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Judasfall eines Drachen

Teil 13/4.1 Schicksalsgeschichten
von

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Chapter 16 - 20

Chapter 16
 

Der größte Teil des Aquariumgeländes war abgesperrt und beamtete, eingeweihte Wachposten aufgestellt. Auch wenn aufgrund der für Menschen unsichtbaren Engelsgarde keine fremde Magie eindringen konnte, wollte man dennoch sicher sein, dass niemand unerlaubt dem Sterbenden nahe kam. Neben der Pharaonenfamilie durften nur wenige ausgesuchte Pfleger das Areal betreten, um die Tiere zu versorgen und die Technik zu warten. Jeder Ein- und Ausgang wurde persönlich kontrolliert und als die Wachen die Autos mit den Pharaonen sichteten, öffneten sie die Tore und winkten anstandslos durch.

Obwohl jeder aufgeregt war und besonders Seto am ganzen Körper zitterte, glich ihre Karawane einem Trauermarsch. Wenn selbst die Heilungsgöttin die Hoffnung aufgab, dann standen die Chancen denkbar schlecht. Es war ein Wunder, dass Sethos überhaupt so lange überlebt und sich gegen das Gift behauptet hatte, doch nun unterlag er in seinem letzten Kampf. Das Kraft des Apophis war selbst von Göttern gefürchtet und man musste dankbar sein für die Gelegenheit, jemandem nochmals mehr oder weniger lebendig zu begegnen, der gebissen wurde. Es war keine Schande, dass Sethos unterlag, aber dennoch eine persönliche Katastrophe für jeden, dem er etwas bedeutete. Die priesterlosen Pharaonen verloren ihren Schutz, die Götter verloren Rahs Sprecher, die Engel verloren ihren Patronen, die Drachen verloren einen Bruder und die Menschen einen treuen Beistand. Es war ein Verlust in jeder Hinsicht und dennoch würde er aus allen Welten verschwinden als hätte es ihn niemals gegeben. Er ließ nichts zurück, was an ihn erinnerte. Außer dem Gefühl der Leere.
 

Der Raum mit der gemütlichen, kleinen Tribüne war heller erleuchtet als an Besuchertagen, ebenso das große Haifischbecken, dessen Wasser rosa schimmerte. Die Kinder wollte man nicht aus dem Kindergarten holen und mit dem Tod konfrontieren. Dakar war aber bereits auf dem Wege um Tato abzulösen, damit der möglichst früh Abschied nehmen konnte. Er würde es sich als Sethos‘ Bruder nicht verzeihen, nicht noch mal bei ihm gewesen zu sein. Doch Mokuba und Tristan würde man erst im Kindergarten ablösen, wenn die Ersten zum Gehen bereit waren. Für Kinder wäre dieser Anblick auch eher traumatisierend, denn auf dem Sandboden lagen reglos drei Riffhaie, der vierte trieb mit dem Kopf nach unten und berührte nur mit seiner Schnauze den Grund. Bei näherem Hinsehen war der Boden übersät mit kleineren Fischen. Alles Leben in dem Becken war verendet an dem Blut, welches das Gift aus dem Körper schwemmte. Und ganz vorn an der Scheibe, dort wo Amun seine Stirn ans Glas drückte, dort lag Sethos. Seine Augen waren geschlossen und seine Wangen eingefallen, sein Mund stand einen Spalt offen. Die Haut seines Körper fahl und die sonst so kräftige Statur war nunmehr ein Schatten ihrer selbst. Das weiße Tuch, welches sie ihm um die Blöße geschlungen hatten, verlor langsam den Halt, da seine Muskeln schwanden und das Gift seinen Körper auszehrte. Seine Beine waren dünn und sein mächtiger Brustkorb zeigte nur noch dürre Rippen. Er lag mit dem halben Gesicht im Sand, seine knochigen Flügel locker an den Rücken gelegt. Aus seinem Mund, aus den Kiemen und aus dem verletzten Flügel stiegen kleine Blutpulse wie Rauch ins Wasser. Sein Herz schlug noch mit letzter Kraft.

Die Trauer drückte an die Wände des Raums. Während Amun vorn an die Scheibe gepresst harrte, saßen Sethan und Balthasar auf den Polstern des Besuchertreppchens und harrten ihrer Gedanken bis die anderen eintraten. Allen voran schritt Seto zu Amun, welcher sich erhob und ihn in den Arm schloss. Noch niemals hatte man den positiven und optimistischen Sonnengott so niedergeschlagen gesehen. Angesichts dieses Verlustes konnte selbst er kein fröhliches Gesicht aufziehen.

Auch die zwei anderen standen auf und begleiteten die Eingetroffenen zur Scheibe, wo sie hindurchblickten und sich hilflos fühlten. So vieles konnten sie zum Guten wenden, doch Sethos konnten sie nicht helfen.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Yami und legte seine Hand an das Panzerglas. „Wir können nicht ins Wasser, um ihn zu berühren, oder?“

„Besser nicht. Wir würden wahrscheinlich enden wie die Fische“ antwortete Balthasar. „Sie verwesen und wenn du durch die Tür hoch gehst, stinkt das Wasser erbärmlich.“

„Warum sterben die Fische jetzt erst?“ fragte Joey sich. Insgeheim suchte er noch immer nach einer Lösung. Es gab immer eine Lösung - man musste sie nur finden! Und das rechtzeitig! „Die Putzerfische haben doch sogar sein geronnenes Blut aufgepickt. Warum sterben jetzt alle Fische und vorher nicht?“

„Weil sein Körper das Gift jetzt nicht mehr neutralisieren kann. Er ist zu schwach“ antwortete Balthasar leise. „Ich kannte Sethos nicht besonders gut, aber ich … ist es anmaßend, wenn ich sage, dass ich ihn vermissen werde?“

„Amun, es tut mir so leid“ flehte Sareth mit leisem Stimmchen zu. Sie stand direkt neben ihm und doch wagte sie es nicht, ihn zu berühren oder seinen Blick zu provozieren. „Es tut mir so unendlich leid. Ich hätte ihm nicht reinpfuschen dürfen. Dann wäre das alles nicht passiert. Er hätte Apophis besiegt.“

„Er hat ihn besiegt, mein Schatz.“ Seine Stimme enthielt keinen Groll und keinen Vorwurf. Er gab ihr keine Schuld, er gab niemandem Schuld. Doch die Tatsache, dass er nicht beschützen konnte, was ihm am teuersten war, das würde er lange nicht verkraften. Man sah ihm an, dass er seit Tag und Nacht keinen Schlaf fand und keinen Appetit hatte. Er schien müde und abgekämpft und doch konnte er sich nicht dazu zwingen, an etwas anderes als einen Ausweg vor diesem unvermeidbaren Verlust zu denken. Er konnte nichts tun. Nichts. Er als höchster Gott war machtlos.

„Auch wenn es dich vielleicht wenig tröstet“ sprach Yugi und legte den Arm um Amuns Hüfte, „wir lieben ihn auch und sind für dich da.“

„Danke.“

Dann entstand ein langer Moment der Stille. Was sollte man auch groß sagen, wenn man hilflos zusehen musste wie ein mächtiges Wesen verendete und verschwand? Von Sethos würde nur sein verletzter Körper bleiben und auch dieser würde irgendwann zu Erde verfallen. Er hatte kein Herz, welches seine Seele erhielt. Es gab keinen Ort, an den er gehen konnte.

„Amun-Re“ sprach Seto fast lautlos. „Gibt es irgendetwas, was ich tun kann? Was es auch sei?“

„Nein, du kannst nichts tun“ antwortete er mit flacher Stimme.

„Wenn es etwas gäbe, würdest du es mir doch sagen. Wenn ich ihm Kraft geben könnte oder etwas Lebenszeit. Wenn ich seine Seele in meinem Körper aufnehmen könnte. Irgendetwas. Wenn jemand etwas tun kann, dann ich. Ich bin ihm am ähnlichsten. Meine Magie ist seiner ähnlich. Also wenn es etwas gibt, dann musst du es sagen.“

„Es gibt nichts, Eraseus. Du kannst nichts tun.“

„Es tut mir leid.“ Sareth brach in Tränen aus und versank in Yamis Arm, der sie trösten wollte. „Es ist alles meine Schuld. Hätte ich nicht …“

„Nein, niemand ist schuld außer mir selbst“ unterbrach Amun und sah sie verkniffen an. Es kostete ihn viel Beherrschung nicht auch zu schluchzen.

„Du konntest ja auch nicht anders“ erwiderte Yami. „Du musstest Sethos schicken. Sonst weiß der Geier was Apophis getan hätte. In diesem mächtigen Götterkörper hätte er …“

„Nein, meine Schuld beginnt viel früher. Und sie wiegt viel schwerer.“ Er blickte das blasse Geschöpf in dem rosa Wasser an und blickte doch in diesem Augenblick in sein eigenes innerstes Selbst. „Er wurde zu mir gesandt, damit ich ihn auf die Erde gebäre. Er sollte kein Priester sein, sondern der erste Pharao. Hätte ich ihn geboren, dann hätte seine Seele ein Herz freigegeben, hätte ihn an die Erde gebunden und er könnte nach dem Tode zu mir zurückkehren. Doch ich habe nicht nur der Welt den Frieden gestohlen und meinem Bruder den Sohn. Ich habe ihm auch das Recht auf ein unsterbliches Leben gestohlen. Und wenn er nun geht, dann bricht mein Herz verdient.“

„Bei allem Respekt, aber du redest Unsinn“ sprach Seto sehr ernst. Über diese Worte wich sogar für einen Augenblick die Trauer aus seinem Ausdruck. „Sethos hat dich geliebt und er wusste, was er für dich aufgab. Er tat es freiwillig und er war immer glücklich bei dir. Er hat sich für dich entschieden und gegen das Menschsein. Weil er es so wollte.“

„Ich hätte auf ihn einwirken müssen. Ich hätte ihn seiner rechtmäßigen Bestimmung zuführen müssen. Doch stattdessen habe ich meinen Bruder betrogen und der Welt meine Schuld aufgeladen. Ich setze mich über alles hinweg und anzunehmen, dass dies nicht irgendwann abgestraft wird, war so töricht. Ich bin ein Thor, nichts mehr. Wie kann ich mich Sonnengott nennen, wenn ich nichts als Verderben bringe?“

„Sethos wollte nicht von deiner Seite weichen. Nicht einen einzigen Tag“ hielt Seto mit starker Stimme dagegen. Denn er wusste ganz sicher, dass Sethos nichts und niemanden so sehr liebte wie seinen Gott. „Er wollte kein Leben auf der Erde, wenn es bedeutet hätte, sich von dir zu entfernen. Eine Geburt hätte ihn verändert und er wollte genau das Leben, welches er mit dir geführt hat. Vielleicht hat er sein Dasein nicht immer genossen, aber er wollte sich nicht durch eine Geburt verändern. Er wollte, dass zwischen euch alles so bleibt, wie es ist. Das war sein Wunsch, nicht deiner.“

„Er wollte sicher niemals den Hass seines Vaters und die ewigen Schuldgefühle. Und er wollte niemals das Gefühl, anders zu sein. Er wollte dazugehören. Zu den Menschen. Und ich habe ihm das versagt.“

„Du hast ihm seinen freien Willen geschenkt. Er hat sich für dich entschieden und damit gegen die Welt und gegen das Menschsein. Weil er dich liebt! Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen der Unsterblichkeit oder der Normalität oder dem Dazugehören auf der einen und Yugi auf der anderen Seite, dann würde ich alles aufgeben oder es ablehnen, etwas anderes zu erreichen. Lieber plage ich mich mit Schuldgefühlen und dem Anderssein und dem Hass von anderen als auch nur einen Tag zu viel von dem Mann getrennt zu sein, den ich liebe. Ich würde alles tun, um bei Yugi zu sein. Und Sethos hat genauso gefühlt. Nur deshalb hat er sich über Leben und Tod hinweggesetzt und mich auf die Erde zurückgebracht. Weil er wusste wie ich fühle. Und weil er wusste, dass er für dich genau dasselbe täte.“

„Du solltest lieber nicht so leichtfertig davon sprechen“ flüsterte er und wandte sich ab, sodass man seine Stimme kaum hörte. „Es hat einen Sinn, weshalb Tote tot bleiben sollen.“

In diesem Moment schrak Sethan hoch und entfernte sich einige Schritte von der Gruppe. Doch es war nichts dort im Wasser oder bei den anderen, was ihn alarmierte, sondern die Gestalt, welche die Tür öffnete und eintrat. Äußerlich war es Tato, der planmäßig eintraf und dennoch jemand ganz anderes. Normalerweise füllte diese dunkle, verruchte Aura die Umgebung so schwer, dass jedem Menschen der Atem stoppte, aber nun war diese Aura fast normal. Dennoch sah und spürte jeder, dass dort nicht ihr Tato stand, sondern derjenige, den Sethan die ganze Zeit jagte.

Seth, sein Vater.

Er trat gelassen in den Raum und nur seine unnatürlich blauen Augen verrieten seine Identität. Das war Tatos Körper aber nicht er selbst. Er war besessen von seinem eigenen Schöpfer.

Seth blickte intensiv und doch undeutbar auf die Gruppe bis er seinen Bruder fixierte und seine Lippen ein zufriedenes Lächeln zeigten.

„Das ist unfair!“ Sethan stellte sich in seinen Weg und damit frontal vor ihn. Es war gefährlich, sich ihm in den Weg zu stellen und doch tat er es ohne nachzudenken. So lange wartete er auf ihn und nun erschien er in dieser Form. „Du hast meine Macht missbraucht und Apophis geschickt! Du weißt genau, dass ich auf DICH warte! Und jetzt tauchst du hier auf und bist zu feige, mir direkt gegenüber zu stehen?!“

„Das hat mehr mit Intelligenz zu tun als mit Feigheit.“ Seine Stimme war ruhig, kein Zeichen von Wut oder Bitterkeit. Doch wer ihn auch nur ein wenig kannte, der wusste, dass seine Worte und seine Körpersprache trügten. Er konnte einen anderen inniglich küssen und ihm gleichzeitig die Zunge abbeißen. Sein Lächeln bedeutete nichts und ein gelassener Stand ebenso wenig.

„Komm aus diesem Körper raus!“ schrie Sethan ihn an. Ungewöhnlich, dass er so viele Emotionen zeigte, doch nun war er deutlich angespannt und wütend. „Stell dich mir wie ein Mann und verstecke dich nicht hinter meinem Onkel! KOMM DA RAUS!“

„Zwing mich doch.“ Er legte seinen mystischen Blick auf ihn und war sich seiner Sache sehr sicher. „Ich bin überzeugt, du wirst Sato nicht töten wollen, aber tust du es doch, kannst du mich jetzt ganz einfach fangen. Sei ein Mann und nutze deine Chance. Du musst dich nur überwinden und deinen Bruder töten. Es ist ganz einfach.“

Deshalb war er so ruhig. Er wusste genau, dass Sethan seinem Onkel Tato nichts antun wollte. Er müsste ihn töten, um an die Götterseele zu gelangen. Mit dieser Gewissheit war er ein planbares Risiko eingegangen. Sethan ballte die Fäuste, schnaufte und rang mit seinen Gefühlen. Er war in diese Zeit gereist um beide Zwillingsgötter gefangen zu nehmen und in seinen Befehl zu stellen. Rah hatte sich bereitwillig fangen lassen, doch seinen dunklen Bruder festzusetzen, war ein beinahe unmögliches Unterfangen. In diesem Moment bot sich eine einmalige Gelegenheit. Er konnte all dem jetzt sofort ein Ende setzen. Doch dies bedeutete, dass Tato kampflos sein Leben ließ.

„Ich wusste es“ hauchte Seth und ließ ihn stehen. Er schritt einfach an ihm vorbei und auf die anderen zu.

„Ey, was soll das?“ Und Joey konnte mal wieder nicht die Klappe halten. „Warum kannst du hier so rumlaufen? Wo ist deine Aura?“

Anstatt eine Antwort zu hören, hörte Joey nur den Knall des Windes in den Ohren, schlug an die gegenüberliegende Wand und stürzte auf den Boden. Sein Kopf war schwindelig und er fühlte etwas Warmes den Hals hinunterlaufen. Er hörte Narlas Stimme, bevor ihn das Bewusstsein verließ.

Seto wollte Narla zwar gern folgen und nach Joey sehen, doch er folgte dem stärkeren Instinkt, griff Yugi und stellte ihn hinter sich. Auch Yami krallte er sich, drückte beide zwischen sich und dem Panzerglas ein und verdeckte sie vor der Gefahr. Gegen seinen Gottvater konnte er sicher nie gewinnen, doch er wäre sicher stärker als Tatos Körper. Oder …?

„Warum Tato?“ fragte er. Berechtigt, denn … „In meinem Körper wärst du mächtiger. Warum er? Warum sprichst du nicht durch mich?“

„Weil ich dem Irrglauben aufgesessen bin, ich hätte einen Wert für dich.“

„Was soll das? Warum sagst du das? Ich dachte, wir hätten Frieden geschlossen.“

„Das glaubte ich auch.“ Nun hörte man die altbekannte Verbitterung in der tiefen Stimme. Enttäuschung, jahrelange Einsamkeit und das Misstrauen gegen alles. „Bis du mir erneut davonliefst.“

„Ich laufe nicht vor dir davon. Warum siehst du mich nicht an?“

„Du bist der Einzige, dessen Körper er nicht besetzen kann“ beantwortete Sethan diese Frage. Wenn er ihn schon nicht fangen konnte, so wollte er ihm wenigstens die Tour vermasseln.

„Aber du warst schon in Setos Körper“ meinte Mokeph. „Selbst als er unter dem Orichalchos-Fluch ein Kind war. Das war für dich nie ein Problem.“

„Doch nun hat Seto kein Herz mehr, mit welchem du in Verbindung treten kannst.“ Wenigstens indem er diese Machtlosigkeit des Mächtigen verriet, spürte Sethan eine gewisse Genugtuung. „Setos Herz ist durch Yugis Obhut vor jedem Zugriff geschützt. Selbst ein Gott kann diese pharaonische Kraft nicht überwinden. Und deswegen musst du mit Onkel Tatos Körper Vorlieb nehmen und dich durch meine Aura unterdrücken lassen. Ist es nicht so? Vater?“

Darauf antwortete er nicht. Er blickte Sethan nur an. Einfach nur ein Blick aus endlos blauen, endlos tiefen Augen.

„Weshalb bist du hier?“ mischte sich nun Amun-Re ein. Denn dass sein Bruder grundlos ein solches Risiko einging und sich in Sethans Wirkungskreis begab, nahm er nicht an. Er bewegte sich nur mit einem Motiv.

„Willst du raten?“ Dann kehrte ein Lächeln auf sein Gesicht zurück. Ein falsches Lächeln, denn seine Augen drückten nichts aus.

„Seinetwegen.“ Er tat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf Sethos frei. Ob der überhaupt wahrnahm, dass sein Vater gekommen war?

„Weiter“ bat der mit einem Nicken.

„Weiter weiß ich es nicht.“ Er faltete die Hände und atmete tiefer durch, sammelte sich. Er musste jetzt stark bleiben. „Da du mich nicht angegriffen hast, gehe ich davon aus, dass du ausnahmsweise mal nicht auf deiner ewigwährenden Mission bist, mich zu töten. Vielleicht bist du hier, um dich an meinem Schmerz zu weiden. Ich hoffe jedoch, du bist gekommen, um ihn endlich von seinen Schuldgefühlen freizusprechen. Ich weiß nicht, ob er uns hört, doch wenn er es tut, dann weiß ich, dass ihm deine Worte viel bedeuten würden. Ich weiß, du liebst ihn. Und du würdest ihn nicht in Unfrieden sterben lassen. Das hoffe ich. Und wenn Hoffnung nicht genügt, so bitte ich dich darum.“

„Ob er stirbt oder nicht hängt ganz von dir ab.“ Er legte die Arme übereinander und sah seinen Bruder bedächtig an. Amun-Re antwortete ihm nicht, denn wenn sein Bruder etwas zu sagen hatte, so würde er es nur tun, wenn man ihn nicht drängte. Und so wartete er fast eine ganze, lange, unendlich lange Minute der Stille ab bis er weiter sprach. „Ich bin hier, um dir einen Handel vorzuschlagen, Re.“

„Einen Handel.“ Das konnte positiv sein. Ebenso das Gegenteil. Mit dem dunklen Seth zu handeln, war ebenso gewinnbringend wie verderblich. „Du willst um das Leben deines Sohnes handeln?“

„Um seines oder um ein anderes. Suche dir eines aus.“ Er drehte aus seiner entspannten Pose die Handfläche nach oben und ließ über seinen Fingerspitzen ein längliches Gefäß erscheinen. Erst war es ein gräulicher Nebel doch dann verfestigte sich der Gegenstand und bildete ein Röhrchen. Über seinen Fingerspitzen schwebte eine kristallene Phiole. Sie war in sich gedreht, wie ein kleiner Wirbel aus Glas und Eis und so funkelnd wie frischer Schnee. Ein wenig wie ein Eiszapfen mutete das Gefäß an, zerbrechlich, ein kleines Wunder. Und tief in seinem Kern eine weiße Flüssigkeit, welche sich immerzu in Richtung des Wirbels drehte.

„Was ist das?“ Amun-Re schluckte. War es das, was er hoffte? Das, wonach sich selbst ein Handel lohnte?

„Ein Antidot“ antwortete der Seth triumphierend, ob seiner Überlegenheit. „Ich allein habe Apophis geschaffen und ich allein kann sein Gift unwirksam machen. Diese Phiole enthält das Leben, welches um welches du bangst.“

Jetzt schluckte Amun-Re noch deutlicher und seine Mundwinkel zuckten. Es gab keinen Grund, an der Echtheit dieser Flüssigkeit zu zweifeln. Doch sie zu bekommen, wäre weniger leicht. „Du bist hier, um ihn zu retten. Du würdest ihn nicht wirklich sterben lassen.“

„Willst du es ausprobieren?“ Er drehte die Phiole über seinen Fingern und hielt sie dann zwischen Zeige- und Mittelfinger fest. „Handle mit mir und ich gebe dir, was du dir wünschst. Handle nicht und nimm seinen Tod in Kauf. Es liegt an dir.“

„Du hast gewusst, dass es so kommen würde. Du hattest von Anfang an vor, mich in die Enge zu treiben.“

„Um ehrlich zu sein, bin ich davon ausgegangen, dass Sethos und Apophis sich nicht begegnen. Der Ort, an welchem Apophis erschien, war nicht der, welchen er wählte. Die Engel haben seinen Weg abgeleitet und ihn in eure Arme getrieben. Ich habe geahnt, dass Sethos ein gefährliches Hindernis für ihn sein würde, also bat ich Seth für diesen Fall dazu.“

„Du hast Seth das Götterwandeln beigebracht“ erwiderte Amun-Re, welcher nun sichtlich angespannt war. „Wenn du ihn unterrichtest, wozu braucht er dann noch Apophis? Was hast du mit dieser Verbindung vor?“

„Möchtest du dich über Seth und Apophis unterhalten?“ Die Eisphiole in seiner Hand glänzte und funkelte und er war sich darüber bewusst, dass er nahe am Ziel war. Die Dinge standen zu seinem Besten.

„Was willst du für das Antidot haben?“ Er wollte alles dafür geben. Doch er wusste nicht, ob er alles geben konnte.

„Ein Leben im Tausch.“

„Wessen Leben?“

„Ein Leben, welches ich mir aussuche. Ich werde es mir holen und ich erwarte dann, dass du nichts tust, um mich zu hindern oder es mir wieder zu nehmen.“

„Wessen Leben?“ wiederholte er. Menschenhandel war ihm verhasst. „Wen forderst du? Seth? Oder Ilani? Enaseus oder mich? Oder Sethan? Ein Engelsleben? Yrian? Oder einen meiner Götter? Oder jemanden, der mit uns nicht in Kontakt steht? Rede, verdammt!“

„Ein Leben“ wiederholte er ebenso, jedoch stimmlich ruhiger. „Wen ich mir auswähle, muss ich dir nicht sagen. Rette deinen nutzlosen Priester und gib mir dafür jemand anderen.“

„Ich kann dir nicht einfach ein anderes Leben überlassen. Schlimm genug, dass du dir die Verdammten nimmst. Ich werde dir niemals einen Menschen mit reinem Herzen überlassen.“

„Gut, dann gehe ich.“ Er nahm die Phiole in seine Faust und setzte damit einen Punkt, von dem er nicht wich.

