?“

„NEIN! GAR NICHTS IST IN ORDNUNG!“ keifte er und sprang auf. Er ging rückwärts bis er mit dem Rücken an die Wand stieß. Eine ganz deutliche Abwehrhaltung. Auch sein Atem beschwerte sich und seine Augen glänzten vor Tränen.

„Mama, es ist gut“ beruhigte Tato. „Mir ist nichts passiert und dem Heiler auch nicht. Kein Grund zu überstürzten Reaktionen.“

„DU HAST JA AUCH NICHT DEIN BABY ZERFLEISCHT!“

„Nein, aber dich“ sagte er und sah ihn fest an. „Als mir das damals geschah, warst du derjenige, der mir Einhalt geboten hat. Dabei habe ich dir die Rippen zertrümmert und dir fast das Bein abgerissen. Und auch damals war es Onkel Moki, der im richtigen Moment zur Stelle war. In meinen Augen sind wir jetzt quitt, du und ich.“

„Mokuba“ fragte Tristan an dieser Stelle. „Du wolltest doch eigentlich mit Tjergen ins Schwimmbad. Warum bist du zurückgekommen?“

„Ich habe keine Ahnung“ erklärte der und sah seinen großen Bruder an. „Ich hatte so ein Gefühl im Bauch, dass ich zurückfahren sollte.“

„Das könnten Engel gewesen sein“ riet Yugi und blieb stehen als Seto seine Annäherung mit einem neuen Seitwärtsschritt beantwortete. „Ich war im Schwimmbad und habe mitbekommen wie Sethos Selbstgespräche geführt hat. Aber Amun meinte, dass er nicht mit sich selbst, sondern mit seinen Engeln spricht. Vielleicht hat er sie geschickt, damit sie dich hertreiben. Viele Bauchgefühle oder Vorahnungen, welche die Menschen haben, sind in Wirklichkeit Engelsgeflüster.“

„Das kann vielleicht sein“ gab Mokuba zu. Vielleicht war dieses starke Gefühl ein Rat, welchen ihm die Engel gegeben hatten. „Wäre ich nicht zurückgefahren, wäre Tato höchstwahrscheinlich verblutet. Er hatte vier Rippen gebrochen und ein Teil der Lunge und seine Leber waren aufgeschnitten. Und in seinem Oberschenkel war die Arterie zertrennt.“

Das war zu viel. Seto schlug sich die weißen Hände vors Gesicht und krümmte sich zu Boden. Er hätte Tato fast umgebracht. Seinen eigenen Sohn. Sein Baby. Er hatte nicht nur damals Joey fast getötet, jetzt war es schon wieder geschehen. Er hatte die Kontrolle verloren und grundlos einen anderen verletzt. Nein, nicht nur einen anderen, sondern jemanden, den er über alles liebte. Und wäre es nicht der kräftige Tato gewesen, jemand anderes wäre jetzt tot.

„Hey Mama, ist doch halb so wild“ meinte der mit sanfter Stimme. „Mein Körper schüttet im Kampf so viel Adrenalin aus, dass ich von den Schmerzen gar nichts mehr weiß. Und Angst habe ich vor dir noch nie gehabt.“

„Liebling.“ Yugi kniete sich zu ihm und berührte sanft seine Schulter. „Beruhige dich erst mal. Dann können wir …“

„NEIN! GAR NICHTS KÖNNEN WIR! ICH BIN EIN MONSTER! EIN MONSTER!“ Er sprang auf und rannte aus dem Zimmer.

Tristan konnte nur noch aus dem Wege springen, bevor man auch schon eine Tür zuschlagen hörte. „Jetzt ist er in dem verwüsteten Zimmer verschwunden.“

„Was ist nur mit ihm los?“ fragte sich Yugi und sah zu Tato. „Was ist denn hier passiert?“

„Na ja, zuerst hatte er wohl eine Panikattacke“ erklärte der gefasster. „Tristan hat ihn gefunden als er sich den Kopf an der Wand aufschlug, aber da wurde er quasi schon bewusstlos. Er hatte äußerlich nur eine Platzwunde, aber weil er so gar nicht recht zu sich kam, tippten wir auf eine Gehirnerschütterung. Weil wir Onkel Moki nicht erreichen konnten, habe ich Arnor und Finn angerufen, aber Arnor war als einziger zu erreichen und der hat auf schnellstem Wege den Doktor hergeschickt. Zwischendurch hatte Finn auf meine SMS zurückgerufen und sagte, er hätte denselben Heiler mobilisiert. Also ich habe ihn gebeten, mal nach Mama zu sehen. Da ist er ausgetickt. Sah für mich nach einem Schutzangriff aus. Ich denke mal, er war eingeschüchtert … so kenne ich ihn gar nicht.“

„Im Moment erkenne ich ihn selbst manchmal nicht“ seufzte Yugi und fuhr sich durchs Haar. „Und diese weißen Arme? Was hat es damit auf sich?“

„Das ist nicht weiter schlimm, Papa. Ich kann meinen ganzen Körper mit so einer Haut überziehen. Ich wusste aber nicht, dass er das noch nie erlebt hat.“

„Und dir geht’s aber gut soweit?“

„Ja, kein Problem“ lächelte Tato beruhigend. Ihm schien das weit weniger auszumachen als allen anderen. Der war wirklich hart im Nehmen. „Wie gesagt, mein Körper steht so unter Strom, dass ich die Schmerzen gar nicht fühle … na ja, oder mich zumindest nicht dran erinnere. Onkel Moki hat mich ja wieder zusammengesetzt.“

„Was für ein Glück, dass du so muskulös bist“ meinte der. „Sonst hätten Setos Krallen viel mehr Schaden angerichtet.“

„Ja, ich weiß, ich bin super. Aber Mamas Verhalten ist auch weit weniger schlimm als es aussieht.“

„Darüber müssen wir uns unterhalten“ beschloss Yugi und ging zur Tür. „Aber erst versuche ich mal, ihn wieder auf den Boden zu holen. Ihr kommt klar?“

„Kümmere dich lieber um Seto“ bat Mokuba. „Und erschrecke dich nicht. Euer Schlafzimmer ist komplett verwüstet.“

„Ja, das geht wohl auf mein Konto“ entschuldigte Tato. So ein Orkan im Zimmer stellte eben die Möbel um.

„Macht nichts. Ich glaube, ich habe jetzt ein anderes Problem als einen Sessel, der im Vorgarten liegt. Und bevor ich es vergesse, danke für eure Hilfe.“ EEN

„Schon gut“ antwortete Tristan als Yugi an ihm vorbeiging.
 