„Wir hatten bereits den Deal, dass du Menschenleben für jeden Drachen bekommst. Und als Narla Drachen tötete, hast du deine Forderung nicht einmal geltend gemacht! Ich kann beeinflussen, dass niemand deinen Drachen nahe kommt. Aber ich kann dir nicht einfach ein unschuldiges Leben überlassen ohne mitwirken zu können. Nimm dir erst mal die Leben, die dir zustünden!“

„Ich will aber keine Leben, die du mir zuteilst.“

„Du bekommst Leben von mir. Das war der Handel! Wenn du nicht richtig verhandelst und ausformulierst, ist das nicht meine Schuld!“

„Und wenn du deinen Geliebten in den Tod schickst, ist das ebenso wenig meine Schuld. Re, mein Bruder.“

Während Seth gelassen und klar blieb, kochte in Amun-Re eine seltene Wut auf. „Du willst mich missbrauchen, indem du Eleseus rettest. Du willst daraus auch noch Profit schlagen, wenn du ihn sowieso heilst!“

„Wenn du dir da so sicher bist, dann lehne den Handel ab.“ Er lächelte ihn an und wusste um die Unsicherheit in seinem Bruder. Ob oder ob er nicht noch etwas für seinen ersten Sohn empfand, wusste er nur selbst. Und vielleicht nicht mal das.

„Eleseus würde das nicht wollen“ sprach er, doch man hörte, dass er sich noch niemals so unsicher gewesen war. Es war seine Pflicht als Sonnengott, das Wohl der Vielen über das des Einzelnen zu stellen. Doch war es nicht auch seine Pflicht als Liebender, seinen Geliebten über alle anderen zu stellen? Als Sonnengott stellte er Gebote auf, an welche er sich selbst ebenso hielt wie er es von anderen erwartete. Er entschied häufig gegen sein Herz und zum Wohle der Menschen. Doch sein Priester war der Schwachpunkt in seinem selbst.

„Ich würde mich für ihn opfern“ sagte Yami und trat hinter Setos schützendem Rücken vor. „Wenn er mein Leben fordert, übergebe ich es ihm. Ich würde für Sethos sterben.“

„Ich ebenso“ schloss sich auch Nika sofort an. „Sethos ist jemand, auf den weder Amun noch die Welt verzichten können. Amun, wenn er mein Leben fordert, übergebe ich es ihm.“

„Dem muss ich mich anschließen“ sagte auch Mokeph. „Ich wäre traurig, meine Frau und meine Kinder zu verlassen. Doch ich würde für meine Familie und für meine Freunde sterben. Und für Sethos allemal. Wenn er mein Leben fordert, übergebe ich es ihm.“

„Ich auch.“ Auch Sareth trat zu Amun-Re und sah ihn entschieden an. „Ich bedeute dieser Welt gar nichts. Außerdem bin ich nicht unschuldig an dieser Sache. Ich würde für Sethos sterben. Wenn er mein Leben fordert, übergebe ich es ihm.“

„Dasselbe gilt für mich. Und ich bin mir sicher, für Joey ebenso.“ Narla hielt den bewusstlosen Joey in den Armen, aber auch sie versicherte ihren Beistand. „Wir würden für Sethos eintreten. Ganz egal, was das bedeutet. Wenn er unser Leben fordert, dann übergeben wir es ihm.“

Dem schlossen sich auch millionen andere an. Neben Sethan erschien ein goldener Rauch und darin stehend die schimmernde Statur eines jungen Mannes. Auch wenn er nicht vollständig sichtbar wurde, war Yrian dennoch an seiner weichen, angenehmen Stimme zu erkennen. „Ich spreche für alle Engel in der hierigen und der anderen Welt. Jeder von uns, jeder einzelne, würde ohne Zögern für unseren Patronen eintreten. Denn niemand ist es mehr wert als Eleseus Sethos, der Schützer unseres Gottes, von Pharaonen, Werten, Menschen und Engeln. Wenn er ein Engelsleben fordert, werden wir es ihm übergeben.“

„Wie emotional“ kommentierte Seth diese schwülstigen Liebesbekundungen. Er öffnete die Faust und ließ einen neuen Blick auf das kunstvolle, wertvolle Gegengift zu. Es lag bei Amun-Re allein. Ging er das Risiko ein, dass der Sonnenpriester von seinem Gottvater ohnehin errettet wurde, weil dieser ihn trotz allem liebte? Oder ging er das Risiko ein, dass sein Geliebter dem Tode erlag und auf ewig verblasste?

„Wir würden alle für Sethos eintreten“ sprach Yugi und nahm Seto an der Hand. „Du brauchst Sethos mehr als irgendjemand anderen, Amun. Nika hat Recht, die Menschen und die Götter können auf jeden verzichten. Aber du kannst nicht auf Sethos verzichten. Niemand kann auf ihn verzichten, weil er eine zentrale Rolle im Weltgefüge einnimmt. Selbst wir Pharaonen sind ersetzlich, aber ein Wesen wie ihn gibt es kein zweites Mal. Ich will nur für mich sprechen, aber wenn der Urseth mein Leben fordert, übergebe ich es ihm.“

„Und wenn Yugi es erlaubt“ reihte sich auch Seto ein. „Ich würde es mir niemals verzeihen, mein Leben höher zu werten als seines. Wenn Yugi es zulässt, übergebe ich auch mein Leben, sollte er es fordern.“

„Hast du nicht eben noch gesagt, du würdest alles tun, um bei Yugi zu bleiben? Und nun würdest du dich so einfach opfern?“ fragte Amun-Re, der noch immer mit sich rang. „Eleseus würde sich nicht für dich opfern. Für niemanden würde er sich opfern.“

„Für niemanden außer dich“ ergänzte Yami und griff seinen Arm, sah ihm direkt ins Gesicht. „Er würde sich für dich opfern und damit zum Wohle von uns allen. Geh den Handel ein.“

„Und wenn er Eleseus ohnehin retten will?“

„Willst du das riskieren?“

„Er würde es sich niemals verzeihen, wenn jemand für ihn stirbt.“

„JEDER würde freiwillig für IHN sterben.“

„Es gibt viele Menschen, die das nicht tun würden.“

„Die würde der Seth auch ohne Handel bekommen. Er will die Menschen, die sich für andere aufopfern und für andere eintreten. Menschen, die seinen Verführungen nicht erliegen. Selbst wenn es jemand ist, der Sethos nicht kennt! Vielleicht eine Medizinfrau aus den Tiefen des Urwaldes. Oder ein afrikanisches Straßenkind mit reinem Herzen. Oder eine Meerjungfrau, wenn’s die überhaupt gibt. Niemand sagt, dass es jemand von uns ist, obwohl jeder - J E D E R - von uns für Sethos sterben würde. Es gibt millionen von Menschen, die sich für Sethos hergeben würden. Menschen, die uns nicht kennen und die wir nicht kennen. Aber Menschen, die verstehen, wie wichtig und wie aufrichtig dein Priester ist. Er opfert sich für dich und somit für alles Leben auf dieser Erde. Und ich glaube fest daran, dass die Menschen ihm das danken würden. Viele würden es nicht tun. Aber viele würden es tun. Du darfst ihn nicht sterben lassen, weil du zweifelst. Zweifle nicht an den Menschen, das ist nicht deine Art. Glaube daran, dass die Menschheit so fühlt wie wir. Ein einziges Menschenleben für alle die, welche durch Sethos gerettet wurden und werden. Wenn du Sethos‘ Leben aufwiegst gegen irgendein beliebiges auf dieser Welt oder in der Götterwelt, dann würde seines immer auf der senkenden Schale liegen. Setze eines, nur ein einziges für ihn ein.“

„Du hast deinen Priester verstoßen, Atemu. Er ist wieder frei. Was, wenn er ihn fordert? Würdest du ihm Seths Leben geben?“

„Dann soll es so sein“ nickte Yami überzeugt. „Ich wäre am Boden zerstört, sollte er Seths Leben fordern. Aber mein Sethi, der echte, wahre Seth, den ich liebe, auch er würde sich für Sethos opfern. Davon bin ich überzeugt.“

„Und Finnvid? Er ist dein Geliebter und er macht dich glücklich? Würdest du ihm sein Leben geben?“

„Jedes“ schwor Yami mit fester Stimme. „Ich würde ohne zögern jedes Leben für das von Eleseus Sethos eintauschen. Ohne Ausnahme.“

„Er würde es sich niemals verzeihen“ flüsterte Amun-Re den Tränen nahe.

„Amun-Re!“ schrie Yami und schüttelte ihn, damit er zur Vernunft kam. „Sethos stirbt, wenn du nichts tust! Wir wollen ihn retten und du willst es auch! Geh den Handel ein!“

„Tu es“ sprach dann auch Sethan und wandte sich zu dem Sonnengott um. „Ich bin mir sicher, dass er mein Leben nicht will. Und wir brauchen Eleseus. Wenn er stirbt, war alles umsonst. Allein das rechtfertigt jedes verlorene Leben.“

Der Sonnengott senkte das Gesicht und atmete tief in sich hinein. Er wollte nicht irgendein Leben opfern. Nicht das eines Menschen, eines Engels oder eines Gottes. Doch die anderen hatten Recht, sein Sohn Atemu allen voran. Wenn er das Leben seines Priesters in die Waagschale legte und auf die andere Seite das eines beliebigen anderen Wesens - Eleseus Sethos würde stets schwerer sein. Und so fand er seine Entscheidung.

Er hob sein Haupt, strich sich das Haar aus dem Gesicht und trat auf seinen Bruder zu bis er nur eine Armlänge von ihm entfernt stand. „In Ordnung.“ Er streckte ihm die Hand entgegen und erwiderte seinen rätselhaften Blick. „Ich gestatte, dass du ein beliebiges Leben erwählst und ich werde nichts tun, um dich daran zu hindern oder es zurückzuholen. Und im Gegenzug erhalte ich von dir das Antidot, welches das Leben meines Priesters rettet.“

„Wie ich es erwartet habe.“ Er hatte somit, was er wollte und gab auch seinem Bruder, was der sich ertrotzt hatte. Er übergab die feine Phiole mit dem in sich drehenden, weißen Gegengift in Amun-Res Hände und genoss den Moment des vollkommenen Triumphes. Denn er wäre nicht der Herr aller Trüge, hätte er nicht noch ein Ass im Ärmel.

Er wartete bis sein Bruder den Blick brach und sich zum Aquarium aufmachte bis er seine Stimme nochmals anhob. „Und Re?“ Nun zierte ein echtes Lächeln seine Lippen, denn seine Saphire blitzten erfreut. „Gib mir noch etwas dazu und ich sage dir, wie man das Antidot anwendet.“

Wie vom Donner gerührt stockte allen der Atem. Das war ein Handel mit Hintertür.

Ganz langsam drehte Amun-Re sich zu ihm zurück und schloss die Faust um das glitzernde Eisgefäß, welches soeben von der Rettung zur Gefahr geworden war. Denn sein Zwillingsbruder hatte ihm keinen Hinweis zur Verabreichung gegeben.

„Wie man es anwendet“ wiederholte er bestürzt. Wie konnte er sich nur von solch einem billigen Trick täuschen lassen?

„Falsch angewendet kann es einen sehr schmerzvollen Tod verursachen. Jahre unendlicher Qual. Der letzte, der es erhielt, war ein abtrünniger Dämon.“

„Syron“ hauchte er. Ja, von dem hatte er vieles berichtet bekommen.

„Was war mit Syron?“ fragte Sethan skeptisch.

„Er hat die Leben zweier Männer verschont, welche sich im Austausch für ihre Frau und Schwester anboten“ antwortete er gedankenverhangen. „Soweit ich weiß, war es Neith, welche diese Strafe über ihren Dämon verhängte und ihm ein Gift verabreichte. Ich wusste nicht, dass es das Antidot war.“

„Und du hast gehört, was mit ihm geschah?“ wollte Seth triumphierend hören. „Seine Knochen brachen von selbst und seine Organe verfaulten bei lebendigem Leibe. All seine Körperöffnungen eiterten und er vegetierte in einem Fieberdelirium mit Mahren, welche sich kaum von seinen wachen Momenten unterschieden bis er letztlich an seiner eigenen Zunge erstickte. Ein falsch verabreichtes Antidot kann das Leben deines Priester aber zumindest verlängern.“ Auch wenn Amun-Re seinen Priester eher einen frühen Tod sterben ließ als ihn so verenden zu sehen.

„Und du wirst mir nicht sagen, welche Verabreichungsform die ist, welche zur Heilung führt? Ich weiß, dass Syron das Mittel in die Ohren geträufelt bekam, während er schlief.“

„Die Dareichungsform unterscheidet sich je nach Zubereitung. Du kannst dein Glück gern einfach versuchen.“

„Macht es dir Spaß, mich zu triezen, ja?“

„Oh ja. Lang nicht solche Freuden gekannt. Um dich selbst zu zitieren: Wenn du nicht richtig verhandelst und ausformulierst, ist das nicht meine Schuld.“ Ja, er genoss es sichtlich, zuzusehen wie sein Bruder sich wandte und litt und betteln musste, um erlöst zu werden.

„Was für Darreichungsformen gibt es denn?“ versuchte Mokeph zu denken. „Wir können es ins Blut spritzen, ins Wasser geben, als Schluck-Medizin, als Salbe … er könnte es auch inhalieren …“

„Raten hilft uns wohl nicht viel.“ Amun-Re kannte seinen Bruder zumindest so weit, dass er ahnte, worauf das hinauslief. Auf noch eine Forderung. „Du willst noch einen Handel.“

„Gut geraten.“ Er verschränkte die Arme und lehnte sich gelassen zurück. Tatos Körper wirkte damit noch größer und kräftiger, wenn er so stolz dastand. „Die Medizin hast du nun, doch ohne Wissen ist sie nutzlos.“

„Was forderst du?“

„Etwas, was dir sicher leichter zu geben fällt. Schade, vielleicht hätte ich meine Forderungen andersherum stellen sollen.“

„Rede nicht so überheblich daher. Sag einfach, was du forderst.“

„Ich fordere, dass ihr mir fernbleibt.“ Er senkte seine Stimme und verengte seine Augen. Ein Zeichen dafür, dass es ihm sehr ernst war. „Ich will für einen Tag als ich selbst auf der Erde wandeln und ich fordere, dass ihr mich nicht belästigt und unbehelligt in mein Reich zurückkehren lasst.“

„Findest du das nicht etwas sehr unfair?“ hielt Amun-Re dagegen. „Du willst Sethans Kraft nutzen, um in deinem eigenen Körper auf die Erde zu kommen und erwartest, dass er dich ungeschoren zurückgehen lässt?“

„Was willst du überhaupt in der Menschenwelt?“ wollte Sethan selbst wissen.

„Das werde ich dir sicher nicht erzählen.“

„Ich kann dir nicht versprechen, dass Sethan nichts tun wird“ versuchte Amun-Re sich an einem Kompromiss. „Aber zumindest die Pharaonen und ihre Priester kann ich ersuchen, deinen Weg zu meiden.“

„Das ist mir zu wenig.“ Er beugte sich etwas vor und sah Sethan an. „Entweder gibst du mir dein Wort für euch alle oder du hast genau einen Versuch, deinen Priester zu heilen.“

„Du verlangst sehr viel, Bruder.“

„Es ist ja auch nicht so als ob du nichts dafür bekämest, Re.“

Beide blickten sich tief in die Augen. Seth verlangte wirklich viel. Erst ein Leben und dann auch noch einen Tag als Mensch. Das klang sehr nach einem ausgereiften Plan. Ihn gewähren zu lassen, war gefährlich für alle. Doch es bedeutete Rettung für einen einzigen. Für den einen einzigen.

„Sethan?“ wandte Amun-Re sich damit an ihn. Er drückte die Phiole an sein Herz und öffnete die andere Hand in einer bittenden Geste. „Kannst du dein Wort geben, ihn nach einem Tag als Mensch wieder gehen zu lassen?“

„Du weißt, dass ich das nicht kann. Die Gelegenheit wäre zu einmalig. Es tut mir leid.“

„Und wenn ich dich bitte?“ Er hielt ihm die offene Hand entgegen wie ein Bettler. „Tu es wenn nicht für Eleseus, dann für mich. Ich habe dich vom ersten Moment unterstützt und dir nie misstraut. Ich habe niemals eine Gegengabe verlangt, aber dieses eine Mal … ich bitte dich. Bitte erwidere meinen Beistand nur dieses eine Mal mit Großmut.“

Sethan seufzte und trat unbewusst von einem Bein aufs andere. Dieses Versprechen zu geben, fiel ihm nicht leicht. Er musste den Seth gefangen nehmen. Koste was es wolle. Doch ohne Sethos würde sein Plan ohnehin nicht funktionieren. Es war eine Zwickmühle. Er hatte gewusst, dass es schwer werden würde, wenn man sich zwischen die Zwillingsgötter stellte. Doch dass es solche Ausmaße nehmen und solche Rückschläge kosten würde, hatte er nicht erwartet. Und die Chance, Sethos auf gut Glück zu retten, war denkbar gering. „Ohne Sethos ist ohnehin alles im Eimer“ sprach er zu sich selbst, bevor er Seths Blick erwiderte. „In Ordnung, Vater. Einen Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenaufgang.“

„Auf einem Erdteil meiner Wahl“ setzte der kluge Seth hinzu. Denn es gab durchaus Erdteile, wo das eine vom anderen nur eine Stunde entfernt lag.

„Eine volle Erdumdrehung, 24 Stunden auf einem Erdteil deiner Wahl.“ Er nickte, wenn auch mit knirschenden Zähnen. „Und jetzt sage uns, wie wir das Gegengift verabreichen. Oder hast du auch hier wieder einen Haken vorgesehen?“

„Nein, ich habe bekommen, was ich erwartet habe.“ Er löste seine Haltung und blickte ins Aquarium, wo sein erster Sohn mehr tot als lebendig seinem Ende entgegentrieb. Ob er ihn auch ohne Handel gerettet hätte? Vielleicht wusste er es selbst nicht. „Es reicht, wenn du die Phiole ins Wasser wirfst.“

„Ich vertraue dir“ erwiderte Amun-Re und traf seinen Saphirblick, welcher binnen der letzten Momente jeden Ausdruck verloren hatte. „Ich vertraue darauf, dass du mich nicht betrügst.“

„Ich halte mein Wort, aber auf meine Ehrlichkeit solltest du nicht vertrauen.“ Mit diesen Worten verließ er den besetzten Körper und gab den Wirt wieder frei.

Nach Luft ringend sank Tato auf die Knie und wurde von der schnell herbeispringenden Nika aufgefangen, bevor er das Bewusstsein verlor. Einen Gott zu beheimaten, noch dazu einen so mächtigen und so lange, dem hielt auch der stärkste Drache nicht stand.

Amun-Re hingegen lief sofort durch die Tür auf der rechten Seite. Heraus drang ein Gestank von Verwesung und altem Fisch. Er erklomm die Treppe bis er oben im Geräteraum ankam, von wo aus er direkt zur Wasseroberfläche gelangte. Die anderen sahen nur wie die Phiole herabsank, knackte und Risse ausbildete und kurz über dem Sandboden zerplatzte. Die weiße Flüssigkeit verteilte sich mit dem Wasserstrom.

Eine einfache Handlung, welche einen hohen Preis kostete.
 

„Atemu! Yugi! Schaut euch das an!“ Stunden waren vergangen, der Abend war fast zur Nacht geworden, da durchdrang Amun-Res aufgeregte Stimme den Raum.

Die beiden Gerufenen eilten sogleich herbei und folgten dem Zeig seines zitternden Fingers. Und tatsächlich war hinter der Scheibe eine Bewegung zu erkennen. Sethos‘ Augenlider bewegten sich. Dies war die erste Regung seit sie ihn ins Wasser gelegt hatten. Das Gegengift war echt und tat seine Wirkung!

„Was meint ihr? Kommt er zu sich?“ Balthasar hockte sich dazu, so hofften sie gemeinsam. Nachdem die anderen zur Nacht den Heimweg angetreten hatten, waren außer ihm und Sethan nur noch die Pharaonen, Sareth und Seto anwesend. Nun ja, Pechvogel Seto gerade nicht, weil dieser in ausgerechnet diesem Moment für eine Zigarette vor die Tür gegangen war. Und natürlich geschah nach ereignislosen Stunden genau dann etwas.

„Ich hole Oma!“ rief Sareth und stürzte zur Seitentür hinaus. Seto würde wahnsinnig werden vor Freude!

„Es wirkt“ flüsterte Amun-Re und presste seine Hände an die Scheibe. „Das Leben kehrt in ihn zurück. Mein Bruder hat mich nicht betrogen.“

„Du hast die richtige Entscheidung getroffen“ pflichtete Yugi bei und blickte zu Sethan auf, welcher sich als einziger nicht hinhockte. „Oder, Sethan?“

Er schwieg einen Moment, bevor er schlicht antwortete: „Ich freue mich, wenn es ihm besser geht.“ Er klang wenig erfreut, doch sicher nicht, weil er sich nicht für Sethos freute. Er hatte große Kompromisse eingehen müssen und diese Heilung teuer erkauft. Und das musste er erst verarbeiten.

Dann endlich ging ein Ruck durch das bange Warten. Sethos verzog das Gesicht. Er biss die Zähne aufeinander, kniff die Augen zusammen und spuckte dann etwas Blut ins Wasser. Seine Flügel zuckten zusammen und er krümmte den Bauch. Seine Finger bohrten sich in den sandigen Untergrund. Er schien Schmerzen zu haben, Krämpfe offensichtlich im Bauch oder an der Brust.

„Halte durch“ redete Amun-Re an die Scheibe. Er litt mit seinem Priester. Dass er zu sich kam, war gut. Doch das bedeutete auch, dass er nun die Schmerzen spürte. „Es wird bald besser, Darling. Halte noch etwas aus.“

„Meine Fresse! Da ist man EIN MAL kurz weg!“ Seto eilte von seiner Enkelin getrieben herbei und quetschte sich sogleich zwischen Balthasar und Yugi. Er sah den krampfgeschüttelten, ausgemergelten Körper und zog fast unweigerlich dasselbe Gesicht wie Sethos.

„Seto?“ sorgte Yugi sich sogleich. „Was ist?“

„Das fühlt sich furchtbar an.“

„Kannst du ihn spüren?“ fragte Amun-Re entrückt und starrte Seto an.

„Ja … natürlich.“ War das so verwunderlich? „Nicht?“

„Papa konnte ihn nicht spüren“ erklärte Sareth erstaunt. „Und ich auch nicht. Nicht mal Narla findet Zugang zu ihm.“

„Ach …“ Jetzt wunderte auch er sich und sah genauso erstaunt ins Wasser. „Ich konnte ihn immer schon spüren. Ich dachte, das wäre normal.“

„Eigentlich ist seine Aura vor allen weltlichen Energien verschlossen“ erklärte Sethan ernst. „Eigentlich kann man geistig nur mit ihm kommunizieren, wenn er es aktiv zulässt. Aber ich glaube nicht, dass er in diesem Moment zu irgendeiner geistigen Öffnung fähig ist.“

„Ich wusste nicht, dass so etwas zwischen euch besteht“ gab Amun-Re zu und sah seinen Priester mitleidig an. „Ich habe geglaubt, das gehe nur von ihm aus …“

„Vielleicht wusste er es selbst nicht“ vermutete Balthasar. „Sethos ist ja kein Fan von vielen Worten.“

„Aber wenn dein Geist mit ihm verbunden bist“ kam dem Sonnengott eine Idee. „Hast du die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen? Also, könnt ihr euch auch mental austauschen?“

„Ich weiß nicht … ich kann es versuchen.“

„Versuche es, Eraseus. Bitte. Ich will wissen, was er fühlt.“

„Okay“ hauchte er und legte die linke Hand an die kühle Panzerscheibe. Seine blauen Augen verloren den Fokus, als würde er durch die Dinge hindurchblicken. Seine Hand begann zu zucken und sein Atem wurde tiefer, langsamer. Er war angespannt und versuchte gleichsam, sich zu entspannen, sich nicht in einen fremden Geist ziehen zu lassen, welcher so viel größer war als seiner.

Seine Bemühungen schienen erfolgreich. Sethos öffnete den Mund und sein zuckender Körper beruhigte sich ein wenig. Zwar zitterte er, doch er wurde ruhiger. Ganz allmählich kam sein kranker Körper langgestreckt und beruhigt auf dem Sand zu liegen und seine verkrampften Kiemen entspannten sich. Man sah wie die Öffnungen an seinen Hüften gleichmäßiger pumpten und auch sein Gesicht immer entspannter wurde.

„Funktioniert es?“ flüsterte Yami ganz leise, um Setos Konzentration nicht zu brechen.

„Er hat Schmerzen. Ihm fehlt die Orientierung.“ Setos Stimme klang abwesend, sein Geist war noch immer zum Teil bei Sethos, doch er löste sich und kam zurück. Er blickte Amun-Re an, welcher ihn und Sethos abwechselnd beobachtete.