Der musste sich tatsächlich nun weniger um ein ruiniertes Zimmer als mehr um einen ruinierten Drachen sorgen. Was Seto getan hatte oder was er tun wollte, war bereits schlimm genug. Genauso schlimm war aber seine derzeitig absehbare Talfahrt. Erst begann er zu lügen und nun verwandelte er sich in ein blutrünstiges Etwas. Ob das mit der Wassermagie zu tun hatte? War es das, wovor Sethos ihn gewarnt hatte? Aber diese Art der Verwandlung schien auch Tato schon durchgemacht zu haben, also konnte es mit Wassermagie nichts zu tun haben. Seto hatte ihm aber berichtet wie sehr er unter verstärkten Sinnen und Instinkten litt und wie schwer er sich kontrollieren konnte. Dazu noch der Zweifel an seinem Yami. Und nun auch noch seine Lügen und diese merkwürdige Aggressivität, welche ihn selbst erschreckte. Hier war nicht nur Yugis Beistand, sondern auch eine Lösungsfindung von ihm gefragt. Und er wusste nur: Seto steckte in Schwierigkeiten, aus denen er selbst nicht herausfand.

Er klopfte an die Tür, lauschte, doch von innen war nichts zu hören. „Liebling, ich bin es!“ Er drückte die Klinke, doch die Tür öffnete sich nicht. Er hatte sich eingeschlossen und war hoffentlich nicht durchs Fenster geflüchtet. „Liebling, mach auf. Ich bin es doch nur.“ Doch wieder bekam er keine Antwort. Er musste sich also selbst Zutritt verschaffen. Nur wo war der verdammte Schlüssel, den er sonst nie brauchte? Wie auch immer, Hannes hatte sicher Ersatz.

Er drehte sich um und wollte schnell die Treppe hinunter, aber direkt hinter ihm stand jemand. Geräuschlos und ohne ein Wort hatte er sich genähert, sodass Yugi ihn fast umgerannt hätte. Jedoch nur bildlich, denn so einen Riesen umzurennen, dazu musste man schon ein Elefant sein.

Auch wenn er nicht den Kopf zuerst sah, so erkannte er dennoch die ungewöhnliche Kleidung. Eine blaue Kutte mit silbern vernähten Umschlägen. Wallend lang von oben bis zum Boden. Sein Blick wanderte hinauf und fand die versteinerte Miene von einer dunkelblauen Kapuze umrandet. Die brennenden, blauen Saphire regierten gemeinsam mit dem kurz geformten Bart dieses schöne, aber leblose Gesicht.

„Seth.“ Er blickte ihm in die Augen. Plötzlich stand er da als hätte er schon immer dort gestanden. Und Yugi rätselte, ob er nun in Schwierigkeiten steckte. Yami war nicht hier, Seto war nicht zurechnungsfähig und wenn Tato auf ihn stieß, gäbe es Mord und Todschlag. Das hier war eine denkbar schlechte Situation.

„Du hast dich verändert“ stellte der Teufel mit gleichtoniger Stimme fest.

„Ja, habe ich“ erwiderte er und versuchte nicht so argwöhnisch zu klingen wie er sich fühlte. Seth strahlte außer Hitze nichts aus. Genau das war das Unheimliche. Seine äußerliche Glätte. „Was suchst du hier?“

„Ich suche nichts.“ Er betrachtete Yugi, welcher das kleine Stück bis zur Tür zurückwich, um nicht so bedrohlich nahe vor ihm zu stehen. „Yugi, du fürchtest dich vor mir.“

„Nein, das ist keine Furcht. Es sind Bedenken“ antwortete er und versuchte härter zu klingen. Vor Seth durfte er sich keine Schwäche erlauben.

„Die musst du nicht haben. Ich würde dir niemals etwas tun, solang du mich in Frieden lässt.“

„Genau das ist es. Ich muss wohl nicht nochmals erwähnen, dass das, was du tust, entgegen den Grundsätzen ist, die Yami und ich haben. Seth, dass du fort bist, macht uns alle traurig. Es reißt unsere Familie außeinander.“

„Ihr könnt jederzeit zu mir kommen. Das wisst ihr.“

„Ja, aber wir können dich nicht einfach gewähren lassen. Das weißt DU.“

„Und ihr wisst, dass ich jetzt nicht einfach alles abbrechen kann. Somit dreht sich unser Gespräch im Kreis. Pharao.“

„Seth.“ Er blickte ihn an und spürte wie die Traurigkeit Überhand gewann. „Wir lieben dich sehr und was du tust, belastet unsere ganze Familie und die unserer Freunde. Ich weiß, dass unser Einreden auf dich vergeblich ist, aber bitte komm einfach zurück und lass dir helfen. Es ist niemals zu spät, um einen Fehler zu beenden.“

„Es geht mir gut, Yugi. Und ich bin nicht hier, um mir helfen zu lassen.“

„Warum dann?“

„Seinetwegen.“ Er nickte auf die geschlossene Tür hinter welcher Seto saß und hoffentlich nichts Dummes tat. „Und bevor du mir nun unlautere Gründe unterstellst, will ich dich daran erinnern, dass ich noch immer sein Yami bin.“

„Und was soll das genau meinen? Dass du ein Anrecht auf ihn hast?“

„Nein. Dass er ein Anrecht auf mich hat“ antwortete er mit ruhiger Stimme und auch sein scharfer Blick schien sich zu entspannen. „Ich spüre, dass er sich auf einem Tiefpunkt befindet. In diesen Momenten braucht er mich.“

„Ich würde dir so gern vertrauen.“ Yugi wusste wie Seto zu Seth stand. Nämlich unentschlossen. Und ganz sicher spürte Seth das. Wenn er nun Seto auf seine Seite zog - dann war die Sache so gut wie besiegelt. Gegen zwei Priester hatte die Welt verloren. Yugi wusste, dass Seto sich Seths Meinung unparteiisch ansehen wollte, dass er sich selbst ein Bild machen wollte und dass er hierfür Yugis Unterstützung erbeten hatte. Und der hatte gehofft, dass er nicht so bald zu einer Entscheidung kommen musste. Besonders nicht zu einem Zeitpunkt, an welchem Seto so schwach war. Doch war es falsch, Seto nun zu misstrauen? Ja, er war schwach und ja, er war beeinflussbar. Doch an einem zweifelte Yugi nicht - nämlich daran, dass sein Engel niemals einem anderen Lebewesen Tod oder Qual bringen würde. Auch von Seth hatte man das nie geglaubt, doch Seth war in seinen Ansichten, in seiner Verehrung für den Pharao schon immer extrem religiös gewesen. Ebenso extrem wie Setos Liebe zu den Unschuldigen und Wehrlosen. Vielleicht wäre es nicht Seth, welcher Seto beeinflusste. Vielleicht wäre es Seto, welcher Seth beeinflusste.

„Du willst zu ihm“ unterstellte er und spürte die geschlossene Tür im Rücken. „Es geht ihm schlecht.“

„Ich weiß. Aber ich will dich nicht bitten, mich zu ihm zu lassen. Dass ich mich bei dir anmelde, ist reine Höflichkeit.“

Nun sah sich Yugi im Entscheidungszwang. Traute er Seto zu, sich dem negativen Einfluss seines Yamis zu entziehen? Besonders in diesem schwachen Moment? Allein dass er ihm bedenkenlos ins Gesicht gelogen hatte, war ein Fakt, welcher dagegen stand. Zum Glück war Seto, wenn man ihn gut genug kannte, ein schlechter Lügner. Doch wenn er seinem eigenen Mann, seinem eigenen Priester misstraute … würden sie dann überhaupt noch Seite an Seite stehen? Oder würde er damit entscheiden, sie auf verschiedene Seiten zu stellen?

Er seufzte und schaltete den Kopf aus. Er fühlte sein Herz. Kein Fakt der Welt konnte beeinflussen, was er fühlte. Auch wenn ihre Yamis ihnen ähnlich waren, so waren sie doch andere Personen, andere Charaktere mit einer anderen Vergangenheit und anderen Gefühlen. Was mit ihren Yamis geschah, konnte eine Warnung an sie sein. Konnte. Doch es musste nicht. Und Yugis zwei Herzen sprachen zu ihm: Vertraue.

„In Ordnung.“ Er gab die Tür frei, indem er einen Schritt beiseite ging und ihn durchließ. „Aber bitte rede ihm nichts ein. Du weißt wie leicht er zu beeinflussen ist.“

„Ich habe ihn immer zu einer eigenen Meinung ermutigt. Und ich würde ihn niemals zu etwas zwingen“ widersprach er und im Gegensatz zu Yugi konnte er auch problemlos die Tür öffnen. Er schob allein in Gedanken das Schloss zurück und schon konnte er eintreten. Yugi mit seiner wenigen Magie hätte höchstens die Energien mobilisieren können, damit sie das Schloss beeinflussten, aber so schnell wie Seth war er nur mit Schlüssel.

Ohne ihm noch ein Wort oder einen Blick zu schenken, schloss Seth die Tür hinter sich, sodass Yugi außen vor blieb.
 

Innen saß Seto auf dem Bett, welches schief in der Zimmermitte stand und starrte auf den blutbefleckten Boden. Doch nun hob er seine verweinten Augen und sah die Gestalt seines Yamis. Die hohe Figur, die lange Kutte und in diesem Moment hob er die Kapuze von seinem Haupt und zeigte sein schulterlang gewachsenes Haar. Er sah besser aus als noch beim letzten Mal. Er hatte mehr Farbe und ein erholtes Gesicht.

„Seth …“ Was sollte er nun tun? Aufstehen und davonrennen? Heulen? Schimpfen? Ihn schütteln und um Vernunft anflehen? Oder sich einfach dem Impuls nach an seine Brust werfen? „Was willst du hier?“

„Ich bin deinetwegen gekommen. Seto. Ich setze mich zur dir, in Ordnung?“

So sehr Seto auch Bedenken hatte, so fühlte er dennoch keine Angst. Selbst bei den anderen hatte er eben Angst bekommen. Mokuba konnte nicht mal den Kieferabdruck an seiner Kehle abheilen, so sehr sträubte sich alles gegen andere Nähe. Doch als Seth sich zu ihm setzte, fühlte er keinerlei Abscheu. Dabei sollte er doch vor ihm mehr Vorsicht walten lassen als bei seinem kleinen Bruder. Er konnte es sich nicht erklären und im Augenblick fehlte ihm auch der Kopf, um nach Erklärungen zu suchen. Er wusste nur, dass Seths Nähe gut tat.

„Tut’s weh?“ Er legte seine warmen Fingerspitzen an Setos Kinn und drehte den Kopf etwas nach rechts. Dort sah er halb am Hals, halb im Nacken deutliche Gebissabdrücke. Doch bluten tat es nicht mehr, die Wunde begann bereits mit einer schnellen Heilung, da Mokuba es zumindest versucht hatte. „Er hat dich ziemlich gut erwischt.“

„Es war gut so.“ Er drehte seinen Kopf zurück und sah Seth tief in die Augen. Sein Blick war warm und in sich ruhend. Wie Glut, welche in dunkler Nacht vor sich hin glomm. Angenehm. Er sah seinem Yami gern in die Augen. Es beruhigte.

Der nahm seinen Ellenbogen und betrachtete die weiße, ledrige Haut, welche sich von den Fingerspitzen den Unterarm hinaufzog. Selbst seine Fingernägel hatten eine glasige, milchige Farbe und waren etwas dicker als normal. „Hast du dich verwandelt?“

„Ich weiß nicht. So halb“ antwortete er unsicher. „Weißt du etwas darüber?“

„Nein, tut mir leid. Das ist mir neu …“

„Tato schien etwas zu wissen.“

„Hm.“ Er legte seine warmen Hände um die weiße Linke. Er hielt sie, streichelte sie und es tat Seto gut. Die Wärme und die Vertrautheit dieser Hände flößten ihm eine Erinnerung vergangener Tage ein. Als er und Seth noch eins waren. Als sie einen Körper teilten und ihre Seelen sich umarmten. Diese Nähe schlich sich zurück und er schloss langsam die Augen, seufzte und entspannte sich.

Leider ließ Seth seine Hand schon wieder los und Seto blickte verwundert darauf herab. Sein linker Arm war wieder so wie er sein sollte. Auch der rechte. Alles war wieder normal.

„Du musstest dich wohl nur etwas beruhigen“ schlussfolgerte Seth und widmete ihm einen dieser vertrauten, sanftmütigen Blicke. „Beruhige dich, Seto. Ich bin nicht hier, um dir etwas anzutun oder einzureden. Ich möchte nur wissen, weshalb so beunruhigende Gefühle von dir bis zu mir dringen.“

„Ich habe mein Leben nicht im Griff“ gestand er und stützte die Stirn in die Hände. Er wusste, er sollte es nicht tun, doch Seths Zuwendung tat so gut. Seth war der einzige Mensch, dem er alles sagen konnte. Der einzige, der alles von ihm wusste. Weil sie ein Stück Seele teilten. Schon immer und für ewig. „Erst verlässt du uns und tust so schreckliche Dinge, dass ich dich gar nicht wiedererkenne. Dann tauchen unsere Kinder aus der Zukunft auf und bezeugen, dass du die Apokalypse herbeiführst. Dann ziehen wir in diese gottverlassene Gegend, wo man nichts anderes tun kann als Kühe füttern und seinen Gedanken nachhängen. Dann kommen wir nach Blekinge und alles wird nur noch schlimmer. Yami verstößt dich, Sethan verkriecht sich immer mehr in sich selbst, Tato säuft sich das Hirn weg und mein Leben wird auch nicht besser. Ich bekomme einen Brief von meiner Mutter und sie sagt, dass sie mich liebt und dass ich meine Großmutter besuchen soll. Und dann öffnen Yugi und Sethos mir den Weg zur Wassermagie, weil mir dein alter Körper das ermöglicht. Und dann erwache ich wieder und erfahre, dass Sethos halb tot ist und Seth stellt so merkwürdige Bedingungen. Und ich komme mit all dem nicht klar. Und dann verändert Yugi sich auch noch und ich fühle mich überhaupt nicht mehr wohl bei ihm. Jetzt fühle ich mich so verloren. Mein ganzes Leben hat sich umgedreht, nichts ist so wie es sein sollte. Meine Sinne und meine Instinkte übermannen mich und dann mutiere ich immer mehr zu einem Monster ohne Sinn und Verstand. Ich weiß einfach nicht, wo das alles hinführen soll. Am liebsten würde ich mich einfach umbringen und mein Herz zerstören, damit ich für immer zergehe und nie wieder zurückkehre. Das wird mir alles zu viel. Und ich mache es nur noch schlimmer.“