„Und?“

„Er ist zu sich gekommen, aber sein erster Gedanke war, dass er sich noch im Kampf befindet. Er wollte aufstehen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.“

„Aber du konntest ihn beruhigen?“

„Ich habe ihm gesagt, dass er sich in Sicherheit befindet und niemandem Gefahr droht. Er versteht mich wohl noch nicht ganz, sein Geist ist verwirrt und seine Gedanken verlangsamt. Aber er hat mich insofern verstanden, dass er nicht fliehen muss, dass wir in Ordnung sind und er sich entspannen kann.“

„Hast du ihm gesagt, dass er verletzt ist?“ wollte Amun-Re weiter wissen.

„Er kann die Schmerzen nicht richtig einordnen. Ich habe ihm nur gesagt, dass er verwundet ist und sich ruhig verhalten soll. Er scheint mir zu glauben und versucht, sich zu sammeln.“

„Und weiß er, dass wir hier sind? Dass wir bei ihm sind?“

„Das weiß ich nicht. Ich kann es ihm aber sagen.“ Er legte seine Hand erneut an die Scheibe und blickte Sethos ins Gesicht.

Es vergingen einige Momente, doch dann endlich öffnete dieser seine Augen einen Spalt. Kaum ein paar Millimeter, doch genug um das Blau seiner Ozeansaphire zu erkennen. Trotz allem war sein Blick klar und intensiv. Wenn auch müde, sehr sehr sehr müde.

Er blickte Amun-Re an. Der rutschte tiefer, lag fast auf dem Boden, doch war mit ihm auf einer Höhe. Aufmunternd lächelte er ihn an und berührte mit den Fingerspitzen das kühle Glas. „Ich liebe dich“ flüsterte er. Noch niemals war er so erleichtert wie in diesem Moment. Ohne ihn … ein Leben ohne ihn … niemals wieder wollte er ohne ihn sein. Auch ein Gott brauchte jemanden, der ihm verbunden war. Und in diesem Augenblick stellte er schmerzenden Herzens fest, dass er ohne ihn nichts wäre. Er hätte nicht mehr derselbe Gott sein können ohne diesen Priester. Ohne dieses wundervolle Wesen. Mit ihm wäre auch sein Lächeln gestorben.

„Er hat dich verstanden“ sprach Seto leise hinab. „Er hört dich kaum, aber er versteht deine Gefühle.“

„Ich weiß.“ Er wischte sich eine kleine Träne fort und lächelte unentwegt das müde Gesicht hinter dem Glas an. „Ich liebe dich, Darling. Bitte werde gesund, damit ich dich wieder in die Arme nehmen kann.“

Auch Sethos versuchte sich an einer Bewegung. Selbst wenn es nur eine kleine wurde. Er hob die Spitze seines Zeigefingers und drehte sie zu ihm. Auch wenn er kaum die Scheibe erreichen konnte, er wandte sich seinem Gott zu.

„Er sagt dir, dass er dich liebt“ übermittelte Seto. Auch wenn er sicher war, dass Amun-Re diese Geste auch ohne Dolmetscher verstand.

Doch das musste es mit ersten Zärtlichkeiten gewesen sein. Sethos hatte nicht genügend Kraft, um wach zu bleiben. Er öffnete erschöpft den Mund und schlief wieder ein. Doch dieses Mal hob und senkte sich sein Bauch, er atmete tiefer und nachhaltiger. Sein Körper brauchte nun viel Zeit, um zu Kräften zu kommen.
 


 

Chapter 17
 

Zum Mittagessen waren dann auch fast alle zurück gekehrt. Im Aquarium blieben nur Balthasar und Amun-Re. Letzterer natürlich, weil er seinem Priester nun erstrecht nicht mehr von der Seite wich. Ersterer deshalb, weil er seinem Bruder nicht unnötig begegnen wollte. Er war noch immer sauer und verbrachte nicht mehr Zeit mit Tato und Phoenix als unbedingt nötig. Eine Aussprache würde Tato dann anstreben, wenn sich die Wogen etwas geglättet hatten und der Zeitpunkt gekommen wäre.

Der war vorerst erleichtert. Nicht nur, weil das Oberhaupt der Drachensippe auf gutem Wege zur Genesung schien, sondern auch weil Sethan endlich mal wieder in die Gaststätte gekommen war. Im Aquarium hatte er tagelang keine Sonne gesehen. Er war müde und ruhiger als gewohnt. Also gab er dem Drängen endlich nach und würde sich im Kreise der anderen etwas ablenken, ordentlich essen und ausgiebig schlafen.

Doch mit dem Schlafen musste er wohl noch etwas warten, denn er teilte sein Zimmer noch immer mit Yami und da dieser sich heute mit Finn verabredet hatte, nun ja. Eigentlich wollten die beiden gemeinsam schwimmen gehen, doch aufgrund diverser Bedürfnisse blieben sie eben auf dem Zimmer und Sethan wollte auch gar nicht wissen geschweige denn mitbekommen, was dort oben vor sich ging.

„Sethan, mein Schatz.“ Yugi stellte ihm einen frischgepressten Orangensaft hin und umarmte ihn von hinten. Sein Enkel hatte schon die Augen geschlossen und es schien, er würde im Sitzen einschlafen. „Du kannst dich auch in unser Bett legen. Ich sorge dafür, dass dich niemand stört.“

„Und wenn ich verschlafe, habt ihr heute Abend kein Bett und die Kleinen können nicht in ihre Zimmer. Nein, lass mal.“ Er drehte sich zu Yugi herum und lächelte ihn an. Es war dasselbe Lächeln wie immer, wenn er eine Sache verharmlosen wollte und eigentlich sagte er damit nur: Lass mich in Ruhe.

„Wenn du verschläfst, wecken wir dich auch nicht. Mach dir um uns keine Sorgen. Du musst dich ja auch erholen, Schatz.“ Er strich ihm über sein langes, blondes Haar und küsste seine warme Stirn.

„Danke, Yugi. Lass gut sein. Atemu muss ja irgendwann mal wieder rauskommen.“

„Da würde ich mich nicht drauf verlassen“ meinte Mokuba und grinste sich einen. Wenn Yami erst mit seinem Lover Spaß hatte, konnte das unter Umständen Tage dauern. Vorausgesetzt Finn legte die erforderliche Ausdauer an den Tag.

„Ich bin aber auch müde“ schloss Seto sich an. Seit er gestern zurückgekehrt war, hatte er kaum eine Minute zur Entspannung gefunden. „Ich schlage vor, wir essen und machen dann ein Mittagsschläfchen. Sethan.“

„Seto, ich …“

„Nein, keine Diskussion.“

„Ich bin froh, dass du wieder da bist. Tut mir leid, ich muss das einfach mal sagen“ sagte Tea und schenkte Seto einen warmen Blick. „Wir hatten Angst, dass du dich veränderst oder vielleicht gar nicht zurückkommst. Aber du scheinst wie immer zu sein.“

„Es tritt meist genau das ein, was man nicht erwartet“ antwortete er mit nachdenklicher Stimme und blickte sein Wasserglas an, in welchem sich die Eiswürfel mit Blubberbläschen schmückten. „Ich weiß nicht, ob ich mich verändert habe. Und wenn ja, was das bedeutet. Und wenn nicht … was das bedeutet.“

„Du kommst mir ruhiger vor“ sprach Yugi und setzte sich neben ihn. „Nicht mit dem, was du sagst oder in deinen Gesten. Ich habe das Gefühl, dass du innerlich etwas mehr gefestigt bist. Ist das so?“

„Gefestigt ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Vielleicht eher weniger steif. Flexibler. Das trifft eher meine Gefühlslage. Ich nehme mir die Sachen wohl noch immer zu sehr zu Herzen, aber es fühlt sich nicht mehr so an als zerstörten sie mich. Merkwürdig, oder?“

„Nein, das ist nicht merkwürdig“ meinte Sethan und sah seinen Großvater an. „Du hast die Verantwortung für dein Herz abgegeben. Vielleicht hättest du dich mehr verändert, wenn du einen anderen Weg gewählt hättest. Doch Opa Yugi hat dich so angenommen wie du bist und du fühlst dich von ihm wahrhaftig geliebt. Du hast also objektiv gesehen gar keinen Grund dazu, dich verändern zu müssen.“

„Du meinst, ich kann mich nun nicht mehr verändern? Ich werde immer so bleiben wie ich bin?“ Das wäre dramatisch, denn es gab so vieles, was er an sich noch ändern wollte. So viele Ängste, die er ablegen wollte und so vieles, was er lernen wollte. Er wollte sich verändern … oder zumindest nicht so kaputt bleiben wie er manchmal war.

„Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, du kannst dich sehr wohl verändern. Nur mit dem Unterschied, dass du es nicht für die Magie tun musst, sondern für ganz andere Gründe.“

„Woher weißt du so etwas?“ fragte Mokuba ernst. „Wer bringt dir das alles bei? Durch die Zeit reisen, Dinge deuten. Woher kannst du das?“

„Das liegt in der Natur dessen, was ich bin“ antwortete er und schien dabei etwas traurig zu sein. „Ich erlange Wissen nicht absichtlich. Ich sehe etwas und weiß sofort, wie es funktioniert. Ich höre ein Problem und finde sofort den wahrscheinlichsten Lösungsweg. Schachspielen ist eine Strafe für mich.“

„Wie schrecklich“ entfuhr es Seto.

„Warum? Ich finde das enorm“ sprach Mokuba dagegen. „Niemand kann dich hinters Licht führen und du bist nie im Ungewissen. Du schnippst und kannst mit anderen Leuten durch die Zeit reisen. Das ist Luxus Supreme. Ich wünschte, ich könnte das auch.“

„Das ist ganz furchtbar“ war die Meinung seines großen Bruders. „Dein Leben wäre völlig unspannend, du kennst jedes Geheimnis und du würdest dich für alles verantwortlich fühlen.“

„Das schlimmste ist, dass ich nicht alles beeinflussen kann“ ergänzte Sethan mit matter Stimme. „Ich kenne die Lösung, bin aber nicht in der Lage, sie herbeizuführen. Es wie einen Krimi zu lesen und den Mörder zu kennen, aber nicht in der Lage zu sein, das Opfer zu warnen. Das zermürbt mich.“

Ein solch überraschendes Geständnis, ein solch ungewohnter Einblick in sein Seelenleben, ließ seine Zuhörer verstummen. Sethan sprach nicht viel, erstrecht nicht über sich oder über das, was er war. Er sprach auch nicht über seine Taten, seine Hoffnungen oder seine Wünsche. Der Deal mit dem dunklen Seth musste ein herber Rückschlag für ihn sein, dass es ihn dazu trieb, etwas von sich preiszugeben. Es zermürbte ihn, dass er nicht vorankam.

„Egal, was passiert ist oder was noch passieren wird“ fand Yugi die Worte. Er griff nach seinem Arm und sah ihm tief in die Augen. „Wir lieben dich, Schatz, und wir stehen zu dir. Und wir sind stolz auf dich. Sehr, sehr stolz. Selbst wenn du dich entscheidest, dein Unternehmen für gescheitert zu erklären, sind wir stolz auf deinen Mut und deine Durchsetzungskraft.“

„Ich will doch gar nicht aufgeben.“ Da war es wieder. Sein ‚Lass mich in Ruhe‘-Lächeln.

„Jeder hat Zweifel und Angst zu versagen. Das ist kein Grund, sich zu schämen.“ Er stand auf, umarmte ihn und küsste seine warme Stirn. „Ich wollte dir nicht unterstellen, dass du scheiterst. Ich will nur sagen, dass wir dich lieben. Ganz egal, was kommen mag. So wie du bist. Und wenn du Unterstützung brauchst oder einfach jemanden, bei dem du dich anlehnen kannst, dann sind wir da. Wir sind deine Familie und wir lieben dich einfach um deiner selbst willen. In Ordnung?“

„In Ordnung. Entschuldige, dass ich so was gesagt habe. Ich bin wohl nur etwas müde.“

„Nein, ich finde es eigentlich gut“ bestärkte er ihn. „Es ist ziemlich schwer, an dich heranzukommen. Umso mehr freue ich mich, wenn du dich etwas öffnest. Und das geht Oma Seto und Onkel Moki bestimmt ebenso.“

„Bestätigt“ nickte Mokuba und Seto sah seinen Enkel liebevoll an.

„Hört auf. Das ist mir unangenehm.“ Auch wenn er entgegen seines Vortäuschens sichtlich berührt war, dass man sich sofort um ihm kümmerte. Er brauchte nur unbedacht etwas fallen lassen und wurde bereits in die Arme geschlossen.

Das fühlte sich gut an - stand jedoch seinem Vorhaben entgegen. Er wollte gar nicht, dass man ihn so eng in die Familie schloss. Er kannte sein Schicksal und er wusste, wenn er es erfüllte, würde er seiner Familie viele Tränen bringen. Also stellte er sich gegen seine Gefühle und entschied sich für die Vernunft. Er wusste, dass seine Familie ihn liebte, doch es wäre vernünftiger, wenn sie es nicht täte. Er wollte nicht zulassen, dass sie ihn zu sehr liebten. Denn dann konnten sie ihn nicht gehen lassen, wenn es erst so weit war.

„Was denkst du?“ fragte Seto und weckte ihn aus seinem Tagtraum.

„Nichts“ lächelte er müde.

„Du machst ein trauriges Gesicht. Ich sehe doch die Sorgenfalten auf deiner Stirn.“

„Was für ein Glück, dass du mich nicht lesen kannst“ Er griff seinen Orangensaft. „Du würdest auch nur sehen, dass ich etwas Schlaf brauche.“

„Aber erst wird anständig gegessen“ beschloss Yugi und gab Hannes eine Geste, die ihn fragte, wann es etwas zu essen gäbe. Der zeigte eine volle Hand hoch. „Noch fünf Minuten. So lange könnt ihr noch wach bleiben, oder? Hannes und ich haben uns heute wirklich viel Mühe gegeben.“

„Wenn du meinst“ murmelte Seto und senkte die Augen. Das allein verriet wie dankbar er war, doch er wollte es nicht so offen zeigen.

Er blickte erst auf als die Damenriege am Nebentisch zu kichern anfingen. Nicht allzu laut, doch Seto weckte das plötzliche Geräusch. Er hatte auch schnell ausgemacht, was die Frauen so erheiterte. Einen wie Marik hatten sie nämlich noch nicht oft gesehen. Mit seinem hellen Haar, der dunklen Haut und den violetten Augen stach er ja auch sehr aus der Masse heraus. Eigentlich schade für ihn, dass er den Großteil seines Lebens in einem unterirdischen Grab verbrachte. Er hatte Schlag bei den Mädchen und fände sicher leicht ein paar Freuden, welche über Geheimnishüterei hinausgingen.

„Heeeyyyy! Marik!“ freute Mokuba sich und tappelte ihm auch schon entgegen.

„Hallo!“ grüßte auch der gut gelaunt, stellte seinen Kleidersack neben die Tür und schloss Mokuba in den Arm. „Geht’s euch gut?“

„Klar. Wie geht’s dir?“ Er nahm den Seesack wieder auf und geleitete ihn zu den anderen, wo er zuerst Yugi begrüßte.

Er nahm dessen Hand und küsste sie in einer kurzen Verneigung. Doch dann schloss auch Yugi ihn in den Arm und gab ihm einen Wangenkuss. „Schön, dich wiederzusehen. Hattest du eine gute Reise?“

„Da Noah mir einen Privatjet geschickt hat, ja natürlich“ antwortete er und grüßte Seto mit einem Handschlag. „Eraseus. Schön, dich gesund wiederzusehen.“

„Ebenso.“ Auch er umarmte und drückte ihn kurz. „Du siehst gut aus.“

„Danke. Ist etwas ungewohnt, mal wieder Stadtkleidung zu tragen“ gab er zu und strich sein kurzes Shirt glatt. Und auch blaue Jeans trug er im Grab nicht zu häufig.

„Ihr kennt euch wahrscheinlich noch nicht“ meinte Yugi und wies auf Sethan. „Marik, das ist Sethan. Ninis Sohn.“

„Ich weiß. Ich habe schon einiges von dir gehört“ lächelte er und hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Marik Ishtar. Vielleicht kennen wir uns ja aus der Zukunft.“

„Bedauerlicherweise ja.“ Sethans Blick verfinsterte sich und er erwiderte auch die Begrüßungsgeste nicht. Er blieb einfach stur sitzen und funkelte ihn an.

„Bedauerlich?“ schaute er überrascht. „Oh je. Werde ich etwas tun, was dich verstimmt?“

„Das hast du gerade, Grabwächter“ zischte er und erhob sich so plötzlich, dass er den Stuhl umstieß. „Ich stehe weit über den Pharaonen und dennoch hältst du es für richtig, mich als Letzten zu begrüßen, obwohl du genau weißt, wer ich bin?“

„Ich …“ Marik war genauso überfahren wie die anderen. Solch ein rüdes Kennenlernen hatte er nicht eingeplant.

„Außerdem habe ich dir nicht gestattet, mich zu duzen! Du solltest auf die Knie fallen und nicht mir die Hand hinhalten wie jedem Dahergelaufenen!“

„Ich … tut mir leid.“ Also kniete er sich schnell nieder und senkte den Kopf. Sethan hatte ja Recht, aber Marik war es mittlerweile gewohnt, den Pharaonen freundschaftlich zu begegnen. Dass Sethan so auf die Etikette bestand, hatte er nicht vermutet. „Bitte entschuldigt meine Unhöflichkeit, Gottkönig Sethan. Bitte erlaubt“ bat er und hob seine offene Hand. „Bitte erlaubt mir, Eure Hand zu küssen.“

„Nicht mal die Füße. Sieh zu, dass du mir aus dem Weg gehst, solange du hier bist.“ Er drehte sich um und ging. „Ich gehe schlafen.“ Und verschwand mit schnellen Schrittes die Treppe hinauf.

Und hinterließ pure Verwirrung.

„Was denn?“ giftete Mokuba zur Seite. Natürlich guckten die anderen Gäste aufgescheucht herüber. „Macht’s Spaß andere Gespräche zu begaffen?“

Schnell wandten alle ihre Blicke ab und widmeten sich wieder ihrem Essen, den Getränken oder anderen Sachen.

„Steh auf“ bat Yugi und half ihm auf die Beine. „Alles in Ordnung?“

„Herrje, das habe ich nicht gewusst“ antwortete er und richtete seinen irritierten Blick zur Treppe. „Das war wirklich dumm von mir.“

„Ach was, du hast gar keine Schuld“ stritt Yugi ab. „Eigentlich ist Sethan gar nicht so aufbrausend. Ich weiß nicht, was das gerade war.“

„Vielleicht habe ich ihm in der Zukunft irgendetwas getan“ vermutete er und kratzte sich am Kopf. „Ich hätte ihn aber wirklich zuerst begrüßen müssen. Da hat er schon Recht.“

„Er hat aber trotzdem kein Recht, dich so anzufahren“ meinte Mokuba.

„Aber das … das war doch schon ich, oder?“ Er checkte seine Kleidung und strich sich das Haar zurück. „Oder hat mein Yami irgendwas getan, was ich nicht mitbekommen habe?“

„Nein, das warst schon du“ erwiderte Seto und verschränkte nachdenklich die Arme. Warum nur tickte Sethan plötzlich so aus? Das passte überhaupt nicht zu ihm. Er wirkte überhaupt nicht launisch - und Seto wusste genau, wie man sich fühlte, wenn die Stimmung plötzlich umschwang und alle verwirrte.

„Hätte mich trotzdem nicht gewundert“ erklärte Marik den dreien. „Malik und ich haben uns vor ein paar Tagen gestritten und seitdem redet er nicht mit mir. So eine kleine Rache traue ich ihm schon zu.“

„Nein, du warst du selbst. Das hätten wir gemerkt und Sethan auch.“

„Ich entschuldige mich für ihn“ bat Yugi und richtete den Stuhl wieder auf. „Eigentlich ist Sethan gar nicht so. Ich werde mal mit ihm sprechen.“

„Nein, lass. Er hatte doch Recht. Ich muss mehr auf meine Stellung vor ihm achten. Das ist sein gutes Recht.“

„Dennoch sieht ihm so etwas nicht ähnlich. Er ist eigentlich ein freundlicher, stiller Junge und nimmt Standesunterschiede nicht so ernst. Ich sehe mal nach ihm.“

„Bitte setz dich“ bat Seto, während Yugi sich auf den Weg nach oben machte.

„Wo sind denn die anderen alle?“

„Die sind überall verstreut“ erzählte Mokuba. „Noah ist natürlich mal wieder arbeiten. Eigentlich sind nur wenige zuhause. Yami und Finn sind oben und Tato und Spatz auch. Der Rest ist irgendwie gone with the wind.“
 

Yugi war Sethan gleich nachgelaufen und fand ihn am Ende des Flures. Dort saß er am Fenster und stützte die Stirn in die Hand. In sein Zimmer konnte er ja nicht und um rauszukommen, musste er durch die Gaststätte oder aus dem Fenster springen.

Langsam ging er auf ihn zu, setzte sich neben ihn und seufzte tief, bevor er einen Arm um ihn legte. „Was ist los, hm?“

„Nichts“ antwortete er kurzatmig.

„Nach nichts sah das aber nicht aus. Du bist doch sonst ein eher ruhiger Mensch. Marik war nicht absichtlich respektlos.“

„Er vergisst, dass er nur ein Diener ist“ sprach Sethan und stierte den Boden an. An seinen Schläfen pochten die Adern und seine Mundwinkel zuckten. Er schien wirklich erbost zu sein.

„Das ist doch aber kein Grund. Marik ist unser Freund. Er gehört quasi zur Familie.“

„Ich mag ihn nur einfach nicht. Das ist alles.“

„Du kennst ihn doch gar nicht.“

„Ich kenne ihn aus der Zukunft. Das reicht mir.“

„Hat er denn da irgendwas getan, was dich so sauer macht?“ Darauf erhielt er keine Antwort. Ein bisschen kam es Yugi vor als würde er mit dem sturen Seto sprechen. Aus dem war manchmal auch nur schwer eine Antwort herauszupressen. Und wenn dann waren sie einsilbig. „Sethan, was ist los mit dir? So habe ich dich ja noch nie erlebt.“

„Wie denn auch? Ihr kennt mich doch gar nicht. Niemand kennt mich.“

„Ich kenne dich insofern, dass ich weiß, dass das da unten nicht du selbst warst.“

„Doch, das bin ich. Genau das bin ich.“ Er stand auf und blickte Yugi wütend aus seinen mystischen Auge an. „Darf ich nicht auch mal böse werden, Opa? Ist das verboten?“

„Nein, natürlich nicht. Aber das zeigt mir, dass du Sorgen hast.“

„Warum meint ihr immer gleich alle, dass ich Sorgen habe? Nur weil ich mal schlecht drauf bin? Ich habe seit Tagen nicht geschlafen, muss mit eigenwilligen Göttern verhandeln und mir dann auch noch gefallen lassen, dass man mich wie einen dummen Jungen behandelt? Ich bin das Schicksal der Erde, da wird mir doch wohl ein Mindestmaß an Respekt und Distanz zustehen! Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt!“

„Sethan“ sprach Yugi mit sanfter Stimme und sah ihn liebevoll an. „Du hast in allem Recht, was du sagst. Wenn du etwas von uns brauchst dann bitte, ich bitte dich aus ganzem Herzen, bitte sage uns etwas. Lass uns an dir teilhaben. Ich kann nur etwas für dich tun, wenn ich weiß, was du brauchst. Wenn du dich nur ein ganz kleines bisschen uns gegenüber öffnen würdest … wir wollen dir doch nichts böses.“

„Wenn du etwas für mich tun willst, dann sorge einfach dafür, dass mir dieser Grabwächter vom Leibe bleibt. Ja?“ Er hielt Yugi noch einen Moment fest in seinem Blick. Dann drehte er sich herum, ging den Flur hinauf und öffnete die Tür zu seinem Zimmer. Die machte er auch nicht wieder zu, sodass Yugi aus dem Inneren noch eine Tür zuschlagen hörte. Sethan war nun also doch auf sein Zimmer gegangen.

Schweren Herzens und ebenso besorgt ging Yugi ihm nach und fand Yami mit Finn erwartungsgemäß im Bett. Über die plötzliche Invasion waren beide etwas verwundert und so saß Yami neben Finn, der sich notdürftig mit einem Laken bedeckte.

„Hey Yugi“ grüßte Yami und zeigte kurzatmig, weil ziemlich zerwuschelt auf die geschlossene Tür. „Was war denn das?“

„Wenn ich das wüsste“ seufzte er und lehnte sich an den Rahmen. „Sorry für die Störung. Finn.“

„Schon gut“ meinte der und durchkämmte mit den Fingern sein schwitzig rotes Haar, welches Yami in ein wildes Wirrwarr verwandelt hatte.