„Den wichtigsten Fakt hast du vergessen“ erwiderte Seth mit glimmender, zärtlicher Stimme. „Du hast Yugi dein Herz anvertraut. Auf ewig.“

„Das ist das Schlimmste von allem. Ich habe nicht das Gefühl, dass mein Herz an der falschen Stelle ist. Aber ich kann Yugi nicht ansehen und bei seiner Nähe wird mir speiübel. Das passt doch nicht zusammen.“

„Du bist nicht gewalttätig und doch greifst du einen wehrlosen, alten Mann an. Du liebst deinen Sohn und doch hättest du ihn fast umgebracht. Genau wie Joey damals, den du auch liebst. Passt das zusammen?“

„DAS IST ES DOCH! ICH HABE MICH NICHT UNTER KONTROLLE! ICH MUTIERE ZU EINEM MONSTER! IMMER WIEDER! UND IMMER SCHLIMMER!“

„Bleib ruhig. Wenn du dich aufregst, verschlimmerst du es nur. Komm her.“ Er breitete seine Arme aus und wie von selbst sank Seto hinein. Er lehnte sich an die warme Brust und roch Seths vertrauten Duft. Seine Nähe tat so gut. Sie beruhigte seinen Puls und machte das Atmen freier. Er schloss die Augen und fühlte wie warme Finger durch sein Haar fuhren. Die Welt nahm Abstand und es gab nur noch sie beide. Genau wie früher. Die ganze Menschheit, alle Sorgen und Ängste blieben außen vor und überließen ihn ganz diesen trostreichen Händen und den kräftigen Lippen, welche sich auf seine legten. Seths Zunge war heiß und sein Atem tropisch. Es war ein gutes Gefühl, über den Stoff seiner Schultern zu streichen und seine Wärme zu spüren. Er ließ sich aufs Bett sinken und genoss den schützenden Körper, der sich über ihn legte und seinen gebissenen Nacken liebkoste.

Leider hob Seth sich von ihm ab und ließ ihn mitten in seiner Entspannungsphase ungeküsst. „Du solltest mit Yugi sprechen“ riet seine sanfte, laue Stimme. „Du musst deine Sorgen nicht allein tragen. Ich bin für dich da. Aber du gehörst deinem Pharao. Egal wie sehr du dich schämst, du musst ihm Einblick in dein Selbst gewähren. Er leitet dich an.“

„Das kann ich nicht“ wisperte er. „Ich kann nicht immer Yugi alles aufbürden. Nur weil ich so unfähig bin.“

„Du bist nicht unfähig. Warum sagst du das?“

„Weil ich gar nichts kann“ erwiderte er gebrochenen Mutes. „Ich kann Sethos nicht helfen. Ich kann Sethan nicht helfen. Niemandem kann ich helfen. Ja, ich kann ja nicht mal Feli beschützen.“

„Feli?“

„Wir wissen nicht, wer sie entführen wollte. Und ich … egal wie sehr ich darauf herumdenke, ich kann nichts dagegen tun, dass sie bedroht wird. Alle sagen, ich sei so mächtig und kann nicht mal das.“

„Wenn das alles ist.“ Da musste Seth doch leicht lächeln. „Darum mach dir keine Sorgen.“

„Seth …?“ Und dieses Lächeln verunsicherte ihn etwas.

„Felicitas ist meine Neffin. Die Tochter des Bruders meiner Frau und obendrein die Tochter meines liebsten Freundes. Glaubst du, ich lasse es zu, dass man ihr etwas antut?“

„Weißt du, wer dahinter steckt?“

„Ja, aber darum musst du dich nicht sorgen. Ich habe mich bereits um ihn gekümmert.“

„Du hast … Seth …“ Er rückte zögerlich von ihm fort, doch Seth wusste, was Seto dachte. Und er konnte ihn beruhigen.

„Ich habe ihn nicht getötet, falls du das denkst. Aber er wird euch nicht weiter bedrohen. Bitte vertraue mir doch einfach etwas mehr, Kleiner.“

„Genau das meine ich doch.“ Seto schloss die Augen und zwang die Tränen zurück. Er wollte nicht immer weinen. Er wollte nicht immer Schwäche zeigen. „Ich sollte in der Lage sein, meine Familie selbst zu beschützen. Stattdessen tun das ständig andere für mich. Das muss aufhören.“ Er strich sich die entkommene Träne fort und schluckte den Schmerz. „Ich muss zurückstecken und mich einfach noch mehr zusammenreißen. Ich muss mich anstrengen. Mich unter Kontrolle haben.“

„Wenn du so denkst, bist du ein Kindskopf. Du solltest nicht versuchen, den Weg des Einzelgängers zu beschreiten. Du brauchst deinen Pharao und er braucht dich. Glaube mir.“

„Und du tust selbst nicht, was du mir rätst.“

„Bei mir liegt die Sache anders. Lass uns nicht darüber streiten, Kleiner.“

„Seth …“ Nein, er wollte nicht weinen. Er wollte es einfach nicht. Aber er fühlte sich so hilflos. So hilflos allem gegenüber. „Bitte geh nicht wieder fort. Ich schaffe das nicht allein.“

„Schscht.“ Er küsste ihn und beruhigte seinen Herzschlag. „Komm zur Ruhe. Dann weißt du, was du tun musst.“

„Seth …“

„Ich weiß, Kleiner. Ich weiß.“ So sehr Seto ihn moralisch verachten sollte, er konnte es nicht. Seth war sein Yami. Niemals konnte etwas zwischen sie kommen. Nicht einmal sie selbst. Er durfte Seth nicht verurteilen. Der tat es auch nicht mit ihm.

„Ich möchte mit dir kommen.“ Seto löste den Kuss und sah ihn ruhiger als zuvor an. Als Seth etwas sagen wollte, legte er ihm den Finger über die feuchten Lippen und sah ihm tief in die Augen. „Ich will sehen, was du tust. Zeig mir, deine Welt.“

„Ich denke, es ist niemand einverstanden mit dem, was ich tue.“

„Dass ich einverstanden bin, kann ich auch nicht bejahen. Aber ich urteile nicht über dich. Das kann ich nicht. Nicht so. Ich will sehen, weshalb du uns verlässt. Ich bin ein Teil deiner Seele. Du kannst mich nicht ahnungslos zurücklassen. Du musst mich mit dir nehmen.“

„Ich habe nie gesagt, ich würde dich zurücklassen.“ Freude war in Seths Gesicht nicht zu lesen. Jedoch eine gewisse Freundlichkeit als Seto seinen kurzen Bart nachstrich. „Doch ich habe mein Umfeld derzeit noch nicht so unter Kontrolle, dass ich einen von euch beherbergen könnte.“

„Dann kann ich nicht mit dir kommen? Du sagtest doch, wir könnten mit dir gehen. Mokeph hast du es sogar angeboten.“

„Mokeph ist mein Bruder, das ist etwas anderes. Ihr könnt mich treffen, zu mir kommen, aber nicht mit mir. Noch nicht. Vielleicht später. Dann urteile selbst über mein Vorhaben.“

„Dass du Menschen tötest, werde ich niemals gutheißen.“

„Ich habe nie gesagt, ich würde es gern tun. Das Töten bereitet mir keine Freude. Jedoch akzeptiere ich deine Meinung, solang du mich nicht sabotierst. Und wenn du aus freiem Willen zu dem Schluss kommst, dass du mich auf meinem Wege begleiten möchtest, so bist du mir umso willkommener.“

„Und wenn ich zu dem Schluss komme, dass ich mich dir auch in Yugis Namen entgegenstellen muss?“

„Dann haben wir keine andere Situation als jetzt auch.“

„Nein, danach wäre es anders“ flüsterte Seto und sank zurück mit dem Kopf auf die Matratze. „Ich kann danach nicht mehr in deinen Armen liegen. Ich will nicht dein Feind sein. Vielleicht scheue ich mich deshalb davor, mir eine Meinung zu bilden. Ich will nicht, dass wir Feinde werden …“

„Du wirst niemals mein Feind sein“ versprach Seth und küsste mit sanften Lippen die kühle Stirn. „Ich kämpfe für meine Überzeugung und du tust dasselbe. In diesem Punkt gleichen wir uns. Und wenn wir uns auch dabei gegenseitig umbringen, wir werden niemals verfeindet sein. Das verspreche ich dir.“

„Okay“ hauchte er und schloss die Augen. „Lass uns niemals Feinde sein.“

Er fühlte tief in sich einen Stein ins Rollen kommen. Genau dieses Versprechen befreite ihn für einen Moment von allen Ängsten. Er wollte nicht Seths Feind sein. Und selbst wenn sie sich gegenseitig töten mussten - sie würden niemals Feinde sein. Seth und er hatten sich ein Versprechen gegeben. Auch im Kampf würden sie sich lieben …
 


 

Chapter 45
 

Irgendwann hielt Yugi es nicht mehr aus. Kein Geräusch drang aus dem Zimmer und Seto mit Seth ganz allein zu lassen, machte ihm doch mehr als nur Bedenken. Er klopfte an die Tür, doch selbst dann hörte er nichts.

„Meinst du, er ist noch da?“ fragte Yami, der mit Yugi gemeinsam vor der Tür lauerte. Gemeinsam mit Mokeph und Mokuba, welche auch keine ruhige Minute fanden. Seths Anwesenheit versetzte alle in Alarmbereitschaft, doch wenn alle vor der Tür hockten, brachte das auch niemanden weiter. Schließlich schien er nicht in böser Absicht gekommen zu sein.

„Mir reicht es jetzt. Ich gucke rein.“ Yugi fasste sich ein Herz und eine Türklinke und öffnete. Erst lauschte er, doch es drang noch immer kein Ton heraus. „Liebling? Alles in Ordnung?“ Er schaute gaaaaanz vorsichtig um die Ecke und sah das noch immer verwüstete Zimmer. Doch Seth war fort. Stattdessen saß Seto allein auf dem Bett, welches schief mitten im Raum stand. Seine weißen Arme hatten wieder eine normale Farbe und auch sein Blick strahlte mehr Ruhe aus. „Ist Seth weg?“

„Ja, schon eine Weile“ antwortete er und hörte das Aufatmen von draußen.

„Was wollte er denn?“ Yami drängelte sich an Yugi vorbei und war erst mal über das Zimmer verdutzt. „My dear Mr. Singingclub, ihr habt ja ganz schön gewütet.“

„Yami, Fettnapf“ versetzte Yugi von hinten.

„Schon gut. Er hat ja Recht“ seufzte Seto und lehnte sich etwas nach vorn in den Schneidersitz. „Kann ich mit dir reden, Yugi? Oder bist du noch zu böse auf mich?“

„Ich bin erleichtert, dass dir nichts passiert ist, mein Herz.“

„Na gut“ beschloss Yami und schluckte sowohl seine Enttäuschung als auch seine Erleichterung runter. Er hätte Seth gern gesehen und versucht, mit ihm ein klärendes Wort zu sprechen. „Ich fahre jetzt ins Aquarium, okay?“

„Du brauchst doch sicher jemanden, der dich fährt, während Finn arbeiten muss“ bot Mokeph gleich an und wurde von Yami schon am Arm gepackt.

„Du bist so ein Schatz!“

Nur Mokuba kam Yugi nach und blickte seinen großen Bruder vorsichtig an. Vielleicht konnte er ihn noch etwas beruhigen. „Ich wollte nur sagen, dass es Tato gut geht. Er schläft jetzt, heute Abend ist er wieder auf dem Damm. Er sagt, du musst dir keine Gedanken machen. Das was da … passiert ist … das sei nicht so ungewöhnlich.“

„Danke.“ Und dieses Danke klang nach mehr als nur einem Danke für die Info. Eher dafür, dass er immer dann zur Stelle war, wenn es drauf ankam. Ohne Mokuba wären einige Situationen in seinem Leben ganz anders ausgegangen.

„Was macht dein Kopf, Großer? Hast du noch Schmerzen?“

„Geht schon.“

„Aber ich konnte dich nicht zu Ende heilen, weil …“ … weil er ihn nicht gelassen hatte. Seto wehrte sich gegen jede Berührung. „Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen.“

„Ich habe schon Schlimmeres überlebt. Außerdem geht es wirklich.“

„Na gut …“ Wenn er es sagte. Dennoch würde er sich später nochmals von der Richtigkeit dieser Aussage überzeugen wollen. „Ich hole jetzt die Kinder vom Kindergarten ab. Wir gehen hinterher noch Eis essen. In Ordnung?“

„Ja, ist in Ordnung“ meinte Yugi und setzte sich zu Seto aufs Bett. Erst als Mokuba die Tür geschlossen hatte, sah er ihm in die Augen. „Und wie geht’s dir, Engelchen?“

„Ich bin ruhiger“ erwiderte er und sah schuldbewusst auf die Matratze. „Du willst sicher wissen, was los war. Und was Seth gesagt hat.“

„Neugierig bin ich schon. Aber ich will dich nicht zwingen, etwas zu erzählen. Ich glaube, ich habe dich vorhin ziemlich unter Druck gesetzt. Das tut mir leid.“

„Nicht!“ Er zog die Hände zurück als Yugi sie greifen wollte. Doch dann atmete er tief durch und kämpfte um seine labile Fassung. „Entschuldigung. Ich … ich kann das jetzt nicht. Ich bin ziemlich angespannt.“

„Okay. Entschuldige.“ Yuhi behielt also seine Hände bei sich und rutschte auch ein Stück weg. Er fühlte eine gewisse Enttäuschung darüber, dass Seto auf Abstand ging. Doch auch eine gewisse Entlastung, da er jetzt aufrichtig zu sprechen schien und sagte, was Sache war. Er setzte sich ans Fußende und ihm damit direkt gegenüber. Nur den Blick ließ er durchs Zimmer schweifen, wollte ihn nicht auch noch mit zu viel Augenkontakt einengen.