„Ist ihm was über die Leber gelaufen?“ wollte Yami weiter wissen. „Wir können auch zu Finn gehen, wenn wir ihn stören.“

„Lieb von dir, aber ausnahmsweise bist du mal nicht schuld. Ich wollte euch auch nur kurz sagen, dass Marik eben angekommen ist.“

„Ah, meine Schriftrollen sind da!“ freute er sich und hopste aus dem Bett. „Finn, du bist fertig, oder?“

„Atemu!“

„Ach, ist doch nur Yugi“ lachte der hob seine Hose vom Boden auf. „Runde drei eröffnen wir heute Abend, okay?“

„Wo nimmst du nur die Kondition her?“ Der arme Finn sah völlig fertig aus. Die Knutschflecken an Yamis Körper und die Kratzspuren auf Finns Schultern wiesen auf ein wildes Intermezzo hin. Doch im Gegensatz zu ihm bekam der alte Pharao so schnell nicht genug. „Yugi, sag mir doch mal, ob das normal ist bei ihm.“

„Das Wort normal sollte man in Verbindung mit ihm meiden“ schmunzelte er. Er sah sich den halbbedeckten Finn einen Augenblick an und dachte sich, dass er da auch schwach werden könnte. Sex mit ihm war sicher heiß und aufregend. Kein Wunder, dass Yami sich in ihn verguckt hatte. Die beiden passten gut zusammen und Yami brauchte immer jemanden, der zwar viel Quatsch mitmachte, aber ihn vor Übermut schützte. Hoffentlich hielt das mit den beiden lange. Yami sah glücklich aus und seine Augen leuchteten, wenn er seinen Geliebten ansah. Finn war das Beste, was ihm passieren konnte.

„Wir kommen gleich runter“ versprach Yami und schmiss seinem Lover die Box mit Tüchern aufs Bett. „Gleich nachdem wir geduscht haben. Nicht wahr, Finni?“

„Klingt nach Runde drei“ befürchtete er und traf Yamis funkelnden Blick.

„Hmmm, weiß ich nicht … warum habe ich mir eigentlich überhaupt die Hose wieder angezogen?“ grinste er und zwinkerte Yugi zu. Natürlich bedeutete das noch mindestens einen Gongschlag.

„Ist gut. Wir warten unten mit dem Essen auf euch.“ Yugi schloss die Tür hinter sich und entschied, Sethan erst mal in Ruhe zu lassen. Wenn er sich abgeregt hatte und wieder aus dem Zimmer kam, würde er es nochmals versuchen. Wenn er so abblockte, kam er ja auch nicht voran.

„Papa?“ Er hörte Tatos Stimme hinter sich und sah ihn aus dem Zimmer kommen. Er trug nur eine halb geschlossene Jeans. Ein Indiz, dass auch er sich mit seinem kleinen Geliebten zurückgezogen hatte.

„Na, Tatolino?“ schmunzelte Yugi. „So leicht bekleidet am helllichten Tage?“

„Ich bin auch nur ein Mann“ brummte er und lehnte die Tür hinter sich an. „Was war das hier für ein Krach? Hast du dich mit Sethan gestritten?“

„Nicht so richtig.“ Er wartete bis Tato ihn erreicht hatte und sich nebenbei eine Zigarette anzündete. Darüber musste Yugi versteckt grinsen, denn eigentlich versuchte er noch immer, sich das Qualmen abzugewöhnen. Nur leider stichelte Phoenix jedes Mal nach, sodass er begann, heimlich zu rauchen. Jedenfalls heimlich vor Phoenix. „Pass nur auf, dass Spatz die Schachtel in deiner Hosentasche nicht findet.“

„Ich weiß ja, dass er meine Klamotten durchsucht, bevor er sie wäscht. Das bin ich noch von dir gewohnt. So habe ich meine Kippen damals auch vor dir versteckt“ tat er das ab und lehnte sich mit verschränkten Armen und Kippe im Mund ans Treppengeländer. „Also, was ist los?“ Dann drehte er seinen Kopf in Richtung Stufen, blieb einen Moment so und stieß weiße Luft aus seiner Nase. „Hier riecht es nach Sand und altem Holz. Und Duschgel von Kaiba Niveau. Niveau benutzt doch von uns eigentlich niemand … außer Marik.“

„Gute Nase trotz Zigarette. Marik ist eben angekommen.“

„Ach so. Hast du Yami bescheid gesagt?“

„Natürlich. Sagst du ihm auch gleich hallo?“

„Yami oder Marik?“

„Spitzfindig wie dein Vater.“

„Werde ich wohl“ murmelte er und atmete langsam den Qualm aus. „Und was war jetzt zwischen dir und Sethan?“

„Zwischen uns beiden eigentlich nichts. Sag mal, du kennst ihn doch besser als ich.“ Er trat näher zu Tato heran. Nur für den Fall, dass fremde Ohren in der Nähe waren und sein Flüstern mithörten. „Weißt du etwas davon, dass er und der Marik aus der Zukunft sich gestritten haben? Oder ob irgendwas zwischen ihnen vorgefallen ist?“

„Er kann Marik nicht leiden“ antwortete er mit gesenkter Stimme. „Wenn möglich, geht er ihm aus dem Wege.“

„Und warum? Gibt es dafür einen Grund?“

„Ich weiß es nicht genau. In unserer Zeit ist Marik ja wesentlich älter und hat auch schon die Familienführung an Zehara abgetreten. Wenn Sethan etwas mit den Ishtars zu bereden hat, wendet er sich an sie. Wie gesagt, er geht Marik aus dem Wege.“

„Und … wer ist Zehara?“

„Zehara Ishtar ist die Tochter von Malik.“

„Malik?“ Na, wenn das keine Überraschung war. „Ausgerechnet der hat Nachwuchs?“

„Man soll es kaum glauben, aber er hat tatsächlich eine Frau gefunden, die ihn ertrug“ erklärte Tato und zerblies die Asche seiner Zigarette in so feinen Staub, dass sie mit dem Luftzug fortgetragen wurde. Aufgrund fehlendem Aschenbecher. War eben ein großer Vorteil, wenn man den Wind kontrollierte. „Sie hieß Imame und stammte von eingeborenen Wüstennomaden. Sie war mit einem ihrer Verwandten verheiratet, einem Cousin oder Onkel. Vielleicht sogar einem Bruder. Die Familienverhältnisse waren da nie geklärt. Weil ihr Stamm sich seit Jahrhunderten von der Zivilisation fernhielt, war Inzest natürlich ein großes Problem und sie brachte drei behinderte Söhne zur Welt. Ich kenne die Geschichte auch nur aus ihrer Erzählung, aber zwei der Jungen starben nach wenigen Wochen und der dritte war wohl so schlimm entstellt, dass man ihn und seine Mutter für verflucht hielt. Man war eben abergläubisch. Sie wurde von ihrem Stamm verstoßen und in der Wüste zurückgelassen. Dort hatte sie allein natürlich wenig Überlebenschance und als sie keine Muttermilch mehr hatte, verdurstete ihr Sohn innerhalb kurzer Zeit. Marik fand sie in der Nähe der Grabruine und hatte natürlich Mitleid mit ihr. Er nahm sie mit, eines ergab das andere und so fand zwar nicht er die Frau fürs Leben, aber eben sein Yami. Und ihr Pharaonen habt gern eingewilligt, dass Imame in die Familie Ishtar einheiratet. Yami hat sogar ein altes Trauungsritual abgehalten. Er hat sie als körperlich und geistig rein anerkannt und ihre Mitgift in Form von selbstgewebten Gewändern akzeptiert. Und sie hat ihren Eheschwur in alten, ägyptischen Worten auswendig gelernt, um ihre Dankbarkeit zu zeigen.“

„Wie romantisch“ lächelte Yugi. Sein Yami als Trauender, glaubte man das?

„Leider starb Imame kurz nach Zeharas Geburt an einem Schlangenbiss“ erzählte Tato seine Geschichte weiter. „Die Diener fanden sie zu spät und das Gegenmittel wurde zu spät verabreicht. Ich habe sie selbst kennengelernt und kann sagen, sie war eine sehr zurückgezogene, fast devote Frau. Bei ihren Erfahrungen kein Wunder. Doch trotz allem empfand ich ihre Freundlichkeit nicht als gespielt und sie hatte großen Respekt vor unserer Familie und meinte ihren Treueschwur wahrlich ernst. Malik und sie liebten sich und waren unglaublich stolz auf ihre gemeinsame Tochter. Besonders Imame, da Zehara weder entstellt noch krank war. Sie wusste also, dass sie nicht verflucht war und das nahm ihr eine große Last vom Herzen. Zehara sieht ihrer Mutter sehr ähnlich, aber hat das zähe, raue Wesen von Malik geerbt. Mit ihr ist nicht gut Kirschen essen, aber sie ist eine gerechte und treue Wächterin.“

„Gut zu wissen, dass die Linie der Ishtars weitergeführt wird“ meinte Yugi. „Auch wenn ich ja mehr auf Marik gesetzt hätte.“

„Na ja, Marik ist ewig Single geblieben. Ich glaube, er ist zwar etwas traurig darüber, aber gleichzeitig auch sehr erleichtert, dass Malik an seiner statt für einen Erben gesorgt hat. So spielt das Leben.“

„Glaubst du, dass Sethan deshalb nicht mit Marik zurechtkommt? Weil nicht er, sondern Malik die Linie fortführt? Ich meine, eigentlich ist Malik ja keine richtige, eigene Person. Er ist ja mehr so etwas wie …“

„Wie ein Seelensplitter, der sich durch einen Millenniumsgegenstand verselbstständigt hat“ führte Tato mit Yugis Pause fort. „Ich weiß, Malik ist der einzige Yami, der aus seinem Hikari geboren wurde und nicht umgekehrt. Aber ich glaube nicht, dass es daran liegt. So diskriminierend ist Sethan nicht und er akzeptiert Zehara als vollwertiges Oberhaupt. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was da bei ihm aushakt. Wenn er Marik begegnet, wird er ganz angespannt und wenn man ihn anspricht, geht er hoch wie eine Bombe. Ich weiß nicht, was Marik an sich hat, was Sethan so ausrasten lässt.“

„Habt ihr Marik mal gefragt?“

„Natürlich, aber er weiß es auch nicht. Er behandelt Sethan sehr respektvoll. Als er noch klein war und wir bei den Ishtars zu Besuch blieben, hat Marik sogar mit ihm gespielt. Er hat ihm beigebracht, seinen Namen zu schreiben. Er hat ihm das Reiten beigebracht und die Kunst der Meditation. Auch alte Gesänge und Gebete. Sethan war früher als Kind viel und gerne im Grab zu Besuch. Er verbrachte fast alle Schulferien in Ägypten. Aber dann hat er irgendwann angefangen, sich von uns abzukapseln. Mit Marik hatte er damals noch eine Weile Kontakt. Er war für ihn ähnlich wie ein Vater oder ein großer Bruder. Doch irgendwann hörte das auch auf und als Marik mit ihm das Gespräch gesucht hat, ist er auf Ablehnung gestoßen. Seitdem reagiert Sethan sehr empfindlich darauf, wenn man ihn nach seinen Gefühlen und Gedanken befragt. Er spricht nicht gern über sein Innenleben. Manchmal bricht es aus ihm heraus, aber genauso schnell ist es wieder vorbei. Und so aggressiv reagiert er nur auf Marik. Wir können es uns auch nicht erklären. Und Sethan vielleicht auch nicht.“

„Und damit gebt ihr euch zufrieden?“

„Du glaubst nicht, was wir alles versucht haben.“ Er löste seine Pose und nahm die Zigarette aus dem Mund. „Du erlebst Sethan doch. Wenn man ihm zu nahe kommt, macht er einen Rückzieher. Früher als Kind war das niemals so. Er war ein Junge wie jeder andere. Vergnügt, neugierig, aktiv, ein bisschen frech. Wie Jungs eben sind. Aber in der Pubertät, hat er sich zurückgezogen. Sobald ihm klar wurde, wer sein Vater ist, wurde er zum Einzelgänger. Ich habe es bei ihm als Freund versucht, als Onkel, als Bruder. Mama genauso und selbst Sareth. Wir haben denselben Schöpfer, aber er distanziert sich von uns. Von uns allen. Ich weiß, dass er uns liebt und er weiß, dass wir ihn lieben. Aber er hat irgendwann zugemacht. Mehr kann ich dir auch nicht sagen.“

„Das macht mich traurig“ seufzte er und strich nachdenklich über das Geländer. „Es muss doch einen Weg geben, wie wir an ihn rankommen.“

„Hey! Ihr steht hier ja immer noch rum!“ Yami hüpfte mit nassen Haaren und frischer Kleidung aus seinem Zimmer und sah die beiden dort stehen. Besonders Tato so sexy ganz oben ohne. „Na, Tato?“ raunte er schmunzelnd.

„Grm“ machte der misstrauisch. Yamis gute Laune sollte man meiden.

„Das ging ja schnell. Hast du schon fertig ‚geduscht‘?“ gestikulierte Yugi mit deutlicher Frage.

„Ein bisschen schrubb schrubb und die Welt sieht rosiger aus. Zumindest für meinen Lover“ grinste er und klopfte Tato auf die Schulter. „Na, Großer? Du siehst auch aus als hättest du gut ‚geduscht‘.“

„Du musst es ja wissen, Yami.“

„Dicker?“ Phoenix steckte suchend den Kopf zur Tür heraus und fragte sich, wo sein Schatzi so lange blieb.

Tato jedoch wurde sehr nervös. Wohin mit der fast aufgerauchten Zigarette? Ihm fiel nichts besseres ein als sie Yami in die Hand zu drücken und dann ein unschuldiges Gesicht zu machen. „Hallo Kleiner“ grüßte er und winkte hastig.

Phoenix konnte ohne Brille kaum sehen und so blinzelte er und erkannte doch zumindest die Umrisse. „Hallo.“

„Hallo!“ riefen auch Yugi und Yami im Chor.

„Spatz, geh doch wieder rein. Ich komme gleich nach.“

„Hier riecht es verbrannt. Hast du geraucht?“

„Nein, ich habe mich nur mit Papa unterhalten.“ Es war richtig süß anzusehen wie Tato sich ertappt fühlte. Die beiden Pharaonen mussten ein offenes Grinsen unter Schmerzen verbergen.

Phoenix kramte irgendwo hinter sich und zog dann überraschend seine Brille hervor. Er setzte sie zwar nicht auf, aber blickte notdürftig hindurch. Den Fehler in diesem Bild fand er aber schnell. „Ati, rauchst du?“

„Ja … ist ne dumme Angewohnheit geworden“ log er sofort und drehte die Zigarette in der Hand. „Nach dem Duschen habe ich irgendwie das Bedürfnis eine zu rauchen. Aber wirklich nur nach dem Duschen.“

„Aha.“ Phoenix guckte zwar so als wäre er davon nicht ganz überzeugt, aber nahm dann doch die Brille wieder runter.

„Geh doch wieder rein, Kleiner, bevor du dich erkältest. Ich bin sofort bei dir.“

„Na gut.“ Er zog den Kopf zurück und lehnte die Tür wieder an.

Und Tato seufzte tief durch. Das war knapp gewesen. Gerade noch entwischt.

„Du bist mir was schuldig, Tatolein.“ Und kam vom Regen in die Traufe. Yami etwas schuldig zu sein, war nicht wesentlich besser.
 


 

Chapter 18
 

Am nächsten Tag kam Seto vom Büro nach hause und erfuhr von Nini, dass Papa jetzt auch im Büro arbeitete. Eine interessante Info. Ließ jedoch viel Interpretationsspielraum. Jedenfalls war er um das Wissen reicher, dass Yugi sich in dem neuen, kleinen Hausbüro befand, welches noch bis vor kurzem ein Abstellraum von Hannes gewesen war. Nur was Papa Yugi dort machte, das fragte er sich dann noch immer.

Also ging er nachsehen. Zwei verhältnismäßig kleine Schreibtische - verhältnismäßig klein für Seto und Noah jedenfalls - standen sich gegenüber, seitwärts vor dem Fenster zur Straße. In der Mitte als grober Sichtschutz eine Zimmerpalme. An den Wänden keine Bilder und hinter der Tür eine kleine Couch mit einem winzigen Glastischchen. Ein Mini-Büro, das noch nicht ganz fertig war. Und in der schmalen Sitzecke fand er eine Ansammlung von Menschen.

Yami und Finn hatten sich das Sofa genommen. Mokeph und Nika nutzten die beiden Bürostühle und Yugi teilte sich mit Marik den Fußboden. Damit war der kleine Tisch vollständig umrundet. Die kleine Glastischplatte sah man kaum, so vollgepackt mit Schriftrollen. Einige waren geöffnet, andere noch geschlossen. Etwas abseits standen zwei alte, schwere Holzkisten. Wunderschön mit Gold beschlagen und roter Farbe verziert. Eine davon geöffnet, doch innen lagen weniger Schriftrollen als auf dem Tisch. Zusätzlich hatte jeder einen Notizblock und ein paar bunte Stifte. Sah irgendwie wie die Gruppenarbeit damals in der Schule aus.

„Sieht ja aus wie Projektwoche inner Schule“ brummte er und kam langsamen Schrittes zu der arbeitenden Gruppe.

„Hey! Unser Miesepeter!“ freute Yami sich und streckte die Arme aus. „Komm her und gib deinem Lieblingspharao einen fetten Knutscher!“

„Nichts anderes hatte ich vor.“ Er kniete sich herab, kniete sich weeeiiiit herab und küsste seinen Yugi, seinen echten Lieblingspharao.

„Hi Liebling.“ Er gab ihm noch einen Kuss und streichelte sein langes, gezopftes Haar. „Wie war dein erster Arbeitstag?“

„War nur Übergabe. Ist ja Sonntag.“ Das sollte zum Wiedereinstieg auch genügen. Heute hatten ihn seine beiden Kollegen erst mal auf den aktuellen Stand der Dinge gebracht und erst morgen würde er dann wieder ‚richtig‘ arbeiten. „N’Abend“ grüßte er dann auch kurz die anderen. „Was macht ihr da?“

„Wonach sieht’s denn aus?“ wies Yugi auf den vollgepackten Tisch.

„Sage ich doch. Wie Projektwoche inner Schule.“

„So ähnlich ist das auch“ erklärte Yami. „Wir sehen die Schriftrollen durch, die Marik mitgebracht hat.“

„Ach, für Nikolas.“ Stimmt, da war ihm etwas zu Ohren gekommen. Yami hatte Marik und die Aufzeichnungen herbestellt, um Informationen zu sammeln. In der Hoffnung, dass es für Nika doch noch einen einfacheren Weg gab als eine erneute Hormontherapie und Operationen. Er nahm wahllos eine Rolle zur Hand und überflog die uralten Schriftzeichen, welche sehr filigran auf das dicke Papyrus gepinselt waren. „Das sind aber keine Originale.“

„Nein, das sind die Abschriften“ erklärte Marik. „Die Originale sollen das Grab nicht verlassen, aber du weißt, dass wir von fast allen Schriften Kopien besitzen. Das hier ist nur der Teil, den wir noch nicht auf Mikrofilm übertragen haben. Einen großen Teil habe ich digital mitgebracht.“

„Wir haben gerade erst angefangen“ erzählte Mokeph und legte seine Rolle beiseite. „Die Informationen sind nicht wirklich eindeutig. Vieles wissen wir heute besser und vieles ist zu ungenau beschrieben als dass wir es sofort deuten könnten.“

„Allein der Wortlaut ist ungewohnt. Die sind echt uralt. Selbst die Abschriften sind historisch“ ergänzte Yugi.

„Und was habt ihr jetzt vor?“

„Wir durchsuchen die Schriften nach Stichworten und sortieren eventuelle Informationen aus. Den brauchbaren Teil behandeln wir dann nochmals eingehender.“

„Und was macht ihr beide?“ blickte er zu Finn und Nika. Die beiden konnten weder Hieroglyphen lesen noch welche die so uralt waren.

„Wir suchen die da“ zeigte Finn zur Seite. Dort stand ein Flipchart und einige wenige Schriftzeichen mit Edding aufgemalt. „Wir können es zwar nicht lesen und allzu produktiv ist das sicher auch nicht, aber wenigstens beim Suchen nach bestimmten Symbolen können wir ein bisschen helfen.“

„Tja“ zuckte Nika mit ihren breiten Schultern. Sie würde sicher gern mehr tun, aber letztlich war sie wenig nutze.

„Ich finde das schon sehr viel“ tröstete Seto und legte die Rolle zurück. „Ich würde auch nicht viel mehr machen als das Schriftbild abzuscannen. Alles zu lesen würde ja ewig dauern.“

„Finn hat schon einige gefunden“ erzählte Yami mit sichtlichem Stolz.

„Ja, wir sind alle furchtbar stolz auf Finn“ schmunzelte Marik.

„Was grinst du denn so?“

„Nikolas hat vier Symbole mehr gefunden als ich“ erklärte Finn. Nur für den Fall, dass Yami das schon wieder - ja wohl schon wieder - vergessen hatte.

„Ich glaube an dich, mein Sahnetörtchen. Du holst Nika schon noch ein.“

„Bitte?“

„Nikolas“ warf sie nochmals nachdrücklich ein.

„Ah, manno!“ schimpfte Yami, raufte sich das Haar und sah sie deprimiert an. „Ich habe mich jetzt aber an Nika gewöhnt. Kann ich nicht weiter Nika sagen?“

„Wenn er sich im Moment nicht wie Nika fühlt, musst du das auch akzeptieren“ meinte Seto, klappte die langen Beine zusammen und setzte sich zwischen Yugi und Marik auf den Boden. Dass er Marik dabei einen halben Meter wegdrängelte, ignorierte er einfach. „Er wird schon irgendwann wieder weiblich werden.“

„Da bin ich mir im Moment nicht so sicher“ seufzte die schweren Mutes. „Selbst wenn ich die Kraft fände, das alles noch mal durchzumachen, weiß ich nicht, ob ich das noch mal will. Die Prozedur an sich kommt mir im Moment genauso schlimm vor wie die Männlichkeit. Allein die ständigen Hormonspritzen - als hätte man Diabetis. Und … und der Sex ist … nun ja … auch im Moment eher nicht vorhanden. Ich weiß, dass Tristan auch darunter leidet und das … das macht es nicht gerade leichter.“

„Du musst dich nur an das erinnern, was du willst.“ Seto sah sie verständnisvoll an und legte wohl eher unbewusst seinen Arm um Yugis Taille. „Auf ein Ziel zu streben, ist niemals einfach. Es ist immer schwer. Umso schwerer je höher das Ziel. Aber wenn du es geschafft hast, dann genießt du nicht nur deinen Erfolg, sondern auch deinen Stolz. Denn du hast es dir verdient. Etwas zu erkämpfen lässt dich höher schätzen, was du besitzt. Und deshalb wirst du es so oder so schaffen. Sobald du die Kraft hast, den ersten Schritt zu machen. Und Tristan wird dir folgen. Weil er dich begleitet, auf jedem Weg.“

Nika senkte den Blick und nahm sich seine Worte zu Herzen. Er lag richtig und er wusste sehr genau, was es bedeutete, sich etwas zu erkämpfen. Besonders seelische Ziele. Immer und immer und immer wieder aufs Neue. Und leider auch wie es sich anfühlte, seinen Partner mit den eigenen Problemen zu belasten. Dennoch fehlte ihr derzeit die Kraft, um auf ihr Ziel zu streben.

„Schöne Ansprache“ lächelte Yami und löste die sinnschwangere Stimmung. „Aber vielleicht finden wir ja auch einen leichteren Weg.“

„Und weißt du, was am meisten zählt?“ bestärkte Yugi die tränennahe Nika. „Tristan und Feli lieben dich. Für sie macht es keinen Unterschied, wie dein Körper beschaffen ist. Und das ist doch mehr wert als alles andere.“

„Das zu sagen, ist leicht für dich. Du hast keine Ahnung wie es ist, dein Spiegelbild nicht ansehen zu können. Ich habe das Gefühl, die Leute starren mich an und merken, dass ich falsch bin.“

„Ich weiß gut wie das ist, sich nicht ansehen zu können. Ich bin auch unzufrieden mit mir.“ Da horchten sogar die anderen auf. So gerade heraus hatte Yugi das noch nie gesagt. Jedenfalls nicht zu ihnen. „Du entsprichst wenigstens dem gängigen Schönheitsideal. Ich nicht. Mich halten die Leute wegen meiner Größe und meines weichen Gesichts immer noch für einen Teenager. Wenn du mit jemandem darüber reden willst, wie unzufrieden man mit dem eigenen Körper sein kann, dann tu’s mit mir. Mir geht es schon das ganze Leben so und im Gegensatz zu dir, kann ich nichts daran ändern lassen. Weder mit Hormonen noch mit Operationen.“

„Ihr redet beide großen Unsinn!“ schimpfte Seto und blickte beleidigt zwischen beiden hin und her. „Ihr seid beide wunderschön. Nikolas ist ein fantastisch aussehender Mann und Yugi hat auch einen tollen Körper. Das Problem besteht allein in eurem Kopf! Seid ihr eigentlich wahnsinnig, euch so fertig zu machen? Seid lieber dankbar, dass ihr eine treue Familie habt und bei Gesundheit seid!“

„Amen, Seto!“ rief Yami und hob die Arme. „Endlich haust du mal auf den Tisch!“

„Und wie!“ WUMMS! Und da hatte er doch glatt mit der Faust auf den Tisch gehauen, sodass ein paar Schriftrollen herunter kullerten. Nur Glück, dass die Glasplatte das aushielt.