„Seth wollte mich nicht mitnehmen“ gestand er mit gefühlsarmer Stimme. „Ich habe ihm gesagt, dass er mich mitnehmen soll, aber er wollte nicht. Er sagte, ich kann ihn treffen, aber ich kann nicht bei ihm bleiben. Er sagte, vielleicht später irgendwann. Du bist sicher erleichtert, dass du darüber jetzt nicht mehr nachdenken musst.“

„Um ehrlich zu sein schon ein bisschen. Aber für dich tut es mir leid. Dass er deine Gesellschaft abgelehnt hat, obwohl er Mokeph schon angeboten hat, mitzukommen … wie fühlst du dich denn dabei?“

„Gar nicht so schlimm wie ich dachte. Vielleicht brauche ich gar nicht mit ihm gehen und mir eine Meinung bilden. Ich glaube, es war etwas ganz anderes, was mir fehlte.“

„Und … was?“ Nachdem Seto heute Mittag so offensichtlich gelogen hatte, schien er jetzt erstaunlich offen. Und nachdem er so gewütet hatte, schien er erstaunlich ruhig. Etwas war mit ihm geschehen.

„Ich glaube, meine wahre Angst bestand darin, dass Seth und ich uns nicht mehr lieben … dass wir Feinde sein würden …“ beichtete er und knetete den Saum seiner dunkelblauen Hose. Er war angespannt, aber doch zugänglich. Er wusste, er musste mit Yugi sprechen. Daran führte kein Weg vorbei.

„Und Seth sieht dich nicht als Feind? Hat er das gesagt?“

„So etwas ähnliches. Er sagte, er kämpft für seine Überzeugung und ich für meine. Und er sagte, auch wenn wir uns gegenseitig umbringen sollten, werden wir keine Feinde sein. Es ist albern, aber irgendwie hat mich das erleichtert.“

„Nein, das ist nicht albern.“ Er würde so gern seine heimatlosen Hände greifen. Ihn in den Arm nehmen. Ihn beschützen und trösten. Doch Yugi musste an sich halten und den Abstand wahren, den Seto brauchte. „Daran, dass Seth dich liebt, hat niemals jemand gezweifelt. Niemand außer dir anscheinend.“

„Er zieht Yami vor. Aber das hat er immer schon. Und auch wenn Seth so schlimme Dinge tut, hat sich das Gefühl zwischen uns nicht verändert. Ich glaube, er erwartet sogar von mir, dass ich nur das tue, was für mich das Richtige ist. Wenn das bedeutet, dass wir auf verschiedenen Seiten stehen und gegeneinander kämpfen müssen, dann muss das wohl so sein. Aber er hat mir klargemacht, dass er mich liebt. Selbst wenn er mich töten würde, ändert das nichts daran, dass er mich liebt. Das weiß ich jetzt. Und ich glaube, er weiß dasselbe.“

„Das klingt als hättest du damit abgeschlossen, dass ihr eventuell …“

„Dass wir uns eventuell gegenseitig töten?“ fragte er und sah mit Tränen in den Augen auf seine Finger. „Nein, damit habe ich nicht abgeschlossen. Aber ich habe akzeptiert, dass er ebenso seine Überzeugung hat wie ich. Ich will die Welt so gestalten, dass du und meine Familie darin glücklich leben können und von niemandem schlecht behandelt werden. Dafür würde ich alles tun. Und genau dasselbe denkt Seth auch. Auch wenn die Auswirkungen unterschiedlich sind, sind es unsere Überzeugungen nicht. Er glaubt, dass Yami nur in einer Welt glücklich wäre, in welcher er als Pharao herrscht und von jedem als Majestät anerkannt und verehrt wird. Diese Welt zu installieren, ist, was er bezweckt. Und sein Heimweh tut das Übrige. Ich aber bezwecke, dass du, egal in welchem Umfeld, deine eigene Meinung entfalten kannst und mir selbst diese wichtiger ist als alles andere. Im Gegensatz zu Seth habe ich keine streng religiöse Überzeugung und auch keine Heimat, nach der ich mich sehnen könnte. Du bist meine Religion und du bist meine Heimat. Deshalb könnte ich mir gar keine Meinung bilden. Weil mir die Orientierung fehlt. Du bist die einzige Orientierung, die ich habe. Seth hat von früh auf gelernt, wie man den Pharao behandelt, hat sich nach Geboten gerichtet und gelernt, die Befolgung derer einzufordern. Er glaubt wirklich und wahrhaftig, dass es genau dies ist, was sein Pharao braucht. Weil er zuerst die Gebote gelernt hat und danach das Wort seines Pharaos. Das ist bei mir anders. Bei mir gab es vor dir nichts. Und deshalb könnte ich niemals eine Weltanschauung vertreten, welche du mir nicht gibst. Und damit glaube ich, dass ich nicht nach einer Überzeugung gesucht habe. Ich habe mich gar nicht danach gefragt, ob es richtig oder falsch ist was Seth tut. Ich habe nicht danach gesucht, mich von ihm abzugrenzen oder mich ihm anzuschließen. Ich wollte nur einfach sicher sein, dass ich noch immer ein Teil von ihm bin und dass er mich liebt. Und wenn ich mich tatsächlich eines schlimmen Tages gegen ihn stellen müsste, dann weiß ich jetzt, dass ich nicht gegen meinen Yami kämpfe, sondern für meine Überzeugung. Ebenso wie er nicht gegen mich kämpft, sondern, genau wie ich, für seine Überzeugung. Und jetzt, wo ich zu diesem Entschluss gekommen bin, werde ich mich auch nicht mehr gegen dich stellen. Weil deine Meinung das ist, was ich verteidigen will. Monolog Ende.“

Yugi dachte über diese Worte nach. Natürlich war er froh, dass Seth offensichtlich den Stein von Setos Seele genommen und ihn freigegeben hatte. Doch eines war ihm noch wichtig zu sagen: „Liebling, ich möchte aber, dass du deine eigene Meinung hast. Du sollst mir gar nicht willenlos folgen. Ich brauche auch deinen Rat.“

„Ich weiß.“ Er sah kurz auf, traf ganz kurz Yugis Blick und sah dann mit einem Seufzen zurück auf seine Füße. „Ich weiß, dass du keinen hörigen Jasager gebrauchen kannst. Ich könnte meine Meinung auch gar nicht immer zurückhalten. Doch ich habe den Unterschied zwischen Meinung und Überzeugung erkannt. Meine Meinung ist noch immer, dass ich nicht entscheiden kann, ob Seths Handeln böse oder gerechtfertigt ist. Aber meine Überzeugung ist, dass ich ihn keine Welt installieren lasse, in welcher du ausdrücklich unglücklich wärst. Das ist es, was ich sagen wollte.“

„Und wie fühlst du dich dabei?“

„Erleichtert.“ Er wischte sich die Tränen fort, bevor sie kullern konnten. Seine Stimme klang zwar ohne Emotion, jedoch seine Augen sprachen alles aus.

„Und kann ich etwas für dich tun? Dich in den Arm nehmen? Oder dich allein lassen? Dir etwas kochen? Irgendwas, damit du dich besser fühlst?“

„Du musst mir ein Versprechen geben. Bitte.“ Er sah erneut auf und bemühte sich, Yugis Blick nun etwas länger standzuhalten.

„Ein Versprechen“ wiederholte er und sah sowohl Hoffnung als auch einen Funken Furcht in diesen artkisblauen Augen. „Und was für eines?“

„Erst musst du es versprechen. Vorher kann ich dir nicht sagen, was du versprochen hast.“

„Ich soll dir etwas versprechen, ohne zu wissen, worum es geht?“

„Ja … ich glaube, dann würde es mir viel besser gehen. Es sei denn … also … musst auch nichts versprechen. Ist ja auch doof, wenn … ich meine … eigentlich …“

„Nein, ich vertraue dir.“ Er lehnte sich zu ihm, doch stoppte im letzten Moment. Er durfte Setos Hände nicht greifen, ihn nicht umarmen. Er musste sich zurückhalten, so sehr es ihn auch drängte. Er musste Setos Bitte akzeptieren. „Und damit du siehst, wie sehr ich dir vertraue, verspreche ich es dir. Ich weiß zwar nicht was, aber ich verspreche es. Ganz fest. Okay?“ Doch eines konnte er tun. Er hielt Seto den kleinen Finger hin und setzte ein sanftes, zärtliches Lächeln für ihn auf. „Versprochen ist versprochen.“

Seto zuckte kurz, bevor er er seine Hand hob. Aber er hob sie und hakte Yugis Finger ein. „Und wird nicht gebrochen“ ergänzte er und klammerte diese kleine Geste ganz fest.

„Nein, wird nicht gebrochen“ versprach Yugi und ließ ihn wieder frei. Nun wollte er aber auch wissen, was er versprochen hatte. „Und zu was habe ich mich jetzt verpflichtet?“

„Dass du dich nicht wieder zurückwünschst“ antwortete er und zog beide Arme eng um seinen Bauch. Das hier fiel ihm viel schwerer als das Geständnis zuvor.

Yugi jedoch konnte mit diesem Satz nicht sofort etwas anfangen. „Mich nicht zurückwünschen?“

„Feli ist eine Fee und Sethos sagte mir, dass der Zauber, mit dem sie deinen Körper verwandelt hat, keine Negativfolgen oder Nachteile birgt. Es ist tatsächlich alles so wie du es haben wolltest.“

„Das hätte ich dir auch sagen können, mein Engel“ lächelte er sanft. „Nur warum siehst du dabei so bedröppelt aus? Verunsichert dich mein Körper?“

„Ja, sehr“ quetschte er leise heraus. „Du hast drei Tage Zeit, dich zurückzuwünschen. Also nur noch bis zum Anbruch des morgigen Abends. Danach bleibt alles so wie es ist.“

„Deshalb hat Nikas Verwandlung wohl auch drei Tage gebraucht. Ich meine, erst drei Tage nachdem Feli entführt werden sollte, wurde sie wieder ein Mann …“

„Ja. Obwohl da wohl etwas durcheinander gegangen ist, das ist diese Dreitageregel.“

„Und du … würdest du denn wollen, dass ich mich zurückwünsche?“

„NEIN! Genau das hast du mir doch gerade versprochen!“ fügte er schnell hinzu und suchte eilig Yugis Augenkontakt. „Du hast versprochen, das du so bleibst.“

„Okay …?“ Und warum genau sah Seto nun so gehetzt aus? „Und … weshalb? Ich meine … hat dir der neue kleine Yugi doch nicht so gut gefallen?“

„Nein … nein … über … überhaupt nicht“ stotterte er und senkte das Gesicht so tief, dass Yugi nicht mehr hineinsehen könnte. „Bitte sei nicht böse. Lass mich ausreden, ja? Bitte nicht böse sein.“

„Ich bin doch nicht böse … Liebling, was ist denn?“

„Ich ekele mich vor dir“ hauchte er so leise, dass Yugi es fast nicht hörte.

„Du ekelst dich? Vor mir?“

„Mir wird übel, wenn du mich anfassen willst. Ich … ich komme nicht damit klar. Mit deinem Körper. Ich meine, ich liebe dich über alles. Aber das … ich komme da nicht so schnell mit. Ich … ich habe so eine Abscheu, die ich nicht erklären kann.“

„Aber wenn du dich vor meinem Körper scheust, warum kommt das jetzt erst? Ich meine, wir haben doch schon miteinander geschlafen. Warum kommt das jetzt erst?“

„Das war vorher auch schon so. Ich habe es ja versucht. Ich meine … ich … ich habe … ich wollte ja. Aber alles ist so anders. Und ich … ich kann dich nicht anfassen. Ich kann dich nicht mal richtig angucken. Alles in mir sträubt sich.“

Das musste Yugi erst mal schlucken, bevor er versuchen konnte, es zu verstehen. Seto ekelte sich also vor ihm? Das kam überraschend. „Aber du hast doch mit mir geschlafen. Und … du hattest gestern damit noch keine Probleme. Und heute hast du mich geküsst …“

„Ich …“ Er ärgerte sich, dass seine Stimme hell wurde und quietschte. Und er ärgerte sich, dass er schon wieder weinte. Er würde so gern ruhiger wirken, doch das hier war alles, was er an Beherrschung aufbieten konnte. „Ich hatte Probleme. Aber ich habe dich angelogen. Ich war nicht erregt. Ich habe das alles nur gespielt.“

„Du hast das gespielt? Aber du hast gestöhnt und … Liebling, du bist doch mit mir zusammen gekommen.“

„Nein, bin ich nicht. Ich habe nur so getan. Deswegen habe ich mich doch umgedreht. Damit du mich nicht siehst. Und damit ich dich nicht sehe. Ich habe dich angelogen. ES TUT MIR SO LEID! ICH WUSSTE NICHT, WAS ICH TUN SOLLTE!“ Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Seine Beherrschung verließ ihn. Und er wollte doch ruhig mit Yugi sprechen. Und nun flüsterte er und schrie und zitterte. Er fühlte sich so elend.