„Was ist denn hier los?“ Der große Tato kam herein und sah nur wie sein Vater den Tisch vermöbelte.

„Seto redet Tacheles“ erklärte Yami. „Willst du auch mitmachen? Ist das der Geruch von Cheesburgern?“

„Vier Stück. Wie bestellt.“ Er trug zwei Papiertragetaschen mit dem großen, gelben M im Logo herein. Die eine öffnete er und warf Yami einen braunen Papierbeutel herüber, aus dem es wunderbar ungesund duftete.

„Und meine Chickennuggets?“

„Auch vorhanden.“ Er kramte und weil er mittlerweile am Tisch angekommen war, reichte er ihm eine zweite Papiertüte rüber.

„Und wo sind die Getränke?“

„Spätzchen kommt gleich. Hier. Ein doppelter ohne Tomaten und ein McChicken.“ Er drückte Mokeph ebenfalls einen Papierbeutel in die Hand und griff sich schon den nächsten um alle Gaben an die hungrigen Mäuler zu verteilen. „Für Nikolas zwei Hamburger mit extra Gürkchen und große Pommes. Papa ein Hamburger und ein Chicken Wrap und Finn ein Tasty Bacon, große Pommes und ChickenNuggets.“

„Wie praktisch doch ein gutes Gedächtnis sein kann“ meinte Yami und hatte vor allen anderen schon den Mund voll. „Unwoschi scheschts …“

„Erst schlucken, dann sprechen. Wie beim Sex, Yami“ bat Tato und reichte auch Marik sein Paket herunter. „Ich habe dir einen mit Fisch geholt, einen Chicken Wrap, Cheeseburger und Pommes. Wenn du was anderes willst, können wir tauschen.“

„Ich bin nicht so wählerisch. Danke schön.“ Er öffnete seinen Beutel und roch erst mal den guten Duft heraus. Er genoss dieses ungesunde Zeug. „Haaaaaach, das Laster der Zivilisation.“

„Ja, in der Wüste gibt’s weder Systemgastronomie noch Pizzadienste“ schmunzelte Yugi. Fast Food war für Marik also ein echtes Erlebnis.

„Was für ein Glück“ meinte der und packte seinen Wrap aus. „Wenn’s das bei uns gäbe, wäre ich wahrscheinlich doppelt so breit. Ich liebe Fast Food.“

„Du musst dich echt bei Yugi bedanken“ riet Mokeph. „Normalerweise boykottiert er Schnellrestaurants.“

„Nur weil ihr sonst nichts anderes mehr esst“ erwiderte der und entwickelte seinen Hamburger. Kam selten vor, aber anlässlich von Mariks Besuch aß sogar er mit.

„Und was ist mit mir?“ fragte Seto und sah hungrig an Tato hinauf.

„Als ich losgefahren bin, wusste ich nicht, dass du auch noch kommst.“

„Na super.“ Er hatte auch Hunger und jetzt musste er den anderen beim Essen zusehen. Und die konnten ihm kaum etwas abgeben, weil überall Tier drin war. Wie gemein.

„Du kannst meine Pommes haben“ bot Finn großherzig an und reichte sie ihm über den Tisch. „Fleisch isst du ja nicht, oder?“

„Laschma“ schmatzte Yami. „Dado vaascht ihn do nua.“

„ASATO!“

„Ach Mama“ grinste er und hockte sich zu ihm. „Du hast doch einen Mann, der immer an dich denkt. Da.“ Er ließ die letzte Tüte auf seinen Schoß fallen und stand wieder auf. Er ging um Marik herum und aufs Sofa zu.

Dort erdolchte er Finn mit einem wildblauen Blick, der mit dieser zudringlichen Geste erst mal nichts anzufangen wusste. Doch Yami griff ihn am Ärmel, schob Nika auf dem rollenden Bürostuhl zur Seite und zog seinen verwirrten Geliebten mit sich auf den Boden. Darauf nahm Tato wortlos auf dem Sofa Platz und packte sein Futter aus. Die anderen hatten sich daran gewöhnt, doch für Finn waren diese Machtspielchen noch ungewohnt. Drachen machten sich grundsätzlich auf den besten Plätzen breit. Am liebsten auf Sesseln. Und wenn es keine Sessel gab, dann stand ihnen ein anderes, gemütliches Polstermöbel zu. Auf dem Boden saßen Drachen nur, wenn ihr Partner sich dafür entschied und sie ihm Gesellschaft leisten wollten. Doch hätte Yugi auf dem Sofa gesessen oder wäre nicht anwesend, hätte auch jemand für Seto weichen müssen. Und so zog Yami gewohnheitsmäßig um, ohne groß Theater zu machen. Er musste mit Tato keine Rangkämpfe ausfechten. Und dass der gerade einen Strohhalm in die Zimmerpalme steckte, bemerkte auch nur Finn, aber traute sich nicht, ihn danach zu fragen.

„Oh! Donuts und Muffins!“ Das erfreute Setos Herz und schneller als Yugui gucken konnte, hatte er schon den halben Donut mit Schokolade im Mund.

„Tato?“ blickte der dafür seinen Sohn scharf an. „Hatte ich nicht etwas von Salat gesagt?“

„Ja, hattest du.“

Seto stellte um des Friedens Willen die Plastikschale mit grünem Salat auf den Tisch. Doch zuerst aß er den Nachtisch. Den Süßkram hatte Tato dann folglich eigenmächtig hinzugekauft. Wenn Yugi nicht wäre, würde Seto sich entweder gar nicht oder nur von Süßigkeiten ernähren.

„Asato! Manno!“ Phoenix kam rein und hatte es nicht ganz so leicht. Er trug gleich drei Paletten mit jeweils vier Bechern und musste sehr aufpassen, um nichts zu verschütten oder nass zu werden.

„Kommst du auch endlich mal“ meinte der nur und biss in seinen Burger. „Duein Whuap wör gall.“

„Warum muss ich die Getränke schleppen? Du hast doch viel größere Hände!“

Marik griff nach oben und nahm dem armen Jungen die ersten Becher ab. Das war ja auch gemein, ihn so voll zu packen. Und Seto nahm die anderen Paletten und stellte sie auf dem Tisch ab, wo Yugi und Nika die Rollen beiseite schoben.

„Asato! Ich rede mit dir! Warum muss ich die Becher tragen?“

„Getränke sind Weibersache“ schmatzte er völlig ungerührt, bevor er den nächsten Happen abbiss.

„OH! HALLO?! Die sind total unhandlich und du trägst nur faul die beiden Tüten!“

„Hättescht ja schweima laufen gönn. Dann hascht du deine Pommesch glei wieda abdrehniert.“

„Du kannst so fies sein“ kommentierte Mokeph.

Tato grinste und schluckte ungeachtet von Phoenix‘ bösem Blick den halben Burger herunter. „Deswegen liebt er mich ja so.“

„Pass lieber auf, dass ich dir nicht vor lauter Liebe den Milchshake über den Kopf gieße.“

„Das würdest du nicht tun“ forderte er seinen Kleinen heraus.

„Willst du wetten?“

„Brauche ich nicht. Du bist zu lieb für so was.“

„Und du bist ein Pascha.“

„Ja ja. Komm her.“ Er rutschte weiter und klopfte neben sich aufs Polster. „Ich habe dir den besten Platz freigehalten.“

Phoenix seufzte schwer und kletterte über Marik, um zu Tato aufs Sofa zu kommen. Wahrscheinlich fragte er sich in den letzten Tagen, was er sich nur bei diesem Typen gedacht hatte. Wenn Tato gute Laune hatte, war er schwer zu ertragen. Eigentlich nur mit Humor, einem dicken Fell und einem starken Geduldsfaden. Doch wenn er dann wie selbstverständlich seinen Arm um ihn legte und von seinen Pommes anbot, dann konnte er dem Drachen nicht böse sein. Denn eigentlich war er ja auch ein Lieber und Süßer.

„Das sind alles unsere?“ fragte Marik, bevor er sich versehentlich am falschen Becher bediente.

„Die vier da sind Milchshakes.“ Das roch Seto sofort, griff einen heraus und stellte ihn Yugi ungesehen hin. „Mit Erdbeere.“

„Und der Rest ist Cola“ ergänzte Tato. „Außer die mit ohne Strohhalm, da ist Fanta drin. Und der kleine Becher vom Bioladen ist ein Smoothie für Nini. Don’t touch.“

„Wo sind denn die Kinder?“ fragte Seto zwischen Muffins und Milchshake. „Ich habe nur Nini getroffen.“

„Heute ist doch Straßenfest. Die anderen sind da alle hin.“

„Und Nini als einzige nicht?“

„Nein, sie hatte ein bisschen Bauchschmerzen vorhin, also habe ich sie zuhause gelassen.“

„Von Bauchschmerzen hat sie mir gar nichts erzählt.“ Seto legte sein Essen hin und musste das jetzt erst mal klären. Seine kleine Prinzessin hatte Bauchschmerzen und er war nicht informiert worden? „Warum hast du mich nicht angerufen?“

„Ich kann dich doch nicht jedes Mal anrufen, wenn mal jemand ein Wehwehchen hat.“ Er küsste ihn auf die Wange und nahm seinen Milchshake. „Ich vermute, sie hat nur zu viel Brause getrunken. Ein Küsschen, eine Wärmflasche und jetzt spielt sie schon wieder ganz fröhlich. Guckst du?“ Er wies nach hinten und als Seto sich zurücklehnte, konnte er sie sogar auf dem Spielplatz schaukeln sehen. Ihre üblichen Gefährten waren zwar nicht da, aber zwei Nachbarsmädchen leisteten ihr Gesellschaft. Nini war niemals lange allein.

„Ist es nicht sehr gefährlich, sie draußen allein zu lassen? Gerade wo Feli knapp einer Kindesentführung entkommen ist und wir noch immer nicht wissen, ob die Typen noch mal wiederkommen?“

„Loki ist draußen und passt auf deine Tochter auf“ versicherte Finn. „Sie hat ein sehr feines Gespür für Gefahr. Sie riecht es, wenn jemand mit Absichten in ihre Nähe kommt. Egal ob die Absichten gut oder böse oder magisch oder normal sind. Was das angeht, lege ich meine Hand für sie ins Feuer.“

„Bei Feuermagiern kein großes Ding“ grinste Yami.

„Außerdem spielt Nini sehr gern mit Loki“ erzählte Yugi seinem Liebling. „Nur das mit dem Stöckchenholen, das kriegen die beiden irgendwie nicht gebacken.“

„Tatsächlich? Warum?“

„Weil Nini nicht so richtig versteht, dass Loki kein Hund ist.“

„Darüber hinaus habe ich einen Schutzzauber um das Haus, die Terrasse und den Spielplatz gelegt“ beruhigte Tato und schlürfte nebenbei seine Fanta. „Wenn sich in diesem Umkreis jemand näher als einen Meter einem unserer Kinder nähert, wird er automatisch gelähmt. Da kann nichts passieren.“

„Ist das nicht etwas overdone?“ fragte Seto skeptisch. „Wenn Nini draußen an einem Gast vorbeiläuft und ihn anrempelt, wird doch ein Unschuldiger gelähmt.“

„Das ist keine Lähmung, welche dauerhaft oder bewusstseinsraubend wirkt. Es äußert sich wie eine Art Niesen. Man ist einfach kurz unfähig, sich zu bewegen. Die Betroffenen merken es gar nicht, denn wenn sie diesen Zustand nicht mit Nini in Verbindung bringen, löst sich der Zauber sofort wieder. Und falls doch, dann klingeln unsere Alarmglocken.“

„Aha.“ Er nahm das so hin, aber rührte noch einen ganzen Moment nachdenklich in seinem Milchshake, bevor er dann doch fragte. „Woher kennst du solch intelligente Zauber?“

„Von dir“ lächelte er lieb. „Du hast es mir nur noch nicht beigebracht.“

„Ach so. Du bist ja älter als ich“ erklärte er sich selbst. Tato war allein durch sein Alter erfahrener. Seto hatte nun vielleicht eine Kraft erlangt, die er selbst noch nicht kannte, aber das bedeutete nicht, dass er auch jeden Zauber kannte. Auch er musste noch viel lernen und das konnte er erst, wenn Sethos gesund genug war, um ihn anzuleiten. „Ward ihr bei Sethos heute?“ fragte er und legte das zusammengeknüllte Papier seines Muffins auf die Spitze eines Milchshakes.

„Ja, zur Mittagszeit“ antwortete Mokeph. „Es geht ihm viel besser. Er ist heute sogar ein Stück geschwommen.“

„Ich weiß. Ich war heute Morgen und eben dort“ antwortete Seto und packte den nächsten Donut aus. „Sagt mal, ist Sethan eigentlich mit zum Straßenfest gegangen?“

„Schön wär’s“ seufzte Yugi und entfernte kommantarlos den Müll, den Seto auf die Getränke gelegt hatte. In den letzten Tagen legte Seto ständig Dinge an die merkwürdigsten Orte. „Als wir heute Mittag zu Sethos gefahren sind, ist er geschmeidig nach hause gefahren. Und jetzt sitzt er in seinem Zimmer.“

„Er ist wahrscheinlich immer noch sauer auf mich.“ Marik legte seinen Fishburger hin, der ihm nun nicht mehr schmeckte. Dass Sethan seine Anwesenheit so kategorisch mied, verletzte ihn.

„Nimm dir das nicht zu Herzen“ versuchte Tato ihn aufzuheitern. „Er ist eben ein bisschen schwierig.“

„Von dem, was ihr mir vorher erzählt habt, aber nicht“ argumentierte er dagegen. „Ihr sagtet doch, er ist ein ruhiger, freundlicher Mensch, der nie laut wird.“

„Außer bei dir“ ergänzte Mokeph.

„Ja, außer bei mir“ bestätigte er und schob sein Essen weg. „Es tut mir ja leid, dass ich nicht auf die Etikette geachtet habe, aber wenn er mich meidet, habe ich ja nicht mal Gelegenheit, mich zu entschuldigen. Und ich würde mich gern entschuldigen.“

„So schlimm war’s doch aber auch nicht“ meinte Seto, der seine klebrigen Finger abschleckte. „Seine Reaktion war übertrieben.“

„Das sagt ja der Richtige“ meinte Yami. „Ihr Drachen seid doch die Meister im Übertreiben.“

„Sind wir nicht!“

„Hast du ne Ahnung! Wenn ich Finn nicht vom Sofa gezogen hätte, hätte dein Sohn Hackfleisch aus ihm gemacht! Wobei …“ Er schmunzelte Finn an als der gerade genüsslich in seinen Burger beißen wollte. „Finni wäre die perfekte Fleischeinlage für ein Sandwich.“

„Ähm …“ Er ließ sein Essen sinken und musste sich irgendwas schlagfertiges einfallen lassen. Doch so leicht war das nicht, wenn der Pharao ihn so notgeil anfunkelte. „Nenn mich bitte nicht Finni. Das macht nur Loki, wenn sie mich ärgern will.“

„Wer sagt denn, dass ich dich nicht auch gern etwas ärgere, Finni?“ Er schmiegte sich an seine Seite und streckte sich bis zum Ohr hoch. „Du bist so süß, wenn ich dir zu viel werde.“

„Yami, lass den armen Finn am Leben“ lachte Yugi. Denn sein Opfer machte gerade einen etwas hilflosen Eindruck. Richtig mitleidserweckend.

„Ich habe ihm das Leben vor einem dominanten Drachen gerettet. Dafür sollte ich doch wohl etwas sexuelle Dankbarkeit bekommen, oder?“

„Um noch mal darauf zurückzukommen“ warf Tato etwas ruhiger ein. Ob er Finn zu Hackfleisch gemacht hätte, würden sie ja nun nicht mehr geklärt bekommen. „Sethan ist kein Drache wie wir. Er übertreibt eigentlich selten bis niemals.“

„Umso mehr ein Grund, dass wir uns darum kümmern“ argumentierte Yugi.

„Aber wie soll man sich um jemanden kümmern, der das restriktiv ablehnt?“ fragte Seto und lutschte an seinem halben Muffin. Anscheinend hatte er gar keinen Hunger. Er genoss nur.

„Genauso wie wir dich geknackt haben“ lächelte Yugi seinen Liebsten an. „Einfach immer da sein, nicht nachgeben und keinen Druck ausüben. Und hoffen, dass er irgendwann darauf anspringt.“

„Und was haben wir im letzten halben Jahr gemacht?“ fragte er ernst zurück. Sie waren bereits die ganze Zeit an Sethan dran und versuchten eine engere Bindung aufzubauen. Doch er zog sich zurück, sobald man ihm zu nahe kam. Dann floh er in unverbindlichen Smalltalk, lächelte freundlich und entschuldigte sich bei der nächsten Gelegenheit.

„Yugi hat Recht“ meinte auch Yami. „Dein Enkel ist schwerer zu knacken als du. Er ist irgendwie genau wie …“

„Wie wer?“ schaute Seto zu ihm herüber.

„Wie der Seth“ fuhr er vorsichtig fort. „Vielleicht liegt es daran, dass er nicht wie ihr oder wir geschaffen wurde, sondern gezeugt. Wenn auch auf eine recht ungewöhnliche Weise, aber Seth hat ihn körperlich gezeugt. Deshalb stecken in ihm keine Drachensinne und keine irdische Magie. Und sein Verhalten erinnert mich sehr an seinen Vater. Auch Amun ist an seinen Bruder nie wirklich herangekommen. Sie haben sich geliebt und waren ihr ganzes Leben zusammen. Und doch hat Amun niemals wirklich gewusst, was in seinem Bruder vorgeht. Bei Sethan ist es dasselbe. Wir sind so viel mit ihm zusammen und wir sind uns unserer Liebe zueinander gewiss. Und doch wissen wir nicht, was in in ihm vorgeht.“

„Aber Atemu, Nini ist seine Mutter“ gab Mokeph zu bedenken. „Ich glaube nicht, dass er irgendetwas unbedachtes tun würde. Auch nicht im Affekt. Wir dürfen ihm nicht das Gefühl geben, Angst vor ihm zu haben.“

„Du meinst davor, dass er im Affekt jemanden erschlagen könnte?“

„Zum Beispiel. Ich glaube aber nicht, dass er zu so etwas fähig wäre.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher“ sprach Tato mit gesenkter, vertraulicher Stimme. Und dabei warf er einen vielsagenden Blick zu Marik.

„Du glaubst, er könnte mich erschlagen?“ fragte der bestürzt.

„Ich habe Sethan niemals so launisch erlebt wie bei dir. Du hast irgendetwas an dir, was ihn aus dem Konzept bringt.“

„Aber er würde Marik nicht absichtlich wehtun oder sogar töten“ argumentierte Phoenix streng dagegen. „Vielleicht ist er in in unserer Zeit nicht gut auf ihn zu sprechen, aber dann geht er solchen Situationen aus dem Weg. Er würde niemanden töten. Niemals.“

„Ja, vielleicht hast du Recht.“ Er legte seinem kleinen Geliebten die Hand auf den Kopf und griff sich mit der anderen einen Milchshake. „War nicht so gemeint.“

„Denk nach, bevor du jemandem so was unterstellst, Dicker.“

„Also wenn jemand unberechenbar ist, dann ja eher du“ sagte Yami dem Milchshakeschlürfer auf den Kopf zu.

„Ich?“ guckte der verwundert zurück. „Ich bin berechenbarer als mir lieb ist.“

„Wenn ich da so an den Sato-Teil denke, finde ich dich imponderabler als alle anderen.“

„Was bin ich, Atemu? Imponderabel?“

„Natürlich. Seto hat zwar die Angst- und die Schmerz-Gestalt, aber auch die kann man mit etwas Erfahrung einschätzen. Sato aber …“

„Nein, das meinte er nicht“ lachte Yugi. „Du hast gerade ein lustiges Fremdwort benutzt.“

„Imponderabel? Warum? Kennt ihr das Wort nicht?“

„Also, ich weiß schon, was das heißt“ meinte Seto und legte den Papierball zurück auf einen der Becher.

„Also, ich nicht“ meldete Mokeph an.

„Das bedeutet nichts anderes als unberechenbar“ half Marik. „Ergibt sich aber auch aus dem Zusammenhang.“

„Habe ich von Sari gelernt“ erklärte Yami. „Die ist ein wandelndes Fremdwörterbuch.“

„Also, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich jetzt unbeliebt mache“ sprach Nika vorsichtig. „Aber ich fand Sato faszinierend.“

„Kriegst bei Gelegenheit einen Sato-Fanbutton“ schmatzte Tato.

„Und du?“ fragte sie vorsichtig. „Du bist kein Sato-Fan, oder?“

„Ich bin nur Fan von mir selber“ antwortete er ungerührt und pulte die Tomate aus seinem doppelten Burger. „Sato ist mir zu hart, zu rücksichtslos. Und wenn er die Überhand gewinnt, muss ich mich hinterher immer bei irgendwem entschuldigen. Aber Asato ist auch nicht besser. Der ist mir zu lieb, zu abhängig von anderen. Dafür hat er aber ein Talent dazu, um die Ecke zu denken. Sato hingegen löst Probleme auf die direkte und schnelle Art. Wäre schön, wenn sich beide mal einigen könnten. Will jemand Tomate?“

„Du kommst mir in den letzten Tagen aber recht ausgeglichen vor, mein Schatz“ lächelte Yugi ihm sanft zu. „Ist das so?“

„Trotz all dem Trouble schon. Ja.“ Er stapelte seine Tomate auf Setos Papierball, klappte seinen tomatenfreien Burger wieder zu und drückte das Ganze platt. Mokeph wollte gerade fragen, was das sollte, aber da sprach er schon seinen nachdenklichen Satz weiter. „Wahrscheinlich musste ich erst abstürzen, bevor ich aufstehen konnte. Und damit ich erkenne, dass ich noch etwas habe, wofür es sich zu leben lohnt. Etwas, was mein Leben ausfüllt. Ich war ein Idiot, mich so gehen zu lassen.“

„Du hast getrauert. Das kann dir niemand zum Vorwurf machen“ meinte Yugi.

„Ich habe meiner Tochter einiges verbaut und meiner Familie große Sorgen bereitet. Außerdem war ich weder für Nini noch für Sethan so da, wie ich es als Priester hätte sein müssen. Aber das ist jetzt vorbei und ich strenge mich an, um es wieder gut zu machen. Irgendwann muss es ja mal vorangehen. Ich denke, das ist auch das, was Risa mir sagen würde.“

„Das freut uns“ nickte Yugi stolz. „Wir wussten, dass du irgendwann zu dir zurückfindest.“

„Hat fast zehn Jahre gedauert“ seufzte er und sah seinen kälter werdenden Hamburger nachdenklich in Angriff. „Ich habe mich hängen lassen und in Selbstmitleid gebadet. Das darf nicht noch mal passieren.“

„Wird es sicher nicht“ grinste Yami und klaute sich die aussortierte Tomate von dem Getränke-Papierball-Turm. „Dafür sorgt unser Spätzchen schon, dass du bei dir nichts hängen lässt.“

„Häh?“ machte der Spatz. Spätestens jetzt konnte er nicht mehr folgen.

Und Tato grinste nur vielsagend. Er hatte das sehr wohl verstanden.

„Na ja“ erklärte Yami noch mal extra. „So wie ich das mitverfolgt habe, hast du ihn schon zwei Mal zum Stehen gebracht.“

Tato aber hob seinen Arm und zeigte selbstzufrieden vier Finger.

„Vier?“ staunte Yami. „Ihr seid doch noch gar nicht so lange zusammen.“

„Eben.“ Und das Grinsen kriegte der Drache auch nicht aus dem Gesicht. „Aber du hast uns vorhin in der Waschanlage nicht mitbekommen.“

„IHR REDET ÜBER SEX?!“ Herzlich Willkommen, Phoenix. Jetzt bist du auch dabei.