„Du hättest mir einfach sagen müssen, dass du nicht kannst oder nicht willst oder was auch immer. Du musst doch nicht mit mir schlafen, nur weil …“

„ABER ICH WOLLTE DICH GLÜCKLICH MACHEN! ABER DAS KONNTE ICH NICHT! ICH WUSSTE NICHT … ICH KONNTE NICHT ANDERS! AAHH!“

„Und der Orgasmus, den du hattest? War der auch gespielt?“

„ES TUT MIR SO LEID! YUGI, ICH LIEBE DICH! ICH LIEBE DICH DOCH!“

„Ist gut. Hör auf zu weinen.“ Er wollte ihm die Hand aufs Knie legen, doch das würde alles nur noch schlimmer machen. Seto ekelte sich vor ihm. Das war schwer zu ertragen. Für beide. „Hast du deshalb die Schlaftabletten genommen? Konntest du sonst nicht neben mir liegen?“

Seto schluchzte und zitterte wie Herbstlaub. Das allein war Antwort genug.

Yugi seufzte und faltete die Hände. Seine größeren Hände, welche Seto nicht auf seinem Körper ertrug. Er selbst hatte sich so gefreut, dass sein Traum endlich wahr wurde und er so aussah wie er sich fühlte. Zwar hatte er vermutet, dass Seto damit ein paar Probleme haben könnte oder sich vielleicht erst daran gewöhnen musste. Doch dass er sich so sehr ekelte und sich dabei selbst so unter Druck gesetzt fühlte. „Das tut mir leid“ sagte er mit leiser Stimme. „Ich habe nicht gesehen wie unwohl du dich fühlst. Ich habe nur mich selbst gesehen. Es tut mir leid, Liebling.“

„Nein, es ist meine Schuld. Ganz alleine meine“ weinte er und hielt die Hände vors Gesicht. „Ich wollte dir das nicht sagen, aber … aber …“

„Nein, es ist gut, dass du es mir sagst. Aber du hättest nicht mit mir schlafen dürfen, wenn es dir unangenehm ist. Du hättest früher mit mir sprechen müssen.“

„Aber ich liebe dich. Ich liebe dich doch. Über alles. Es ist alles meine Schuld.“

„Nein, ich bin mindestens genauso schuldig. Liebling, habe ich dich so unter Druck gesetzt mit meinem Wunsch?“

„Nein, du warst … ich … ich war … ich weiß nicht. Ich liebe dich. Ich bin gar nichts ohne dich. Ich liebe dich und … ich muss doch Gefühle haben. Warum nur?“

„Liebling, wenn es dir so schlecht dabei geht, werde ich mich doch zurückwünschen.“

„NEEEIIIN!“ rief er und sah ihn fiebrig an. Er atmete schwer in seine Brust und ballte die Fäuste. „Dhas dharfst dhu nhicht. Dhu hast hes vhersprhochen.“

„Ist gut. Ganz ruhig.“ Seto sah aus als würde er jeden Moment kollabieren. „Aber wenn es dir so schlecht dabei geht und du lügen musst ...“

„DU HAST ES VERSPROCHEN!“

„Aber warum ist dir das so wichtig?“

Er löste die Hände und es kullerten wieder einige Tränchen nach. Er war hin und her gerissen zwischen den vielen Gefühlen. „Weil es dir wichtig ist.“

„Nichts ist mir so wichtig wie du. Das solltest du doch wissen.“

„Genau das ist das Problem! Immer tust du alles für mich! Ich will auch etwas für dich tun!“

„Aber einen Orgasmus vorzuspielen und nur unter Schlaftabletten neben mir zu liegen, ist nichts, was ich mir wünsche. Und weniger als alles andere wünsche ich mir, dass du dich zu Sex zwingst.“

„Ich werde mich daran gewöhnen. Aber bitte wünsche dich nicht zurück. Bitte Yugi. Bitte gib mir eine Chance. Bitte. Du hast es versprochen. Du hast gesagt, du vertraust mir. Du hast es versprochen. Versprochen. Versprochen.“

„Beruhige dich. Atme durch.“ Er atmete selbst tief ein und wieder aus. „Ganz ruhig. Atme mit mir, okay?“

„Mir ist … schwindelig.“

„Genau deswegen. Atme ganz ruhig. Ein und aus.“ Er atmete mit Seto gemeinsam. Sein eisiger Atem zitterte und kondensierte an der vergleichsweise warmen Luft. Setos ganzer Organismus spielte verrückt. Vielleicht hatte er sich auch deshalb in dieses monsterähnliche Wesen verwandelt. Weil er verwirrt war und eingeengt. Yugi war verletzt, tief verletzt, dass Seto nicht mit ihm gesprochen hatte. Er hatte ohne Gefühle mit ihm geschlafen und ihm etwas verheimlicht, worüber sie hätten sprechen müssen. Aber er verstand auch, weshalb er es getan hatte. Er wusste wie wichtig Yugi dieser Körper war und wie groß sein Wunsch danach. Und er hatte durchaus nicht übersehen, dass Setos Wohlbefinden ihm wichtiger war als alles andere. Und genau deshalb steckte er in dieser Zwangslage. Genau deshalb geriet er so aus dem Gleichgewicht.

„Gut. Und jetzt finden wir eine Lösung. In Ordnung?“ Er lächelte, auch wenn er am liebsten heulen würde. Seto war so aufopfernd und liebevoll. Aber gleichzeitig auch so engstirnig und selbstzerstörerisch.

„Du darfst dich nicht zurückwünschen.“ Seine Augen hatten sich unter den vielen Tränen rot gefärbt und sein Körper zitterte noch immer. „Das könnte ich nicht ertragen. Ich will, dass du so bleibst. Ich will mich daran gewöhnen und dich so lieben wie du sein willst. Du hast es versprochen.“

„Ja, ist ja gut“ beruhigte er und seufzte. „Und was tun wir jetzt? So kann es nicht weitergehen. Du bist ja völlig am Ende. Und das schon nach zwei Tagen.“

„Ich kann mich daran gewöhnen. Ich weiß es“ bettelte er mit tränenden Augen. „Bitte, Yugi. Bitte gib mir diese Chance. Bitte vertrau mir. Trau mir das zu. Bitte. Bleib so.“

„Ist gut. Ich habe dir ja mein Versprechen gegeben.“ Nun musste er sich etwas ausdenken. Seto zuliebe würde er sich sofort wieder zurückwünschen. Doch wenn er das tat, würde der sich vollends entmutigt fühlen. Dann würde er denken, dass Yugi ihm nichts zutraute. Doch ihn an diesen Körper zu gewöhnen, würde ein langes, schweres, nervenaufreibendes Stück Arbeit werden.



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