„Ihr macht es in der Waschanlage?“ freute Yami sich. „In welcher denn?“

„Die neben dem McDonalds. Eine Supreme-Wäsche dauert fünf Minuten. Das reicht vollkommen.“

„Asato!“ schimpfte Phoenix, dessen Kopf gleich platzte. „Ein Gentlemen genießt und schweigt!“

„Ich habe nie behauptet, ein Gentlemen zu sein.“

„Asato!“

„Finn, wir müssen dein Auto mal wieder waschen.“

„Ähm.“ Jetzt kriegte der Pharao auch noch unsaubere Ideen. „Atemu, ich besitze kein Auto.“

„Seto!“

„WHUA!!“ schreckte der hoch und warf glatt seinen dritten Muffin auf den Tisch. „Du sollst mich nicht anschreien!“

„Kauf Finn ein Auto!“

„Finn kann sich selbst ein Auto kaufen.“

„Sei nicht so ein Geizkragen“ schmollte er und kuschelte sich an Finns Seite. „Dann frage ich eben Mokuba.“

„Mokuba verdient kein Geld. Der kann Finn kein Auto kaufen.“

„Aber er weiß Noahs Kreditkartennummern auswendig.“

„Ähm … Atemu …“

„Pscht, Ati unterhält sich“ grinste er zu Finn. „Ich sorge schon dafür, dass du ein Auto kriegst, das wir waschen können.“

„Aber ich …“

„Ich finde schon jemanden“ betonte er und kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Aus irgendeinem Grunde sind die Limits meiner Kreditkarten nämlich runtergesetzt worden.“

„Die sind nicht runtergesetzt, die sind gesperrt“ versuchte Seto genervt zu erklären.

„Und warum bitte hast du meine Kreditkarten gesperrt?“

„Das war ich nicht, das war Noah. Weil DU deine Karten verloren hast.“

„Aber die habe ich doch schon wiedergefunden. Sie waren bei Finn in der Küche.“

„Dann musst du aber auch bescheid sagen! Dann hätte Noah sie nicht sperren müssen.“

„Was hat denn Noah bitte mit meinen Kreditkarten zu schaffen?“

„Yugi, sag ihm, er soll damit aufhören.“

„Lass dich nicht ärgern, Liebling“ lachte der und schenkte ihm einen Kuss auf die Wange. Erst wurde er angeschrien und dann auch noch mit Sachen genervt, in denen er seine Finger nicht drin hatte. Armer Seto. Schweres Leben. „Und Yami“ flüsterte er versteckt zu ihm rüber. „Nimm meinen Wagen. Der ist ganz staubig.“
 


 

Chapter 19
 

Während die anderen fleißig die alten Schriften durchsuchten, war Balthasar gerade auf dem Rückweg vom Joggen. Ewig und ständig nur im Aquarium herumsitzen, war nicht gut fürs Gemüt. Auch wenn Amun-Re ein angenehmer und lustiger Zeitgenosse war, fehlte ihm die Action der Großstadt und der Leistungssport. Zuhause ging er mit seinen Freunden weg, führte seine Freundin aus und hatte vier mal die Woche Fußballtraining. Und hier blieb ihm nur das Joggen, denn solang er nicht nach Blekinge zurückkehrte, konnte er auch nicht ins Fitnessstudio. Jedoch daran zu denken, seinen verlogenen Bruder und dessen noch verlogenerem Stecher zu treffen, dabei verging ihm sämtliche Lust.

Auf den letzten Metern den Hügel hinauf legte er einen Spurt hin. Es tat gut, wenn die Waden schmerzten, die Lungen brannten und der Schweiß sein Shirt tränkte. Es forderte den Körper und erleichterte den Geist. Erst an der Spitze beendete er seinen Run, schaltete den MP3-Player aus und atmete tief durch. Die Sonne brannte auf ihn herab und es wehte kein Wind. Seine salzige Haut glühte und sein Atem stieß sich gequält aus der Brust. Und dennoch gingen ihm die Gedanken nichts aus dem Kopf. Die Welt war ungerecht. Seit vielen Jahren bemühte er sich um ein gutes Verhältnis zu seinem Bruder. Er holte sich Körbe ab, ließ sich beleidigen und akzeptierte, dass er wegen dessen Krankheit immer zurückstecken musste. Alle sorgten sich um ihn, sorgten für ihn, halfen und bemutterten ihn. Und Balthasar war immer der Große, der Starke, der Gute, der auf ihn aufpassen musste. Asato hatte ihm den Vater ersetzt und beschworen, dass er sie beide gleichsam liebte. Er hatte sich sogar dafür eingesetzt, dass Spatz einen Schritt auf ihn zuging und ihn weniger ablehnte. Und wofür? Nur, damit er von allen beiden ausgeschlossen wurde. Er wurde zum Narren gehalten. Schon sein ganzes Leben. Er duckte und nahm sich seines Bruders zuliebe immer zurück. Ertrug allen Spott, ja verteidigte ihn sogar. Und wofür? Dafür dass er ihm den einzigen Mann stahl, den er jemals als Vater respektiert hatte. Es war Asato niemals um ihn gegangen - es ging ihm wie immer nur um seinen armen, kleinen, kranken, schwachen und ach so süßen Bruder! Bruder traf es nicht mal! Geschwister war der richtige Ausdruck! Das Geschwister, welches ihm schon im Mutterleib seine Existenzberechtigung gestohlen hatte! Ohne das Geschwister wäre er ein vollständiger, unabhängiger Magier! Nur weil er den wenigen Platz unterm Herzen seiner Mutter teilen musste, brauchte er nun für jeden Funken Magie ein Medium!

„Scheiße!“ Die Tränen stiegen ihm in die Augen, doch er verbot sie sich. Deshalb brannten sie in seinen Augen wie die Sonne auf seinem Rücken. Doch der Brand in seiner Seele war der einzige, welcher Wunden hinterließ. Immer schon drehte sich alles nur um seinen Bruder. Immer schon. Seit sie auf der Welt waren. Er hatte sich schon immer alles genommen!

„Schöner Spurt.“ Er hatte diese Stimme selten gehört und doch wusste er sofort, wer ihn da ansprach. Er blieb gebückt und sah weiter die Kiesel zu seinen Schuhspitzen an, doch zu wissen, dass er in der Nähe war, stoppte seinen Atem. Alle Gedanken waren mit einem Schlag aus dem Kopf verschwunden.

Er schluckte seine Unsicherheit hinunter und erhob sich langsam. Was sollte er nun tun? Selbst wenn er rannte, würde er nicht entkommen. Den Stab hatte er im Aquarium gelassen und es war rundum auch niemand, dessen Körper er in Besitz nehmen konnte. Und in Seth zu fahren, würde ganz sicher danebengehen.

Auch wenn er seinen Vater fürchtete, bewunderte er ihn doch gleichsam. Er war eine stolze Gestalt wie er vor ihm stand und dem schnöden Kiesweg eine Aura von Heiligkeit verlieh. Das dunkelblaue Gewand in seiner Schlichtheit war prächtig anzusehen. Ebenso prächtig wie der brennende Wüstenhimmel in seinen Augen. Sein männlicher Bart und seine kantigen Züge. Seine stolze Haltung. Der Mann, von dem er die Hälfte in sich trug. Der Mann, den er am meisten ersehnte und den er am meisten fürchtete.

„Was willst du?“ Letztlich war es egal, ob er wegrannte oder ihn angriff - Seth würde ihn so oder so erwischen. Nur ängstlich zugrunde gehen, dafür war er zu stolz. Deshalb flippte er die Kopfhörer aus den Ohren und sah ihn trotzig an.

„Du musst mich nicht so bedroht ansehen, Balthasar. Ich bin nicht hier, um Hand an irgendjemanden oder irgendetwas zu legen.“ Er sprach mit ruhiger Stimme und hielt seine Arme von der langen Kutte verdeckt vor dem Bauch. Doch sein schulterlanges Haar glänzte magisch im heißen Sommerlicht und umrahmte sein edles, dunkelfarbiges Gesicht.

„Und was willst du dann von mir, Seth, wenn du nichts weiter vorhast?“

„Ich bin aus zwei bis drei Gründen erst jetzt zu dir gekommen. Normalerweise rechtfertige ich mich nicht, jedoch bist du mein Sohn, oder du wirst es sein, und deshalb will ich offen mit dir sprechen.“

„Ach, plötzlich bin ich dein Sohn, ja?“

„Nun ja, du wirst es sein. Daran können weder du noch ich jetzt noch etwas ändern“ sprach er mit einem leicht bemitleidenden Lächeln. „Ich komme jetzt erst zu dir, weil ich zuvor mein Umfeld ordnen musste, um mich nun dir zu widmen.“

„Und unter ‚Umfeld ordnen‘ verstehst du wahrscheinlich ein paar Leute umbringen, ja? Oder doch eher ein paar Kleinstädte niederbrennen?“

„Verständlich, dass du das so siehst, da du meinen Standpunkt nicht verstehst. Andererseits ging es mir in den letzten Wochen gesundheitlich schlecht, sodass ich nicht die Kraft hatte, mit dir zu sprechen.“

„Scheiße, wenn man ne Kraft nutzt, die einem nicht zusteht, was?“

„Und zuletzt der vielleicht wichtigste Grund“ sprach er ohne Groll fort. „Ich denke, du hast dich genug von Asato als deiner Vaterfigur gelöst, sodass dein Gehör nun offen für mich ist.“

„Was zwischen mir und Asato ist, hat nichts, aber auch überhaupt gar nichts mit dir zu tun. Dass du es weißt!“

„Du musst nicht schimpfen. Ich verstehe deine Gedanken und Gefühle auch so.“ Er klang erstaunlich versöhnlich, ja gar verständnisvoll. „Ich habe nicht viel Kenntnis darüber, inwiefern wir uns in deiner Zukunft kannten, aber ich bin …“

„Ist ‚gar nicht‘ ne ausreichende Auskunft?“ giftete er zurück. Natürlich freute er sich, dass sein Vater endlich Interesse an ihm zeigte. Jedoch wusste er auch weshalb das so war. „Du hast dich einen Dreck um mich geschert und letztlich willst du auch gar nicht mich, sondern meinen Körper. Was erwartest du denn, was ich jetzt tun soll? Luftsprünge machen? Dir um den Hals fallen? Mich freuen, dass mein eigener Vater mich killen wird?“

„Es ist eine schlechte Entschuldigung, doch ich hatte selbst nie einen Vater“ sprach er mit zärtlicher Stimme und blickte ihm mild in das schwitzende Gesicht. „Mein Vater sah mich als Schande seiner Familie. Er ignorierte mich und seine fehlende Wertschätzung konnte auch all die Liebe meiner Mutter nicht auffüllen. Es war ähnlich wie bei dir. Eine Mutter, die ihren Sohn über alles liebt. Und einen Vater, den man nur aus der Ferne sowohl fürchtet wie auch ersehnt.“ Er löste seine Pose und strich sich das Haar hinters Ohr. „Es ist wahr, dass ich dich gezeugt habe, um später einen Körper zu haben, in welchem ich weiterleben kann. Ich will dir auch nicht verschweigen, dass dies auch weiter so ist, denn ein kräftiger, magischer Körper wie deiner ist der einzige, welcher meine Macht aushalten kann. Doch wenn du denkst, ich würde dich nur deines Körpers wegen begehren, so bist du einer Fehleinschätzung aufgesessen. Ich habe niemals behauptet, ich würde nicht für deine Seele sorgen. Ihr seht mich als grausam an, vielleicht scheint es tatsächlich so, doch mir fehlt Kaltschnäuzigkeit, um meinen Sohn der Verdammnis preiszugeben. Du bist mein Sohn, genau wie Narla meine Tochter ist. Keines meiner Kinder würde ich jemals leichtfertig für mich selbst opfern.“

„Und Spatz?“ fragte er vermeintlich treffsicher und ballte die Fäuste bei dem Gedanken an seinen Bruder. „Phoenix, dein drittes Kind. Ihn vergisst du anscheinend.“

„Ich denke, das kann ich ruhigen Gewissens“ erwiderte er sanft. „Narla ist bei Drachenjägern und dann bei Drachen aufgewachsen. Sie brauchte mich, um in ein normales Leben zu finden. Und Phoenix hat doch schon immer alles gehabt. Und nun besitzt er Asato.“ Womit er viel treffsicherer einen wunden Punkt in Balthasar fand. „Phoenix braucht mich nicht. Er hat sich einen anderen gesucht als mich. Für ihn war ich niemals wichtig. Anders als für dich.“

„Und ihn du liebst nicht? Obwohl er dein Kind ist?“

„Ich hasse ihn nicht und er ist mir auch nicht gleichgültig. Jedoch sollte man doch zuerst denjenigen lieben, der es mehr braucht. Denkst du nicht?“

„Und du denkst, ich brauche deine Liebe, ja?“

„Das denke ich nicht. Dessen bin ich mir bewusst. Denn du bist mir von meinen drei Kindern am ähnlichsten.“ Es entstand einen Moment Stille. Auch schon weil Balthasar nicht nur über das nachdenken musste, was er hörte, sondern auch weil er sein Herz beruhigen wollte. Er wusste, sein Vater war dem Wahnsinn verfallen und der Feind seiner Welt. Er verkörperte alles, was einen Bösewicht ausmachte. Und doch begehrte er seine Nähe, wollte seinen Zuspruch, sehnte sich nach seiner Anerkennung. Das, was er selbst nicht aussprechen wollte, sprach sein Vater aus. Narla hatte ihre eigene, kleine Familie und war glücklich und ausgefüllt. Sowohl in dieser als auch in seiner Zeit. Und Phoenix hatte sich Asato ausgesucht, der ihn glücklich machen würde in jeder Hinsicht. Nur Balthasar blieb als einziger auf der Strecke. Wurde belogen und hintergangen und ausgegrenzt. Und dann kam sein Vater und sprach genau das aus, was er sich selbst nicht traute.

„Ich weiß, dass du mir misstraust. Und auch dass du meine Moral nicht teilst“ sprach der stolzeste aller Feuermagier mit warmer Stimme. „Dass ich dich jahrelang allein ließ, bedauere ich. Und das obwohl ich es wahrscheinlich auch in dieser Zeit nicht ändern kann. Die Menschen, mit denen ich mich umgebe, sind keine sichere Umgebung für meine Kinder, geschweige denn für einen Säugling. Außerdem fiele es mir schwer, dich von deiner Mutter zu trennen, welche dich über alles liebt und welche du über alles liebst. Dich als Kleinkind zu mir zu holen, wäre zu gefährlich für dich. Du sollst frei aufwachsen und unbeschwert. Bis auf den fehlenden Vater. Doch nun bist du selbstständig in deiner Meinung und in deinen Taten. Ich muss dich nicht mehr beschützen, sondern kann mit dir auf Augenhöhe sprechen. Und deshalb bin ich heute hier.“

„Um mir das zu sagen?“ Er ärgerte sich darüber, doch Seth lächelte über seine zittrige Stimme. Er freute und fürchtete sich gleichermaßen. Es war genau wie damals als er zu ihm kam und ihn mitnehmen wollte. Damals wäre er auch mit ihm gegangen, doch seine geliebte Kimera hatte ihn gebeten zu bleiben. Doch sie war nun nicht hier. Er war hier ganz allein. Und ob er sie jemals wiedersehen würde, war fraglich. Phoenix und Asato durften zusammensein. Aber ob er sein Mädchen vermisste oder sie überhaupt jemals noch mal im Arm halten konnte, kümmerte niemanden!

„Ich bin hier um mich dir anzubieten“ brachte Seth ihm sanftmütig nahe. „Ich sehe wie zerrissen du dich fühlst. Einen Vater zu haben, den man eigentlich hassen müsste. Sowohl moralisch als auch aus eigenen Motiven. Und auf der anderen Seite die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben und der Ungerechtigkeit, die man sich gefallen lassen soll.“

„Du erwartest nicht, dass ich dir jetzt folge wie ein kleines Kind?“

„Nein, du bist nicht mehr klein. Du bist ein stolzer, junger Mann. Du kannst für dich selbst denken und entscheiden“ lächelte er mit warmen Augen. „Ich erwarte rein gar nichts von dir. Doch ich kann dir viel bieten.“

„Und was? Was sollte das sein, wo ich doch gar nichts von dir will?“ Er freute sich und doch konnte er nicht über seinen moralischen Schatten springen. „Du tauchst hier auf und erwartest, dass ich mich unbändig freue? Denkst du, ich kann meine Probleme nicht selbst lösen? Ich brauche dich nicht! Ich habe dich niemals gebraucht! Und das werde ich auch nie! Deine Versprechungen kannst du dir in den Arsch schieben!“

„Dein Argwohn ist verständlich. Ich würde nicht anders reagieren. Dennoch will ich dir sagen, was ich dir sagen will. Allein um meiner selbst willen. Ich biete dir an, dich mit mir zu nehmen. Nicht, um deinen Körper zu stehlen oder dich von meinen für dich perfide wirkenden Ansichten zu überzeugen.“

„Und weshalb dann?“

„Um dich kennen zu lernen. Und um mich kennenlernen zu lassen.“ Er trat ein paar Schritte näher bis sie kaum einen Meter voneinander entfernt standen und sich ihre Blicke trafen. Balthasar fehlte noch ein ganzer Kopf, um wirklich Seths Augenhöhe zu erreichen. „Ich fordere rein gar nichts von dir. Ich erwarte auch nicht, dass du mich liebst. Doch wenn du meine Nähe suchst, werde ich sie dir geben. Ich kann dich aus dieser Starre lösen, in welcher du dich befindest. Du kannst zu mir kommen und hierher zurückkehren, wann immer dir danach ist. Aber meine Einladung, die wollte ich dir überbringen. Mehr nicht.“

„Mehr nicht.“

„Nein, mehr nicht“ versprach er und streckte seine Hand aus. Sanft für er über das verschwitzte Gesicht seines Sohnes.

Der musste an sich halten, um nicht schwach zu werden. Er wollte mit ihm zusammensein, ihn kennenlernen, endlich einen Vater haben. Endlich jemanden, dem er wichtig war. Jetzt, wo sich sowohl Phoenix als auch Asato von ihm abgewandt, ihn ausgeschlossen hatten … stand ihm da nicht auch ein wenig Zuwendung und Anerkennung zu? Oder war das nur ein schwacher Moment, den sein Vater geschickt ausnutzte?

„Ich nutze nur den Moment, in welchem du für mich offen bist“ erwiderte er auf diesen Gedanken. Er legte seine Handfläche an Balthasars Wange, welche ebenso heiß war. „Ich will dir nichts einreden und dich nicht gefangen nehmen. Ich biete dir nur an, auch die andere Seite anzusehen.“

„Ansehen … wirklich nur ansehen?“ Er merkte kaum wie er seine eigene Hand hob und sie auf die seines Vaters legte. Wie lange sehnte er sich danach, ein mal ebenso viel Aufmerksamkeit zu bekommen wie sie sonst sein Bruder bekam. Sein Bruder bekam immer alles, er brauchte nur einmal leidlich dreinschauen. Und er selbst? Er war immer stark und fiel niemandem zur Last. Mit dem Ergebnis, dass man ihn außen vor stellte. Vernünftig musste er sein. Und Rücksicht nehmen. Alle erwarteten, dass er den großen Bruder mimte. Bis auf seinen Vater, der nur auf diesen Moment wartete, da Balthasar ihn unparteiisch anhörte.

Doch er wollte nicht schwach werden und so trat er einen Schritt zurück und entzog sich der väterlichen, heißen Hand. Alles sprach dagegen, ihm zu vertrauen. Er tötete Menschen und in der Zukunft hatte er selbst gesehen wie sein eigener Vater Seuchen und Feuerstürme über die Welt jagte, um den Großteil aller Ungläubigen auszulöschen. Ja, er verbündete sich sogar mit dem zwielichtigen Apophis und wer wusste, was er dem dunklen Seth als Lohn für seine Hilfe versprochen hatte. Nichts gab Anlass dazu, ihm zu trauen.

„Außer diesem kleinen Funken in dir, welcher mir trotz allem vertraut“ antwortete Seth auf diesen unausgesprochenen Gedanken.

„Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht vertrauen. Ich weiß, dass du mich nur gezeugt hast, um meinen Körper zu übernehmen. Und Dante sollte nur dazu dienen, Atemus neuer Körper zu sein. Sag mir nur einen einzigen Grund, warum ich dir trauen sollte?“

„Weil ich kein kinderfressendes Monstrum bin“ antwortete er und der auffrischende Wind lenkte die Aufmerksamkeit auf das Lichtspiel in seinem langen Haar. Wie konnte ein so böser Mann nur so dermaßen imposant sein?

„Du willst meine Seele verdrängen und meinen Körper übernehmen. Das ist nicht gerade etwas, was mich zu dir einlädt.“

„Ich bin ein Mörder, doch ich morde keine Unschuldigen.“ Seine sanfte Stimme floss in Balthsars Ohren. „Ja, ich töte Menschen für die Errichtung einer neuen Zukunft. Doch niemand stirbt umsonst, keine Seele geht verloren. Glaubst du wirklich, dass ich dir, der du mir so ähnlich bist, nicht einen besonderen Platz einräume?“

„Und was genau willst du von mir, Seth?“

„Ich will so viel von dir, wie ich dir im Gegenzug zu geben vermag.“

„Das ist eine ziemlich genaue Antwort. Super.“

„Du hast Recht. Ich an deiner Stelle würde mir nach all dem, was du gesehen und gehört hast, auch nicht trauen.“ Ein Lächeln umspielte seine Mine und in seinen Augen war keinerlei Boshaftigkeit zu erkennen. Als wäre er nicht derjenige, welcher die moderne Menschheit in die Apokalypse führte. „Ich gebe dir mein Wort, dass nichts gegen deinen Willen geschehen wird.“

„Sagte der Hypnotiseur und Gedankenleser.“

„Ich verführe dich nicht mit Magie. Das würdest du spüren“ beruhigte er sanft. „Ich kann dir hier und jetzt nicht alles erklären, doch ich lade dich ein, dir das junge Ankh Athu anzusehen, welches dieser Tage seine ersten Grundmauern zieht. Ich will dich weder für mich anwerben, noch dich listig verführen. Alles, was ich will, ist dir die andere Seite dessen zu zeigen, was du zu kennen glaubst. Und dir die Ehren zuteil werden lassen, welche dir zustehen.“

„Die da wären?“

„Mit Stolz den Namen Pasrahcal zu tragen“ sagte er und ließ seine Worte einige Sekunden wirken, bevor er ihn fragte: „Hat dir jemals jemand gesagt, dass du auch ohne Medium ein vollwertiger Magier sein kannst?“

„Ich fühle mich nicht minderwertig, falls du das meinst!“ Doch in seinem Kopf war ein anderes Bild. Wenn er gekämpft hatte, brach sein Bruder hinterher meist zusammen. Alle scharten sich dann um ihn, um den Kleinen, den Kranken, den Schwachen, der so mutig gekämpft und alles ertragen hatte. Und Balthsar? ER war derjenige, der kämpfte! ER war derjenige, der die Schmerzen während des Kampfes ertrug! ER war derjenige, der im Kampf aufmerksam sein musste und die Verantwortung trug! Und WER bekam die Anerkennung? Phoenix, allein der süße Spatz!

Alles wäre anders, wenn er verdammt noch mal kein Medium bräuchte!

„Ich entspreche vielleicht nicht deinem Weltbild des perfekten Vaters“ sprach Seth mit fester Stimme weiter. „Aber ich kenne das Gefühl der fehlenden Wertschätzung. Denn die meisten verwechseln Wertschätzung mit Mitleid. Dies ist ein Grund, weshalb ich meine magischen Grenzen überwinden und der Mächtigste von allen sein will. Und auch wenn du es verneinst, so weißt du genau, dass es dir ähnlich geht. Man hat dir beigebracht, deine Magie so zu akzeptieren wie sie ist. Und doch stellst du dir vor, wie es wäre, kein Medium zu brauchen. Dann erst würden sie sehen, wer wirklich etwas leistet. Ist es nicht so?“

„Du blickst in meine Gedanken und meine Gefühle. Es ist leicht, mir Zweifel einzureden.“

„Die Zweifel redest du dir nur selbst ein.“ Er ließ noch einen Augenblick Pause und blickte in den Baum am Wegesrand. Dort saß seine Falkendame und beobachtete Balthasar sehr genau. Mit ihren klaren, allsehenden Augen. Wenn er doch nur mit ihr sprechen könnte wie Sareth es konnte. Er würde sie so vieles fragen wollen. Und sie könnte ihm Dinge erzählen, die kein anderer von Seth jemals gesehen hätte.

„Auch wenn du Recht hast“ antwortete er mit zitternder Stimme und entwand sich der verlockend zärtlichen Hand. „Ich werde niemals sein wie du. Ich werde niemals ein Mörder werden. Als ich Asato aus dem Fenster gestoßen habe, habe ich erahnen können, was es für ein Gefühl ist, mit dieser Schuld leben zu müssen. Und das will ich nicht. Ich werde niemals, NIEMALS, einen Menschen morden oder ihm unnötig Schaden zufügen. Ich werde niemals …“

„Und genau deshalb brauche ich dich“ unterbrach Seths warme Stimme. „Du bist der Teil von mir, welcher niemals vom Wege abgekommen ist und es auch niemals wird. Und ich will der Letzte sein, welcher dich beschmutzt. Wie gesagt, bin ich nur hier, um dir meine Einladung zu überbringen. Wenn du bereit bist, dir meine Zukunft abseits von Blut und Terror anzusehen und das zu erkennen, was darüber hinaus entstehen kann, so bist du mir willkommen.“

„Dann willst du mich nicht jetzt sofort mitnehmen?“

„Das würdest du doch gar nicht wollen“ erwiderte er und streckte seinen Arm hinauf. Sofort startete Lela von ihrem Ausguck, segelte fast lautlos zu ihm herab und landete nach einer kleinen Umrundung sicher auf seinem Unterarm. „Wenn du dazu bereit bist, dich mir anzuvertrauen, dann stehen meine Tore für dich weit offen und meine liebste Lela wird dich zu mir führen.“ Er küsste ihren geplusterten Kopf und empfing dafür ein glückliches Gurren. „Denke darüber nach, Balthasar, und tue nur das, was du selbst willst. Und lass dir niemals von jemandem einreden, du müsstest dich verbiegen.“

„Gurruu?“

„Nein, wir gehen jetzt, mein Lieb.“ Seth ließ die Fälkin auf seine Schulter klettern und nickte seinem Sohn anerkennend zu. „Überlege es dir, Balthasar. Phaena Kiqed.“
 


 


 

Chapter 20
 

Erst als die Sonne und die Kinder und viele andere bereits schliefen, fand Seto Zeit, um seinen morgigen Arbeitstag vorzubereiten. Obwohl Noah und Joey ihm eine ausführliche Übergabe gegeben hatten, fühlte Seto sich dennoch als müsse er noch etwas nachholen. Ihn interessierten nicht nur die vorausgesagten Börsenkurse, sondern auch die der letzten Zeit. Auch wenn Noah ihm sagte, dass die Marktlage aus Sicht der KC recht entspannt aussah, war es dennoch Setos eigener Job, das im Auge zu behalten. Für den Laien oder Hobbybörsianer waren so ein paar Prozentpunkte hinter dem Komma nur ein paar Dollar. Aber bei der Masse, die Seto an der Börse besaß, waren diese Hundertstel bereits ein sechs bis siebenstelliger Betrag. Und letztlich fand er auch keine Ruhe zum Schlafen.

Bis spät in die Abendstunden hatten sie Schriftrollen gewälzt und morgen würde man sich um die digitalen Schriften kümmern, welche wesentlich zahlreicher waren. Außerdem sorgte er sich um Sethan und sein absonderliches Verhalten. Sethos war zwar auf dem Wege der Besserung, doch der Handel, den Amun-Re mit seinem Bruder gemacht hatte, sagte Probleme voraus. Zudem hatte Seth, ihr Seth, sich lange nicht mehr bewegt außer dass er mit Apophis paktierte. Seto wusste nicht, ob er seinem Yami nun gewachsen wäre. Er und auch Yugi wollten seine eventuell gewachsenen Kräfte nicht auf die Probe stellen. Auch wenn Tato sicher gern ein kleines Gefecht im Schattenreich abhalten würde, hätte Seto zu große Angst, ihn zu verletzen. Sethos war der einzige, an dem er sich messen konnte und durfte. Und ob er Yamis Verhältnis mit Finnvid guthieß, wusste er auch nicht. In seinem Gefühl gehörte er zu Seth und zu keinem anderen Mann. Jeder schien es zu akzeptieren und auch er versuchte, sich in Verständnis und Akzeptanz zu üben. Dennoch konnte er nicht hinsehen, wenn Yami genüsslich die Augen schloss und einen fremden Mann küsste. Und ihm sagte, dass er ihn liebte. Seto schwieg sich aus, er wollte und durfte es nicht kaputtmachen. Er hatte nicht zu bestimmen, wem Yami sein Herz schenkte. Dennoch fühlte er sich selbst dadurch etwas verraten. Sicher hatte Seth sich verändert und sicher hatte Yami das Recht auf Liebe. Doch wenn Seto sich nun auch veränderte … würde Yugi sich dann auch …? Und zu alledem hatte Nini auch noch Bauchschmerzen gehabt. Sorgen in Hülle und Fülle und das in allen Formen und Farben. Wie konnte er da Schlaf finden? Da konnte er ebenso gut Währungszeichen von Asien nach Europa nach Amerika schieben. Das machte keinen Unterschied außer auf dem Bankkonto.

Mit einem Seufzen nahm er einen Schluck seines kaltgewordenen Tees und klickte in ins Mailpostfach. Noah und Joey hatten es während seiner Abwesenheit bearbeitet, doch seit heute Mittag auch nicht mehr. Die meisten Absender und Betreffs kannte er und brauchte sie eigentlich nicht mal lesen, um zu wissen, was drin stand. Nur zwei der Mails erregten Aufmerksamkeit.

>Ich dachte, mein Spamfilter wäre zuverlässiger.< Also musste er wohl auch noch das Virenprogramm nachziehen. Er klickte sich in die Steuerung seiner Sicherheit und stutzte nun wirklich. >Warum ist der Absender als zuverlässig eingestuft?< Das sollte bei einer Absenderadresse wie ‚info-service@searchinghearts.com‘ eigentlich verhindert sein. Am Programm konnte es nicht liegen, so etwas ging nur manuell kaputt zu machen. Wer also zum Geier hatte so einen Absender als zuverlässig eingestuft? Er öffnete die Historie und brach über der Tastatur zusammen. >Natürlich. Der Köter.< Joey hatte den Absender genehmigt. >Jetzt surft der auch noch in Kontaktbörsen über meine Adresse. Das gibt Rache.< Wenn Joey ihn schon mit Liebes-Spam ärgerte, dann durfte er ihm doch wohl auch an die Kandarre fahren. Wenigstens etwas Ablenkung von den kleinen und großen Sorgen.

Joeys Passwort zu knacken, dürfte nicht allzu schwierig werden. Das war ja nur ne Partnerbörse und nicht das FBI. Wobei zweiteres auch kein Hindernis wäre, aber auch nicht halb so lustig.

Er ging ins interne KC-Netzwerk, verfolgte die heutigen Aktivitäten von Joeys IP-Adresse und fand sich schnell auf der Anmeldeseite von SearchingHearts wieder. >Na warte, du räudiger … Nutzername voreingestellt, wie blöd muss man sein?< Der Nick ‚WonderboyInBlond‘ war vorgemerkt. Das konnte nur Joey sein. >Und jetzt suche, Programm. Suche.< Seto startete sein Passwortprogramm und beobachtete den Ladebalken. So ein blödes Passwort hatte sein Sicherheitsprogramm schnell geknackt. Er konnte nicht mal seinen Becher austrinken, da blinkte bereits ein grünes Häkchen neben dem Eingabefeld. >JoeyIsTheBest1a … was für ein kreatives Passwort.< „Na fein.“ Er loggte sich also ein und kam auf Joeys Profil. >Na, wenigstens hat er kein Foto eingestellt.< Das wäre ein gefundenes Fressen für die Presse. Stattdessen ein kleiner Steckbrief.

Geschlecht: Männlich >Wer’s glaubt.<

Alter: 29 >Hundejahre?<

Größe: 1,78m >Winzling.<

Gewicht: 75 Kilo >Dachte, er wäre fetter.<

Haarfarbe: Blond >Offensichtlich.<

Besonderheiten: Reinbraune Augen, weiße Zähne, sportlicher Körperbau >Das Wort Reinbraun gibt es doch gar nicht.<

Beruf: Leitender Angestellter, Selbstständig. >Was denn nun? Angestellt oder selbstständig? Idiot.<

Familienstand: Ledig, 1 Kind >LEDIG? Ob Narla das weiß?<

Hobbys: Ausgehen, Konsolen-Spiele, Lesen, Sprachen (Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch, etc.) >Seit wann kann der lesen und was heißt hier etc.?<

Profiltext: Ich bin ein humorvoller, spontaner und aufgeschlossener Mensch. Mit mir kann man wilden Spaß haben, aber auch romantische Abende verbringen. Vor allem bin ich sehr treu und stehe zu den Menschen, die mir wichtig sind. >Deshalb steht da auch ‚ledig‘, was?< Ich bin kinder- und tierlieb. Ein Haustier habe ich zwar nicht, aber eine fast einjährige Tochter, die ich über alles liebe und welche auch bei mir lebt. >Ich habe zwar kein Tier, aber dafür ein Kind … was für ein Ersatz …< Ich bin aufgeweckt, leicht für Neues zu interessieren und generell ein lustiger Geselle. >Zum kranklachen.< Ich hoffe, über diese Seite neue Freunde oder auch eine neue Partnerschaft zu finden. Wenn auch ihr männlich seid und auf der Suche nach jemandem zum kennenlernen, seid ihr bei mir an der richtigen Adresse. Ich freue mich auf eure Mails! >No comment.<

Das gab ihm nun doch zu denken. Warum stellte Joey Partneranzeigen ein, um ausdrücklich männliche Bekanntschaften zu machen? Davon abgesehen, dass er weder homo noch ledig war. Und wenn er neugierig auf männlichen Sex war, gab es doch genug Möglichkeiten. Yami würde sofort zusagen. >Was bitte denkt er sich dabei? Ist der doof? Morgen nehme ich ihn in die … Moment mal!< Der Adressat seiner Spam-Mails war aber gar nicht ‚WonderboyInBlond‘, sondern ‚MeltingMan‘ … >Das ist nicht das Profil, zu welchem ich Mails bekomme. Hat Joey zwei Accounts?< Wobei ihm der Nick ‚MeltingMan‘ auch gar nicht stand. >Mir schwant Böses. Moment mal …<

Er loggte sich aus, trug den Nick ‚MeltingMan‘ ein und holte sich das Passwort. ‚SetoMeansJoeyIsTheBest1a‘ >Oh no …< Er klickte sich auf die Profilseite von ‚MeltingMan‘ und wurde zunehmend blass im Gesicht.

Geschlecht: Männlich

Alter: 28

Größe: 2,09m

Gewicht: 114 Kilo

Haarfarbe: Braun

Besonderheiten: Saphirblaue Augen und ein intensiver Blick, muskulös, hoch intelligent, gebildet, sehr kinderlieb, Zahlenmensch

Beruf: Selbstständig

Familienstand: Ledig, 2 Kinder

Hobbys: Arbeiten, Lesen, Essen, Kuscheln, Musizieren, Meckern

Profiltext: Ich bin ein schüchterner Mensch, dem Sicherheit in finanzieller, aber vor allem emotionaler Hinsicht wichtig sind. Meine distanzierte Art wird manchmal als arrogant verstanden, doch wenn ihr mich erst kennenlernt, werdet ihr sehen, dass ich ein überaus treuer und pazifistischer Mensch bin. Ich bin ein kleiner Morgenmuffel (okay, „klein“ ist gelogen) und brauche erst mal eine Kuscheleinheit und einen schwarzen Kaffee, bevor sich mein Hirn einschaltet. Ich bin zugegeben manchmal etwas cholerisch und pedantisch („etwas“ ist auch gelogen), aber ich bin auch sehr fürsorglich und zärtlich. Meine beiden Kinder (2 und 5 Jahre) leben bei mir und sind der Mittelpunkt meines Lebens. Als einfachen Menschen würde ich mich nicht bezeichnen und mein Partner sollte viel Geduld und Verständnis für meine Macken mitbringen. Doch dafür sehe ich sehr gut aus und habe mehr Geld als Heu. Wenn ihr es riskieren und mich kennenlernen wollt, freue ich mich auf jede Email. PS: Ich bin schwul, auch wenn ich das abstreite.

„AAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHHH!“ Das gab’s doch gar nicht! Joey hatte ein Partnergesuch für Seto eingestellt! Und nun kamen sogar Zuschriften! „Ich bringe ihn um. Ich schwöre es, dieses Mal bringe ich ihn wirklich um! Ich tu’s! Gleich morgen früh! Und bei Narla gehe ich auch petzen! Du wirst schon sehen, was du davon hast!“

!!! Sie haben eine Chat-Einladung !!!

„Na super, jetzt auch noch chatten oder wie? Joey, echt! Ich hau dich!“

!!! GoldenBoy wartet auf Ihre Antwort !!!

„GoldenBoy. Was für ein toller Name. Der kann mich mal! Ich sehe gut aus und habe Geld! Klar, dass der sich meldet. PS Ich bin NICHT SCHWUL! JOEY, ICH BRINGE DICH UM!“

!!! GoldenBoy wartet auf Ihre Antwort !!!

„Ja ja, ist ja gut. Wie lehne ich jetzt ab?“

Er klickte auf die Einladung und es geschah genau das, was er nicht wollte. Er war mitten im Chatprogramm. >Scheiße, wenn ich mich ärgere, geht die Konzentration flirten … äh flöten. Kacke.<

Also schrieb er dem armen Interessenten lieber gleich, bevor der sich falsche Hoffnungen machte:

MeltingMan: Das ist ein Fake-Profil. Such dir einen anderen.

GoldenBoy: Hallo Liebling.

>?????????????????????????????????????????????????????????<

„GoldenBoy?“ >Den gucke ich mir erst mal an. Ich lasse mich doch nicht verarschen!< Es war nur ein Klick und er fand das Profil seines neuesten Verehrers.

Geschlecht: Männlich

Alter: 28

Größe: 1,47m

Gewicht: 51 Kilo

Haarfarbe: Goldblond

Besonderheiten: Sportlich, muskulös, freundlich, spontan

Beruf: Sportler

Familienstand: Ledig

Hobbys: Lesen, Kochen, Leute bemuttern

Profiltext: TBD

!!! GoldenBoy wartet auf Ihre Antwort !!!

>Wollen die mich verarschen? Was haben die getrieben, während ich weg war?<

MeltingMan: Was soll das? Das ist nicht lustig!

GoldenBoy: Hast du dir mein Profil angesehen?

MeltingMan: Steht ja nicht viel überraschendes drin.

GoldenBoy: Ich bin erst seit ein paar Minuten angemeldet. Ich hatte noch keine Zeit, viel reinzuschreiben.

MeltingMan: Yugi! Was soll das?

GoldenBoy: Sorry. Ich bin nicht Yugi.

MeltingMan: Du weißt genau, dass Joey mich hier reingestellt hat. Ist der bekloppt, meine Emailadresse anzugeben? Wenn das rauskommt, haben wir die Presse am Hals.

GoldenBoy: Warum? Bist du so berühmt? ;o)

MeltingMan: Hör auf damit! Wieso schläfst du nicht?

GoldenBoy: Weil ich mit dir chatte, mein Engel.

MeltingMan: Geh schlafen!

!!! GoldenBoy hat sich abgemeldet !!!

„Geht doch.“ Ein schweres Seufzen entfuhr ihm als er sich mit angehenden Kopfschmerzen zurücklehnte. Waren denn jetzt alle verrückt geworden? Erst stellte Joey für ihn ein Profil in der Partnersuche ein und dann spielte Yugi das Spiel auch noch mit. So ein … >Ein Spiel< fuhr es ihm durch den Kopf. >Das ist ein Spiel. Ich wette, das ist wenn überhaupt nur zur Hälfte auf Joeys Mist gewachsen. Yugi hat auch nicht weniger Scheiße im Kopf.<

!!! Ihr Favorit GoldenBoy hat sich angemeldet !!!

!!! Sie haben eine Chat-Einladung !!!

!!! GoldenBoy wartet auf Ihre Antwort !!!

>Was auch immer das für einen Sinn hat.< „Na gut, Einladung annehmen.“ >Mal sehen, was er damit bezweckt.<

GoldenBoy: Guten Abend

MeltingMan: N’Abend

GoldenBoy: Sorry, mein Notebook wurde von einer wilden Katze zugeklappt. Schön, dass du noch hier bist.

MeltingMan: Wo ich bin, weißt du ja nun. Und wo bist du?

GoldenBoy: In einem großen, einsamen Bett ;o)

„Haaaach, Yugi.“ Darauf lief das also hinaus. Yugi wollte ein Spiel der besonderen Art. Nannte sich dann wohl Cybersex.

MeltingMan: Sorry, für so was fehlt mir im Moment echt der Kopf.

GoldenBoy: Tut mir leid, das sollte ein Witz sein.

MeltingMan: Sehr lustig.

GoldenBoy: Jetzt denkst du bestimmt, ich bin so einer, der nur auf Sex aus ist, oder?

MeltingMan: Das ist ja ziemlich eindeutig.

GoldenBoy: So bin ich eigentlich gar nicht. Bitte denke das nicht.

MeltingMan: Und was soll ich dann denken?

GoldenBoy: Dass ich dich kennenlernen möchte. Ehrlich.

MeltingMan: Ehrlich

GoldenBoy: Ganz ehrlich. Außerdem könnte alles andere schwierig werden, denn mir fehlt die WebCam. Und ich sehe doch ganz gern, mit wem ich „chatte“

MeltingMan: Hast einen merkwürdigen Humor, was?

GoldenBoy: Ich bin ganz brav. Soll ich mich noch mal neu anmelden oder gibst du mir auch so noch ne Chance? Ich würde mich nämlich gern bei dir empfehlen.

MeltingMan: Nee, lass. Ist okay so.

GoldenBoy: Ehrlich?

MeltingMan: Ganz ehrlich.

MeltingMan: :o)

GoldenBoy: Wow, ein Smiley. Schick!

MeltingMan: Nicht wahr?

GoldenBoy: :oP

MeltingMan: :oC

GoldenBoy: Ooooooh! Bist müde?

MeltingMan: Geht so. Bin noch am Arbeiten. Nebenbei hasse ich Smileys.

GoldenBoy: Was arbeitest du denn?

MeltingMan: Rate

GoldenBoy: In deinem Profil steht, du bist selbstständig.

MeltingMan: Wer lesen kann, ist im Vorteil.

GoldenBoy: Also arbeitest du irgendwas, wozu man einen PC braucht. Sonst könntest du ja nicht online sein.

MeltingMan: Kleiner Sherlock Holmes, was?

GoldenBoy: Hihi

MeltingMan: Ich leite eine Firma und war gerade dabei, mir Börsenkurse anzusehen.

GoldenBoy: Und war’s spannend?

MeltingMan: Ist wie die Zeitung von gestern zu lesen. Informativ, aber nicht spannend.

GoldenBoy: Und was macht deine Firma?

MeltingMan: Sachen verkaufen?

GoldenBoy: Was denn für Sachen?

MeltingMan: Elektronik, Rohstoffe, Dienstleistungen - so was eben.

GoldenBoy: Klingt aber nicht nach einer kleinen Firma

MeltingMan: Ich rede nicht so gern mit Fremden

GoldenBoy: … über die Arbeit

MeltingMan: Meine ich doch

GoldenBoy: Und sonst?

MeltingMan: Sonst auch nicht.

GoldenBoy: Sonst auch nicht was?

MeltingMan: Mit Fremden reden. Mache ich nicht gern.

GoldenBoy: Ich meine, was du sonst so machst. Wenn du nicht gerade nicht mit Fremden über die Arbeit redest

MeltingMan: Hast du mein Profil gesehen?

GoldenBoy: Klar. Natürlich. Deswegen schreibe ich dir ja.

MeltingMan: Wegen des guten Aussehens oder wegen des Geldes?

GoldenBoy: Selbst Schuld, wenn du die Männer damit köderst.

MeltingMan: Hast ja Recht. Aber sonst gäbe es ja auch kaum Gründe, mir schreiben zu wollen.

GoldenBoy: Warum? Auf mich machst du einen ganz lieben Eindruck. Ein bisschen grummelig, aber du hast ja geschrieben, dass das nur Schüchternheit ist.

MeltingMan: Das Profil hat ein Freund von mir eingestellt. Da hatte ich kein Mitspracherecht. Ich glaube, er wollte mich nur ärgern.

GoldenBoy: Und jetzt hast du mich am Hals. Armer Schatz.

MeltingMan: Gibt schlimmeres als dich.

GoldenBoy: War das ein Kompliment?

MeltingMan: Vielleicht.

MeltingMan: :o)

GoldenBoy: Oh, noch ein Smiley.

MeltingMan: Ich hasse Smileys.

GoldenBoy: Warum machst du sie dann ständig?

MeltingMan: Für dich. Aber jetzt lassen wir das dumme Smilen

GoldenBoy: Du bist ja süß!!!

MeltingMan: …

GoldenBoy: Entspricht dein Profil den den Tatsachen oder hat dein Freund da viel beschönigt? Oder eben nicht beschönigt? Ich meine, wenn er dich ärgern wollte …

MeltingMan: Ich befürchte, er hat mich ganz gut getroffen.

GoldenBoy: Warum befürchten? Gibt doch Schlimmeres als gutes Aussehen und Geld.

MeltingMan: Geld ja. Aber das mit dem guten Aussehen ist Geschmackssache.

GoldenBoy: Du hast ja leider kein Foto eingestellt.

MeltingMan: Gibt keine guten Fotos von mir.

GoldenBoy: Warum? Siehst du so blendend aus, dass der Film überbelichtet?

>Yugi!< Das war so eine typische Yugi-Logik. Jetzt ahnte Seto auch langsam, was das werden sollte. Yugi wollte ihn nicht nur mal wieder zu einem kleinen Rollenspiel auffordern, welches nach ein paar feuchten Aktionen wieder beendet war, sondern er strebte etwas Längeres an. Seto fragte sich, wie es wohl wäre, wenn er und Yugi sich heute nochmals kennenlernen würden. Übers Internet. Wie würde das ablaufen? Würden sie sich überhaupt jemals treffen? Abgesehen davon, dass Seto sich auf so etwas normalerweise niemals einlassen würde. Aber hatte er damals nicht selbst eine Partneranzeige aufgegeben, um Yugi eine Frau zu hinterlassen? War er so sicher, dass er, wenn er Single wäre, nicht doch übers Internet suchen würde? Er war mit Yugi verheiratet, überaus glücklich verheiratet, und musste an so etwas keinen Gedanken verschwenden. Aber vorausgesetzt, er wäre ledig mit zwei Kindern und sehnte sich nach einem Partner … nein, er würde sich wahrscheinlich nicht nach einem Partner sehnen. Auch nicht nach einer Partnerin. Aber als er noch Pascal ohne Erinnerungen war, war er auch auf jede Avance hereingefallen. Seto war kein Mensch, der alleine sein wollte. Aber er war auch kein Mensch, der weggeschoben werden wollte. Er war nicht dumm, aber auf emotionaler Ebene leider sehr naiv. Nein, er würde höchstwahrscheinlich gar nicht im Internet inserieren. Bei seinem Glück, geriet er an irgendwelche dunklen Typen. Aber … >Ach, was weiß ich! Ist doch nur ein Spiel. Und Yugi sitzt auf der anderen Seite. Soweit kommt das noch, dass ich vor meinem eigenen Mann kneife.< Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie ein Leben ohne Yugi wäre. Dafür reichten weder seine Fantasie noch seine Nerven. Ein Leben ohne Yugi war nicht vorstellbar, das existierte nicht mal in der Eventualität. Also warum nicht mal sehen, wie es hätte sein können, wenn er und Yugi sich auf andere Weise kennengelernt hätten.

GoldenBoy: Bist du noch da?

MeltingMan: Sorry, ich war in Gedanken.

GoldenBoy: Gedanken worüber?

MeltingMan: Ob es realistisch wäre, dass ich Bekanntschaften übers Internet suche. Eigentlich ist das nicht meine Art. Und dann wieder doch. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl hierbei.

GoldenBoy: Das verstehe ich. Um ehrlich zu sein, passt das auch zu mir nicht. Aber wenn ich jemanden wie dich hier kennenlernen kann, war die Idee nicht so schlecht.

MeltingMan: Sorry, aber ich verstehe dich nicht. Mein Profil verspricht abgesehen von Geld und „gutem“ Aussehen einen eher komplizierten, nervigen Menschen.

GoldenBoy: Und du fragst dich, warum ich gerade dir schreibe

MeltingMan: Ja, tue ich

GoldenBoy: Ich mag komplizierte Charaktere

MeltingMan: Das musst du mir erklären

GoldenBoy: Das kann ich nicht. Es ist einfach so

MeltingMan: Klingt sehr überzeugend

GoldenBoy: Zyniker, was?

MeltingMan: Problem damit?

GoldenBoy: Ich mag zynische Männer

MeltingMan: Aha

GoldenBoy: Und du bist eindeutig zynisch veranlagt

MeltingMan: Touché

GoldenBoy: Vielleicht mag ich bei anderen genau das, was ich nicht habe

MeltingMan: Was hast du denn nicht?

GoldenBoy: Mir fehlt es an äußerlicher Stärke. Ich bin nicht zynisch. Ich bin auch niemand, der leicht in den Mittelpunkt gerät. Und nennenswerte Alltagsmacken habe ich auch nicht. Ich gehe in der Masse unter. Vielleicht faszinieren mich deshalb Menschen, die so völlig anders sind als ich. Spannender.

MeltingMan: Du hast doch aber sicher auch deine Qualitäten

GoldenBoy: Ja, sicher habe ich die. Aber da muss man sich schon Zeit nehmen, um die zu finden. Wie gesagt, ich bin eher unscheinbar. Ich glaube, ich könnte mir die Haare grün färben und im Hühnerkostüm die Oscar-Verleihung besuchen und niemand würde es bemerken

MeltingMan: Bist du denn Schauspieler?

GoldenBoy: Ha ha. :o( Du weißt doch wie ich das meine

MeltingMan: Sorry, habe einen schlechten Humor

GoldenBoy: *herzchenaugen*

MeltingMan: ???

GoldenBoy: Ich habe Herzchen in den Augen. Ich mag Männer mit schlechtem Humor

MeltingMan: Du versuchst ja ziemlich offensichtlich zu flirten

GoldenBoy: Natürlich. Das hier ist ne Flirtseite.

MeltingMan: Kann ich eigentlich irgendwas sagen, damit du den Chat abbrichst?

GoldenBoy: Kann ich mir nicht vorstellen. Da müsstest du schon ein ziemlicher Schwachmat sein.

MeltingMan: Schwachmat in welcher Hinsicht?

GoldenBoy: Du müsstest mir auf die Pelle rücken. Von wegen „Triff dich mit mir bei mir zuhause oder zumindest in der Kneipe nearby“. Oder „Ich will dich ganz schnell heiraten, weil sonst kann ich mich auch vor die Bahn werfen“ oder „Pass auf, ich erzähle dir jetzt mein ganzes Leben, vor allem die Geschichten von meiner Ex und ich frage dich zwar nichts von dir, aber ich glaube, aus uns kann echt was werden“ oder so.

MeltingMan: Klingt als hättest du schon mehrere Onlinebekanntschaften gemacht.

masamume: Oh ja … ich könnte Geschichten erzählen, die sind so was von wahr, dass sie schon wieder ausgedacht klingen T_T

!!! GoldenBoy kickt masamume aus dem Chat !!!

MeltingMan: Danke

GoldenBoy: Bitte

MeltingMan: Wo waren wir?

GoldenBoy: Onlinebekanntschaften. Ja, hatte ich schon ein paar.

MeltingMan: Und?

GoldenBoy: Und nichts. Waren Nieten.

MeltingMan: Warum? Hatten die kein Geld oder sahen nicht gut aus?

GoldenBoy: Sowohl als auch. Die wo Geld hatten, waren zu sehr von sich eingenommen. Und die wo gut aussahen auch. Und die anderen hatte alle irgendeinen Schaden. In Mails und Telefonaten waren die meisten ganz nett, aber das erste Treffen war dann eigentlich immer ernüchternd. Der eine hat mir sogar beim Brunch im Fünfsternehotel erzählt, dass er Tierpornos gut findet und ein anderer hat die ganze Zeit beim Essen in der Nase gebohrt. Ich befürchte, im Netz sind nur gestörte Typen unterwegs.

MeltingMan: Wer sagt dir, dass ich nicht auch so ein gestörter Typ bin?

GoldenBoy: Mein Gefühl

MeltingMan: Du kannst gar kein Gefühl haben. Du hast nicht mal ein Foto von mir, geschweige denn jemals real mit mir gesprochen.

GoldenBoy: Vielleicht. Aber du hast einen interessanten Stil, den ich hoch schätze

MeltingMan: Was für einen Stil? Flirten online finde ich eher stillos

GoldenBoy: Nein, gar nicht. Zum Beispiel benutzt du normale Wörter und keine Abkürzungen. Du hast Ahnung von Rechtschreibung und Interpunktion. Und so wie es scheint, chattest du augenblicklich nur mit mir und nicht mit hundert anderen nebenher und das ist für mich ein Zeichen von Respekt.

MeltingMan: Respekt?

GoldenBoy: Klar. Okay, wenn wir uns jetzt öfter schreiben, ist es auch okay, wenn man Insider benutzt oder Abkürzungen oder eben klein und durchgängig schreibt. Weil’s halt einfach schneller geht. Oder wenn man nebenher auch mal etwas anderes macht. Aber für’s erste Mal chatten, finde ich es wichtig, dem anderen Respekt und Wertschätzung entgegen zu bringen. Besonders beim Flirten. Das zeugt von Intelligenz und guten Manieren

MeltingMan: Oder einfach davon, dass man es nicht besonders oft gemacht hat

GoldenBoy: Oder das :o)

MeltingMan: Lass die Smileys

GoldenBoy: Erzähle mir von dir

MeltingMan: Was willst du wissen?

GoldenBoy: Bist du wirklich schüchtern?

MeltingMan: Würde ich nicht sagen. Ich nenne es lieber zurückhaltend

GoldenBoy: Dein Hobby ist kuscheln?

MeltingMan: Nicht mit jedem Dahergelaufenen

GoldenBoy: Wenn ich dich auf einen Drink einladen würde. Was würdest du sagen?

MeltingMan: Verpiss dich

GoldenBoy: Die Antwort kam jetzt aber schnell

MeltingMan: Darüber musste ich nicht nachdenken

GoldenBoy: Warum? Bin ich dir unheimlich?

MeltingMan: Ich kenne dich nicht. Ich werde einen Teufel tun und mich mit jemandem treffen, mit dem ich höchstens ein paar Buchstaben ausgetauscht habe

GoldenBoy: Aber da entgeht dir etwas

MeltingMan: Lass es bleiben. Wenn du mir auf die Pelle rückst, mache ich die Fliege und gehe schlafen - allein

GoldenBoy: Ich habe nicht gesagt, dass ich in dein Bett will

MeltingMan: So verstehe ich das aber

GoldenBoy: Bitte nicht :o(

MeltingMan: SMILEY!!!

GoldenBoy: Sorry. Ich will keinen ONS. Das ist nicht meine Art. Ich möchte dich nur kennenlernen

MeltingMan: Was bitte ist ein ONS? Drück dich klar aus!

GoldenBoy: Das ist ein One Night Stand.

MeltingMan: Ach so

GoldenBoy: Du bist nicht oft online, oder?

MeltingMan: Nicht auf solchen Seiten. Chatten tue ich grundsätzlich nicht. Das hier ist reiner Zufall.

GoldenBoy: Du klingst beleidigt

MeltingMan: So klinge ich nicht nur

GoldenBoy: Was kann ich tun, um dich gütlich zu stimmen?

MeltingMan: Nein, ich meine, so klinge ich nicht NUR … ich kann auch anders klingen. So meine ich das

GoldenBoy: Du bist süß

MeltingMan: Sag das nicht immer

GoldenBoy: Aber wenn es doch so ist?

MeltingMan: Verarscht du mich?

GoldenBoy: Nein, ich finde dich wirklich süß. Du bist ein bisschen wie ein trotziges Kind. Nein, eher ein verlegenes Kind, das sich seine Verlegenheit nicht anmerken lässt

MeltingMan: Du weißt doch, dass ich schüchtern bin

GoldenBoy: Ich dachte zurückhaltend

MeltingMan: …

MeltingMan: Ich muss jetzt wieder arbeiten

GoldenBoy: NEIN WARTE!!!

MeltingMan: Was denn noch? Wenn du mich ärgerst?

GoldenBoy: Ich wollte dich nur ein bisschen aus der Reserve locken. Entschuldige

MeltingMan: Lass einfach solche Anspielungen und ärgere mich nicht

GoldenBoy: Ich glaube aber, du wirst ganz gern ein bisschen geärgert :o)

MeltingMan: … kill the smiley. Echt jetzt! Das nervt!

GoldenBoy: Tut mir leid. Ich bin ein bisschen nervös. Mir liegt was daran, dich nicht zu vergraulen

MeltingMan: Davon merke ich nicht viel

GoldenBoy: Was kann ich tun?

MeltingMan: N i e - w i e d e r - S m i l e y s !!!

GoldenBoy: Okay. Versprochen :o)

MeltingMan: Grrrrrrrrr

GoldenBoy: Ich mag dich

GoldenBoy: Wirklich

GoldenBoy:?

GoldenBoy: Hallo?

GoldenBoy:?

GoldenBoy: Klopf klopf?

MeltingMan: Du überspannst den Bogen jetzt wirklich. Ich habe keine Lust auf Typen, die sich nur über mich lustig machen. Ich will nicht sagen, dass man mit mir keinen Spaß haben kann, aber ich kenne dich nicht und kann dich rein schriftlich nicht einschätzen. Deswegen versuche bitte ernst zu bleiben, ja?

GoldenBoy: Okay. Entschuldige. Ich fange immer an Unsinn zu machen, wenn ich nervös bin. Ich möchte mich eigentlich nur bei dir interessant machen.

MeltingMan: Und das soll ich dir glauben?

GoldenBoy: Bitte. Soll ich noch mal anfangen?

MeltingMan: Nein, ist okay. Ich bin nur etwas empfindlich, was das angeht. Ich kann nicht mit Leuten Spaß machen, die ich nicht kenne.

GoldenBoy: Schlechte Erfahrungen?

MeltingMan: Sozusagen.

GoldenBoy: Willst aber nicht drüber reden?

MeltingMan: Nicht wirklich

GoldenBoy: Ist okay. Entschuldige bitte, wenn ich dir auf die Nerven falle. Ich bin wirklich kein Fake-Account, sondern habe ehrlich Interesse an dir.

MeltingMan: Obwohl ich dich gerade anraunze?

GoldenBoy: Eben deshalb. Du reagierst auf mich.

MeltingMan: Wer sagt dir, dass ich kein Fake bin?

GoldenBoy: Niemand. Außer dir.

MeltingMan: Wenn ich ein Fake wäre, würde ich dir das natürlich nicht sagen

GoldenBoy: Du hast mir ja schon gesagt, dass ein Freund dein Profil ohne dein Zutun gebastelt hat

MeltingMan: Ein Hinweis mehr auf einen Fake

GoldenBoy: Oder genau das Gegenteil. Weißt du, wenn ich jeden hier für einen Fake halten würde, dann würde ich auch niemals jemanden kennenlernen. Man muss einfach etwas Vertrauen vorschießen. Sonst kann man es gleich lassen

MeltingMan: Du willst also sagen, ich soll dir vertrauen oder es gleich lassen

GoldenBoy: Nein, so nicht. Eher, dass ich dir vertraue, dass du ein realer Mann bist, der real vor einem PC sitzt und reale Dinge schreibt.

MeltingMan: Und wenn ich nun jemand bin, der sich nur mit dir treffen will und einen ONS will?

GoldenBoy: Dann würde ich mich wahrscheinlich freundlich aus de Affäre ziehen oder in deinen Worten „Verpiss Dich“ sagen

GoldenBoy: Okay, das würde ich wahrscheinlich nicht sagen. Fluchen kann ich nicht besonders gut

MeltingMan: Und wenn ich dich nicht gehen lasse? Wenn ich dich entführe oder dich in irgendeine dunkle Ecke ziehe?

GoldenBoy: Hör auf, jetzt wird’s unheimlich

MeltingMan: Deswegen halte ich nichts von Online-Dates

GoldenBoy: Das ist ja auch nur, um sich anzutasten. Auch wenn ich dir etwas frech vorkomme, bin ich eigentlich traditionell eingestellt. Erst ein bisschen chatten, dann Fotos austauschen und telefonieren und sich dann vielleicht treffen. An einem belebten Ort zu einer hellen Tageszeit. Zum Mittag oder zum Brunch. Und geküsst wird beim ersten Date auch nicht. Besser ist das.

MeltingMan: Warum nicht? Kannst du nicht küssen?

GoldenBoy: Das Urteil überlasse ich dem Geküssten :o)

MeltingMan: …

GoldenBoy: Sorry, ohne Smiley.

MeltingMan: :oP

GoldenBoy: Hey!

MeltingMan:

GoldenBoy: Süß! Und du? Kannst du küssen?

MeltingMan: Küssen wohl schon. Nur ob das nun gut oder schlecht, weiß ich nicht. Habe mich noch nie selbst geküsst.

GoldenBoy: Schade. Da hast du bestimmt was verpasst.

MeltingMan: Ähm …

GoldenBoy: Ja?

MeltingMan: Nichts

GoldenBoy: Ooooookay.

GoldenBoy: Ich habe gelesen, du hast zwei Kinder.

MeltingMan: Zwei sehr süße sogar

GoldenBoy: 2 und 5 Jahre alt?

MeltingMan: Genau. Mein Sohn ist 2, meine Tochter 5. Sie sind das allerwichtigste für mich. Wichtiger als alles andere.

GoldenBoy: Das ist schön

MeltingMan: Und willst du auch irgendwann Kinder haben?

GoldenBoy: Ja, sicher. Wenn die Partnerschaft stimmt, warum nicht?

MeltingMan: Vorausgesetzt, wir beide verstehen uns gut. Würdest du meine Kinder akzeptieren?

GoldenBoy: Ich glaube, die Frage ist falsch herum. Da deine Kinder dein Ein und Alles sind, müssen sie zuerst mich akzeptieren. Wenn sie mich nicht mögen, kann ich mir den Papa wohl auch von der Backe putzen. Oder?

MeltingMan: Wahrscheinlich. Aber meine beiden sind sehr liebenswürdig und neuen Menschen gegenüber aufgeschlossen. Du würdest sie sicher mögen.

GoldenBoy: Das beruhigt mich etwas. Darf ich dir auch eine persönliche Frage stellen?

MeltingMan: Ich finde, wir sind schon sehr persönlich. Aber gut, nur raus damit.

GoldenBoy: Bei dir steht, dass du schwul bist. Ich meine, sind das deine eigenen Kinder aus einer Hetero-Partnerschaft oder sind sie adoptiert?

MeltingMan: …

GoldenBoy: Zu persönlich?

MeltingMan: Ein wenig. Es sind meine Kinder. Meine beiden, meine. Mehr zählt nicht. Vorausgesetzt, wir beide würden heiraten. Würdest du dann einen Unterschied machen zwischen meinen und deinen Kindern?

GoldenBoy: Und mir vorwerfen, dass ich zu schnell zur Sache komme … jetzt sind wir also schon verheiratet, ja?

MeltingMan: Beantworte einfach die Frage

GoldenBoy: Okay. Ich denke, so etwas kann man nicht pauschal mit Ja oder Nein beantworten. Sicher ist, dass es immer deine Kinder wären, weil sie vor mir da waren. Ich würde mir wünschen, dass sie mich als Papa akzeptieren, aber sie müssten mich nicht Papa nennen, nur weil ich es so will. Und bei einer Trennung müsste ich immer darauf gefasst sein, dass sie bei dir bleiben würden. Natürlich bleibt da eine gewisse Distanz.

MeltingMan: Dann würdest du eher dazu tendieren, dass es meine Kinder wären?

GoldenBoy: Wie gesagt, das kann ich nicht pauschal sagen. Ich weiß ja auch kaum etwas von dir oder ihnen oder eurem Leben. Ich würde auch nicht mit dir zusammenkommen, nur um mich dann wieder zu trennen. Ich weiß aber, dass ich mich sicher nicht wie eine böse Stiefmutter verhalten würde. Wenn ich dich liebe, dann liebe ich auch deine Kinder und sorge für sie. Schon weil sie ein Teil von dir sind. Ich wäre gern ihr Papa, würde sie aber nicht zu etwas unnatürlichem zwingen. Das ist ein schweres Thema.

MeltingMan: Stimmt. Wir sollten es wechseln. Soll ich dich nun etwas fragen?

GoldenBoy: Klar. Mach.

MeltingMan: Du bist momentan nicht in einer Partnerschaft?

GoldenBoy: Ledig. Genau.

MeltingMan: Warum nicht?

GoldenBoy: Viele Freunde, viele Bekannte, viele Kollegen, aber niemand da zum Lieben und Begehren. Ich nehme nicht gleich den Nächstbesten und gebe mich auch nicht für den nächstbesten hin. Gemeinsamkeit, das ist wichtig. Und du?

MeltingMan: Sieht so ähnlich aus. Ich habe Schwierigkeiten, Vertrauen zu fassen.

GoldenBoy: Warum?

MeltingMan: Schlechte Erfahrungen.

GoldenBoy: Böse Männer und/oder Frauen, die dich so vorsichtig gemacht haben. Dabei scheinst du doch eigentlich ganz lieb zu sein.

MeltingMan: Lieb würde ich das nicht nennen.

GoldenBoy: Dann süß?

MeltingMan: Das ist deine Meinung.

GoldenBoy: Wie würdest du dich denn beschreiben?

MeltingMan: Ich finde nur schwer gute Eigenschaften an mir. Ich brauche viel Zuspruch, das ist wohl mein Problem.

GoldenBoy: Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich habe eine gute Meinung von mir und ärgere mich, wenn andere das nicht erkennen oder missdeuten. Ich will mich nicht anbiedern, aber ich will etwas dafür tun, damit man mich mag. Schwierig.

MeltingMan: Niemand sagt, dass Liebe einfach ist. Einfach ist nur die Liebe eines Kindes.

GoldenBoy: Kann ich dich noch etwas fragen?

MeltingMan: Du denkst jetzt, ich habe nen Schaden, oder?

GoldenBoy: Sowieso.

MeltingMan: Danke

GoldenBoy: :oP

MeltingMan: Smiley

MeltingMan: Was willst du denn?

GoldenBoy: Hast du mein Profil gelesen?

MeltingMan: Natürlich. Quasi schon auswendig gelernt.

GoldenBoy: Und?

MeltingMan: Und was?

GoldenBoy: Dir ist nichts negativ aufgefallen?

MeltingMan: Außer dass du noch keinen Text drin hast. Aber ein Foto habe ich auch nicht. So what?

GoldenBoy: Ich meine … ich bin nicht gerade groß

MeltingMan: Und ich bin nicht gerade klein

GoldenBoy: Eben

MeltingMan: Du denkst, ich bin zu faul, mich zu bücken?

GoldenBoy: Oder schämst dich mit einem … Winzling wie mir?

MeltingMan: Ich weiß zwar nicht wie du aussiehst, aber du hast dich mit sportlich und muskulös beschrieben. Das klingt doch sehr gesund.

GoldenBoy: Aber du bist mehr als einen halben Meter größer als ich

MeltingMan: Höchstens höher, nicht größer

GoldenBoy: Gehupft wie gesprungen

MeltingMan: Ich finde es nicht schlimm. Um ehrlich zu sein, mag ich Männer, die nicht ganz so riesig sind

GoldenBoy: „nicht ganz so riesig“ ist nett. Aber 1,47 ist - klein

MeltingMan: Ich wollte es nicht so ostentativ sagen, aber ich mag kleine Männer. Manche mögen dunkles Haar, andere mögen große Hände, ich mag kurze Männer.

GoldenBoy: Das sagst du jetzt hoffentlich nicht extra

MeltingMan: Tue ich wirklich nicht. Schau:

MeltingMan: :o)

MelzingMan: Extra für dich.

GoldenBoy: Okay okay, ist klar.

MeltingMan: Wenn das deine einzige Sorge ist.

GoldenBoy: Es war mir wichtig, das gesagt zu haben.

MeltingMan: Gibt’s da noch mehr, was du loswerden willst?

GoldenBoy: Wie meinst du das?

MeltingMan: Schlechte Eigenschaften. Was würdest du als deine schlechteste Eigenschaft nennen?

GoldenBoy: Was mich selbst oder was andere nervt?

MeltingMan: Sowohl als auch.

GoldenBoy: Mich selbst nervt eben meine Körpergröße. Auf der Straße werde ich für einen Schuljungen gehalten und von vielen Leuten nicht ernst genommen. Das würde ich als meine körperlich schlechteste Eigenschaft bezeichnen.

MeltingMan: Und mental?

GoldenBoy: Meine mental schlechteste Eigenschaft? Ich würde sagen, dass ich eine Glucke bin. Überbehütend. Ich stecke mich oft in Sachen rein, die mich nichts angehen (sollten). Helfersyndrom nennt man das wohl.

MeltingMan: Aha

GoldenBoy: And you?

MeltingMan: Schlechte Eigenschaften habe ich viele. Soll ich dir die ganze Liste schicken oder willst du nur die Top 100?

GoldenBoy: Die Top 3 reichen mir auch.

MeltingMan: Kritikunfähig, Cholerik, Anhänglichkeit. In beliebiger Reihenfolge.

GoldenBoy: Anhänglichkeit ist eine schlechte Eigenschaft?

MeltingMan: In dieser Form ja. Ich fühle mich schlecht, wenn mein Partner mich allein lässt. Und wenn ich verliebt bin, werde ich sehr anhänglich und manchmal auch eifersüchtig. Ich brauche ständig Nähe und Zuwendung. Es nervt mich selbst, aber ich kann es nicht ändern. Es ist schwer mit mir.

GoldenBoy: Das werde ich dann ja sehen. Und deine körperlich schlechteste Eigenschaft

GoldenBoy: Hallo?

MeltingMan: Ich überlege

GoldenBoy: Schwer etwas zu finden?

MeltingMan: Nein, ich weiß nicht, ob ich es dir sagen soll. Das ist sehr persönlich

GoldenBoy: Warum? Fehlt dir ein Bein? Ein Auge? Ne Arschbacke?

MeltingMan: Nein, nicht so offensichtlich. Sorry, das ist mir jetzt zu intim.

GoldenBoy: Okay, dann frage ich auch nicht weiter. Sag es, wenn du soweit bist. Aber gibt es denn nichts, was dich oder andere nervt?

MeltingMan: Andere fühlen sich von meinem Blick verunsichert.

GoldenBoy: Warum? Hast du den bösen Blick?

MeltingMan: Wahrscheinlich. Manchmal sehe ich die Leute nur an und sie ergreifen die Flucht oder benehmen sich nervös oder fahrig. Ich provoziere das nicht, aber mein Freund sagt, ich sollte aufpassen, wen ich wie ansehe. Ich werde häufig falsch verstanden und kann solche Missverständnisse nur schwer ausräumen. Ich kann nicht gut mit Menschen umgehen. Häufig weiß ich auch einfach nicht, was sie von mir wollen.

GoldenBoy: Und mit deinen Kindern?

MeltingMan: Ich liebe meine Kinder. Mit Kindern verstehe ich mich allgemein gut. Bei denen habe ich keine Angst vor einem ungerechten Urteil, weil sie auf andere Dinge achten. Für Kinder sind Gut und Böse noch dasselbe. Das schätze ich.

GoldenBoy: Aber auch Kinder können grausam sein. Sehr grausam.

MeltingMan: Ich weiß. Aber ich mag Kinder trotzdem. Ich meine, richtige Kinder. Vom Babyalter an bis zu fünf oder sechs Jahren. Je älter sie werden, desto mehr nehmen sie das Verhalten der Erwachsenen an. Ich mag kleine Kinder mit kleinen Herzen und einer unverstellten Art.

GoldenBoy: Dann hättest du Kindergärtner werden sollen

MeltingMan: Vielleicht. Aber das wäre ja keine Arbeit im eigentlichen Sinne.

GoldenBoy: Du sag mal, dieser Freund, den du jetzt ein paar Male erwähnt hast

MeltingMan: Nur EIN Freund. Nicht MEIN Freund. Falls du das meinst.

GoldenBoy: Meinte ich

MeltingMan: Wir sind nicht zusammen. Herrgott, herrje! Das würden meine Nerven nicht mitmachen.

GoldenBoy: Warum?

MeltingMan: Er nervt von morgens bis abends. Ich brauche jemanden, der ruhig und geduldig ist und mich nicht durch die Gegend hetzt.

GoldenBoy: Klingt als hättet ihr Spaß

MeltingMan: No comment

GoldenBoy: Schade.

GoldenBoy: Entschuldige, ich muss mich jetzt ausloggen.

MeltingMan: Schon?

GoldenBoy: Ja, mein Typ wird verlangt. Aber wollen wir uns morgen Abend wieder treffen?

MeltingMan: Warum nicht?

GoldenBoy: Ich weiß nicht

MeltingMan: Das sollte Ja heißen.

GoldenBoy: Dann freue ich mich

MeltingMan: Ich mich auch

MeltingMan: :o)

GoldenBoy: Du bist süß. Dann arbeite nicht mehr so viel und geh bald ins Bett, ja?

MeltingMan: Wartest du auf mich?

GoldenBoy: Hi hi. Du Schlimmer, du!

MeltingMan: Schlaf gut und bis morgen.

GoldenBoy: Ich werde da sein. Schlaf gut, MeltingMan.

MeltingMan: Du auch, GoldenBoy

GoldenBoy: *kiss*

!!! GoldenBoy hat sich abgemeldet !!!



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